Andreas Main: Maria auf dem Esel, Josef vorneweg – eine Familie mit Neugeborenem auf der Flucht. Dieses Bild hat sich wohl jenseits aller Religionszugehörigkeit in Hirne und Herzen der meisten Menschen eingebrannt, sofern sie jemals in Berührung mit Christentum gekommen sind. Dieses Bild in der Version des Freskos von Giotto in der Unterkirche von San Francesco in Assisi ist zu sehen auf dem neuen Buch von Johann Hinrich Claussen. Es hat den Titel "Buch der Flucht – die Bibel in 40 Stationen". Johann Hinrich Claussen ist Theologe und Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland, EKD. Wir sitzen uns in unserem Berliner Funkhaus gegenüber, wo wir dieses Gespräch aufzeichnen bzw. aufgezeichnet haben. Johann Hinrich Claussen, schön, dass Sie da sind.
Johann Hinrich Claussen: Vielen herzlichen Dank für die Einladung.
Main: Herr Claussen, Sie wagen eine Neulektüre dieses alten Buchs, das für Christen und Juden im Mittelpunkt ihres Glaubens steht. Sie lesen die Bibel als "Buch der Flucht". Wenn Sie dann schreiben – Zitat: "Dieses Grundbuch europäischer Kultur ist ein Buch von Flüchtlingen für Flüchtlinge", dann bin ich ja eigentlich draußen, denn ich bin ja nun mal kein Flüchtling.
Claussen: Das stimmt. Wer weiß, was in Ihrer Familiengeschichte an Fluchtgeschichten verborgen ist. Schauen Sie mal nach.
Main: Letztlich bin ich ein Vertriebener, ja.
Claussen: Vertriebener. Nein, Flucht ist natürlich auf dem Titel abgekürzt für eine ganze Reihe von Vielfalt von Wanderungsbewegungen, also erzwungener und nicht erzwungener Weise, also die Nomaden, die Vertriebenen, die Deportierten, die Exilierten, diejenigen, die in der Diaspora sich eingerichtet haben, diejenigen, die zurückkommen. Das sind also ganz, ganz viele unterschiedliche Dinge. Die konnte ich nur nicht auf den Titel bringen, deshalb habe ich es auf dieses eine Worte dann …
Main: "Buch der Flucht" – ist ja auch schön plakativ.
Claussen: Ja, genau.
"Das geht Euch an"
Main: Wie versuchen Sie zu verhindern, dass Ihnen die Leser und uns die Hörer jetzt schreiend davonlaufen, weil sie nicht auch noch ihre Bibel in Beziehung gesetzt wissen wollen mit migrationspolitischen Debatten?
Claussen: Ja, dann würde ich sagen: Lest das mal, das ist interessant und das geht Euch an. Und manche migrationspolitische Debatte wird sich vielleicht noch mal in einem anderen Licht euch zeigen. Also, es ist jetzt kein aktualistisches Buch, das sagt: So oder so wird es laufen. Sondern es ist ein ferner Spiegel, in dem wir uns anschauen können und eine andere Haltung zu aktuellen Herausforderungen finden können. Und die sind ja da und vor denen kann man nicht weglaufen.
Main: Was sehen wir denn in diesem fernen Spiegel?
Claussen: Na, erst einmal sehen wir, dass das Thema Flucht, Vertreibung, Wanderung nicht etwas ist, was nur Fremde zu uns hinbringen und wir als Alteingesessene uns dazu verhalten so oder so, sondern dass das unser ureigenstes Thema selber ist. Also, die Bibel ist von vorne bis hinten geprägt von diesen Geschichten. Alle großen religiösen Innovationen, Neuentdeckungen der Bibel haben damit zu tun, dass die Heimat verlorengegangen ist, dass das, was früher den Glauben, die Heimat, den Staat ausgemacht hat, das ist verlorengegangen. Und in diesem Nullpunkt des Alles-verloren-habens, da entsteht das entscheidend Neue.
"Die Hintergründe für christliche Humanität deutlich machen"
Main: Was Sie ja definitiv nicht machen: Sie machen in diesem Buch der Flucht - das ist keine parteipolitische Einmischung mittels Bibel. Das muss einfach mal ganz klar werden. Ich könnte Sie jetzt provozieren und endgültig gegen mich aufbringen, indem ich sage: Das ist erfreulich unpolitisch, dieses Buch.
Claussen: Es ist politisch unpolitisch, oder unpolitisch politisch. Es hat natürlich ein hohes Interesse daran, sozusagen die Hintergründe für christliche Humanität deutlich zu machen. Aber ich traue meinen Leserinnen und Lesern einiges zu. Die Übertragung ins eigene Heute, die kann jeder selber leisten. Wer meine Bücher liest, ist ja nicht doof, sondern kann das selber machen.
Main: Also, politisch in einem anderen Sinne als die platten Debatten unserer Tage?
Claussen: Genau. Also, politisch schon, weil es natürlich die Augen öffnet für epochale Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Aber das lässt sich jetzt nicht so kurzschließen für Obergrenze oder dagegen, sondern es weitet den Blick und hilft vielleicht, eine grundsätzlich andere Haltung zu gewinnen.
"Sie haben alles verloren"
Main: Johann Hinrich Claussen im Gespräch mit dem Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – aus Religion und Gesellschaft". Herr Claussen, Sie setzen uns ja quasi eine Brille auf und sagen: Kernthemen der Bibel, dieses Buches, das die Welt so sehr geprägt hat, sind Heimatverlust und Heimatsuche. Mit dieser Brille – welche Geschichte liest sich da für Sie plötzlich ganz anders, zum Beispiel mit Blick auf die biblische Geschichte des Alten Israel?
Claussen: Also, vor allen Dingen die alten Propheten. Ich habe ein großes Interesse daran gehabt in diesem Buch, diese alten Propheten, die keiner kennt – und die Texte sind auch echt schwer und auch anstößig – neu zu lesen. Also, so ein Amos, wie kann das sein, dass da so ein Maulbeerbaum-Züchter plötzlich nach Samarien kommt und da den Kult stört und sagt: "Der Tag des Herrn kommt und Gott wird euch alle vernichten." Und wie kommt es zu diesen Vorstellungen vom "Zorn Gottes" in der alten Unheilsprophetie?
Das sind ja die schrecklichsten Texte eigentlich des Alten Testaments. Und ich finde, man kann sie nur dann verstehen, wenn sie versuchen eine Antwort zu geben auf - eine erste Antwort zu geben auf ein Trauma.
Main: Und wie kommt es dazu?
Claussen: Ja, meine Deutung ist – das ist nur eine Deutungsperspektive – meine Deutung ist: Sie haben alles verloren. Die Assyrer sind gekommen und dann nachher sind die Babylonier gekommen, haben alles vernichtet, die Oberschicht deportiert, den König geköpft. Nein, nicht geköpft – auch deportiert. Sie haben den Tempel zerstört. Nichts ist mehr da.
Und in diesem totalen Trauma, diesem Schmerz und auch diesem Kontrollverlust, kommen diese ersten Unheilspropheten und sagen: Das ist sozusagen der Zorn Gottes gewesen. Und sie geben – so schrecklich das jetzt klingt – eine erste Möglichkeit der religiösen Stabilisierung: Gott ist nicht weg. Er hat sich gegen euch gewendet, aber es gibt einen Grund für das, was geschehen ist. Wenn ihr euer Verhalten ändert, dann kann es auch wieder anders gehen. Dann ist sozusagen eine Hoffnungsperspektive aufgetan.
Dann die Heilspropheten, also der zweite Jesaja, der dann sozusagen die Rückkehr ausruft: Hoffnung ist da. Ihr könnt wieder zurückkehren. Und dann macht dieser Prophet etwas völlig Irres. Das ist mir erst so deutlich geworden, als ich dieses Buch geschrieben habe. Er sagt: Auch das hat alleine Gott getan, alle anderen Götter gibt es gar nicht. Er formuliert einen antiimperialen Glauben, einen Glauben, der sozusagen sich gegen die großen Reiche wendet. Und es ist ein Glaube, der getragen ist von einem kleinen exilierten Volk. Und dieser Glaube überlebt. Das ist doch irre. Dieser Glaube überlebt.
"Auch da steht am Anfang ein Trauma"
Main: Sie spielen diesen Gedanken weiter, vom Exodus bis zum Wanderprediger Jesus. Ahnen Sie, was ich meine, wenn ich sage, dass mich das Fluchtmotiv mit Blick auf die Geschichte Israels mehr überzeugt hat als mit Blick auf die Jesus-Bewegung?
Claussen: Ja, das kann man so sagen – und auch nicht, weil ich mir schon was dabei überlegt habe. Nein, also, die Jesus-Geschichte kann man ja als eine Wiederholung der Geschichte des Alten Israel verstehen. Auch da steht am Anfang ein Trauma, nämlich alle haben sich auf den Weg gemacht – freiwillig, nicht geflohen, sondern sind gewandert in die neue Zukunft des Gottesreiches. Dann gehen sie freiwillig, wandern sie freiwillig nach Jerusalem und dort passiert eben das große, nicht zu verstehende Unglück: Der Messias wird getötet, alles ist aus.
Und wieder ist es diese Erfahrung des "alles ist weg". Alles, worauf wir uns gegründet haben, ist vorbei, ist nicht da. Und dann entsteht auf diesem Nullpunkt der neue Glaube, und der führt dann aber natürlich zu unterschiedlichsten Formen der Wanderung, auch Flucht. Also, die Flucht sozusagen der ersten griechisch-sprachigen Juden aus Jerusalem, weil sie dort irgendwie ausgegrenzt wurden. Die Flucht der ersten Christen, die an ganz vielen Orten natürlich verfolgt worden sind und dann durch die Flucht eben weiterbugsiert wurden, weiter gestoßen wurden bis an die Grenzen des Römischen Reiches.
Main: Sie gehen ja sogar an einem Punkt noch darüber hinaus, über Juden und Christen hinaus und über die Bibel und sagen, dass monotheistische Religionen von Flüchtlingen und Heimatlosen ausgehen. Also, Flucht als eines der großen Menschheitsthemen seit jeher führt womöglich auch zum Erfolg dieser drei großen monotheistischen Religionen.
Claussen: Ja, ich weiß jetzt nicht, was Religionsgeschichtler genau dazu sagen würden, aber ich hatte die Phantasie, dass der Polytheismus, also der Glaube an viele Götter, ein Glaube von beheimateten Völkern ist. Nicht? Da ist der Gott an diesem Baum. Da ist die Göttin an diesem Berg. Da sind die Tempel, die dazugehören. Und diese Vielfalt der Götter lebt ganz wesentlich davon, dass man beheimatet ist.
Zusammenhang von Flucht und Monotheismus?
Aber ein Gott, der keine Bilder hat, weil man auch keine Bilder mitnehmen kann, weil die Bilder zerstört worden sind, der selber keine Heimat hat - er wohnt ja nicht mehr im Tempel, sondern er ist überall. Und er kann dann eben auch den Weg mitgehen. Er kann dann alle Wege derjenigen, die an ihn glauben, mitgehen und dabei sein. Das ist sozusagen der Monotheismus.
Main: Während der Lektüre Ihres Buches habe ich die ganze Zeit überlegt, welche biblischen Geschichten, die Sie jetzt nicht in Ihren 40 Stationen bearbeiten, würde ich denn ganz neu lesen, wenn ich sie noch mal läse und mit diesem Fokus anschauen würde. Und ich kam zu dem Ergebnis: Wahrscheinlich passt das auf ganz große Teile der Bibel. Also, haben Sie sich nur diese 40 Beispiele rausgesucht? Oder haben Sie den Eindruck, das könnte man auch auf 400 durchdeklinieren, was dann zu einem sehr, sehr dicken Buch geführt hätte?
Claussen: Das Buch soll ja lesbar sein und auch irgendwie handhabbar sein. Deshalb habe ich mich auf diese schöne biblische Zahl konzentriert. Und ich habe bewusst bestimmte Stränge auch außen vor gelassen. Also, im Alten Testament gibt es ja auch mehrere Traditionslinien von Beheimatungstheologie. Die Weisheitstradition – das hat nichts mit Flucht zu tun. Und die Königstheologie, die gibt es ja auch. Also, diese beiden habe ich bewusst außen vor gelassen.
Beim Neuen Testament habe ich – da wusste ich aber einfach nicht, wo ich das hinpacken sollte – das ganze Johannes-Evangelium außen vor gelassen. Da könnte man natürlich auch noch mal neu gucken, aber das war mir dann schon zu viel und da habe ich mich beschränkt.
"Kritik ist ja nicht schlecht"
Main: Ihr Buch ist ja auch insgesamt eine Meditation, wie es uns gelingen könnte, sich dieser wort- und wirkmächtigen Bibliothek namens Bibel neu und anders anzunähern. Rechnen Sie auch mit Kritik derjenigen, die sich biblizistisch verbitten, Gottes Wort auf Ihre Weise neu aufzumischen?
Claussen: Och, Kritik ist ja nicht schlecht. Bitte sehr, dann sollen sie sie äußern. Ist bisher noch nicht so vorgekommen, kann aber passieren. Aber mir war wichtig, jetzt nicht nur ein Thema zu präsentieren, sondern auch sprachlich daran zu arbeiten. Also, wie kann ich biblische Texte so präsentieren, - und das habe ich mal ganz getreu gemacht und mal habe ich ein bisschen gespielt - dass sie neu gelesen werden können?
Wie finde ich ein schönes, einfaches Deutsch, dass man das auch nachvollziehen kann? Und wie finde ich sozusagen eine Tonlage, wo ich einerseits biblische Texte bringe, andererseits aber auch historische Erklärungen, meine Gedanken dazu, ohne dass es ständig einen Stilbruch gibt? Das war für mich sozusagen neben dem Thematischen die schriftstellerische Herausforderung.
Main: Und Sie haben auch darauf geachtet, dass Sie Erkenntnisse der Bibelwissenschaft, sofern Sie sie – aber davon gehe ich aus – präsent haben, dass die eben auch einfließen. Dass Sie nicht zurückfallen in irgendwie eine Haltung: Was sagt mir als einzelnem Johann Hinrich Claussen dieser Satz?
Claussen: Ja.
Main: Sondern die große Theologie sollte miteinfließen.
Claussen: Ja. Und es gibt einen Widerspruch, den ich ganz schrecklich finde, dass man gegeneinanderstellt die eiskalte wissenschaftliche Exegese, Bibelauslegung und dann die Erbauung, den pastoralen Schmus. Also, links der Kitsch und rechts sozusagen die harte Wissenschaft. Ich finde, man kann beides gut verbinden. Eine existenziell engagierte Lektüre und aber auch ein Bewusstsein für historisch-kritische Wissenschaft. Und diese Erkenntnisse der Altertums- und der Bibelwissenschaft, die wollte ich natürlich miteinfließen lassen, auch, wenn das vielleicht den einen oder anderen gelegentlich verstört.
"Die Bibelauslegung ist zu akademisch geworden"
Main: Mal losgelöst von Ihrem Ansatz. Was wäre Ihr Wunsch? Wie müsste künftig von Theologen über die Bibel geredet werden?
Claussen: Also, ich glaube, dass weite Teile der Exegese, also der wissenschaftlichen Bibelauslegung, zu akademisch geworden ist und sie nicht mitbedenkt, dass das, was über die Bibel herausgefunden wird, auch noch mal irgendwie wirksam werden kann, alleine schon für Pastorinnen und Pastoren zu gebrauchen ist. Da, glaube ich, hat die universitäre Theologie doch noch mal ein bisschen was zu tun.
Main: Sie bringen ja auch eine emotionale Ebene rein, die mich selbst sehr berührt hat. Also, ich spreche die Fotografie an. Sie fügen Ihrer Bibel in 40 Stationen historische Fotos hinzu. Also, Beispiel: jüdische Flüchtlinge in Ellis Island 1935. Armenische Flüchtlinge in Anatolien 1915. Deutsche Flüchtlinge in Berlin 1945. Mal abgesehen davon, dass das großartige anrührende Fotos sind, immer am Anfang eines Kapitels: Welches Konzept steckt hinter dieser Entscheidung?
Claussen: Da haben wir lange dran gearbeitet. Ich habe einen tollen Lektor beim Beck Verlag. Ulrich Nolte und ich haben überlegt, es wäre gut, Bilder zu haben, die noch mal den Blick öffnen und das Ohr aufmachen, also über das Schauen das Ohr aufkriegen für diese Texte. Und da haben wir lange überlegt. Und wir hatten gesagt, erst hatten wir gedacht, klassische, christliche Ikonographie. Dann haben wir gedacht, das ist viel zu christlich gedeutet – weg damit.
Dann hatten wir überlegt Fotografie, alte aus dem Heiligen Land. Das war dann aber auch irgendwie zu historisch. Dann hatten wir - wollten wir es aber auch nicht sozusagen durch aktuelle Fotos aus Palmyra oder so wieder aktualistisch kurzschließen. Und dann kamen wir eben gemeinsam auf die Idee oder mein Lektor kam sogar auf die Idee, klassische Fotos zu suchen, also historische Fotos, die einerseits richtig nah dran sind, viel näher als der biblische Text, andererseits aber weit genug, um jetzt nicht den Kurzschluss zu vollziehen. Und da haben wir lange dran herumgebastelt, dass sozusagen neben der Textspur so eine eigenständige Bildspur steht, die noch mal das Lesen, ja, anders befeuert.
"Es jammerte ihn"
Main: Funktioniert sehr gut. Johann Hinrich Claussen, EKD-Kulturbeauftragter im Deutschlandfunk. Herr Claussen, eine Geschichte oder mehrere Geschichten aus der hebräischen Bibel haben wir angesprochen. Gehen wir mal zu den biblischen Büchern der Christen. Ihnen ist da die Geschichte vom Samariter besonders wichtig – ist mein Eindruck. Der lässt einen Beraubten oder Verletzten am Straßenrand eben nicht liegen. Was ist es, was aus Ihrer Sicht und mit Ihrem Blick diese Geschichte für heute so relevant macht?
Claussen: Das sind zwei Dinge. Einmal ist es die Geschichte über das Mitleid oder Luther übersetzt das "Jammern".
Main: "Es jammerte ihn."
Claussen: "Es jammerte ihn." Also, ein Mensch sieht einen anderen. Der ist in Not und er geht nicht vorbei, sondern dessen Not kann er selber in einem Impuls, in einem Gefühl nachempfinden. Es jammerte ihn. Das heißt: Mitleid, er empfindet Mitleid. Er leidet tatsächlich mit. Das ist der erste Impuls. Und das, finde ich, ist eine so großartige Menschheitsentdeckung für alle Menschen, ob Christen oder nicht, ist total wichtig.
Und das Zweite ist genauso wichtig wie das Mitleid – Mitleid ist ja nur ein kurzer Impuls, das hört auch schnell leider wieder auf – ist, dass er ein ganz nüchterner Handwerker des Guten ist. Also, er macht, was zu tun ist. Er begrenzt und beendet sein Engagement auch. Also, er sagt auch, er bringt dann den Verletzten in ein Gasthaus und versorgt ihn da. Und dann muss er aber weiter, geht auch weiter, überfordert sich nicht selber, sondern er beendet auch die Beziehung, sorgt aber dafür, dass der Wirt weitermacht, also lässt ein paar Drachmen oder was immer da - ein paar Münzen da und geht weiter.
Und er will sich sein Mitleid oder sein Tun des Guten nicht bezahlen lassen. Er rechnet nicht auf Dankbarkeit, dass der dann also furchtbar dankbar ist, der Verletzte, sondern er geht einfach weg. Er hat das Gute getan, auf eine ganz handgreiflich vernünftig pragmatisch sinnvolle Weise. Und dann geht er fort.
"Eine neue Balance aus Nüchternheit und Nächstenliebe"
Main: Also, diese Kombination von kühler Rationalität und warmer Barmherzigkeit, fehlt die uns heute?
Claussen: Ja, das wird uns Deutschen ja vorgeworfen, dass wir gerade in der Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik eine Politik machen mit zu viel Herz und zu wenig Hirn – oder umgekehrt, je nach Tageslage. Und ich glaube, da brauchen wir eine neue Balance aus Nüchternheit und Nächstenliebe.
Main: Herr Claussen, lassen Sie uns einen Schritt weiter gehen von Jesus und seinem Samariter zu Paulus, dem Mann, der die Kirche begründet hat. Sie sehen in Paulus einen Religionsemigranten, der durchs Römische Reich reist - eine Flucht nach vorne, wandernd wie Jesus. Also, ohne Heimat, ohne Familie, aber mit großem Radius. Flucht nach vorn – was treibt diesen Fliehenden, diesen Paulus?
Claussen: Also, erst mal, das Christentum ist der erste Globalisierungsgewinner der Antike und nutzt eben die Infrastruktur des großen Reiches aus. Und Paulus ist eben einer, der ist umgekehrt worden. Der erste große Konvertit. Er ist umgekehrt worden von einem Gegner des Christentums zu einem überzeugten Jesus-Anhänger. Er hat Jesus Christus in sich gespürt. Er hat ihn in sich. Aber er hat ihn nicht nur in sich, er hat ihn auch vor sich. Und er erwartet oder eilt sozusagen der Wiederkunft Christi entgegen.
Ich habe in meinem Studium die Theologie des Paulus rauf und runter gelernt, aber immer so lehrbuchmäßig. Kapitel 1 der Gottesbegriff. Kapitel 2 die Christologie. Kapitel 3 usw. Also, Paulus in Ordnung gebracht. Und indem ich jetzt mich in diesem Buch neu dem Paulus gewidmet habe – ja auch ein anstrengender Autor – habe ich festgestellt, der ist überhaupt gar nicht ordentlich. Der hat es richtig eilig. Und der will vorankommen und ist zugleich ein kranker Mensch und heimatlos und entwickelt seine Theologie auf dem Weg.
"Ohne Gastfreundschaft wäre das Christentum keine Weltreligion"
Main: Auf dem Weg. Gleichzeitig fordert er die ganze Zeit oder sehr oft, wenn ich das richtig überblicke, mehr Gastfreundschaft bei den Gemeinden. Da scheint es doch irgendwie ein Problem gegeben zu haben.
Claussen: Ja, die Gastfreundschaft war eigentlich die höchste Tugend, also das wichtigste Gebot für die ersten Christen. Ließ sich ja auch gar nicht anders denken. Wie sollten denn christliche Missionare, Propheten, Prediger unterkommen, wenn sie nicht auf Gastfreundschaft hoffen konnten?
Und zugleich muss man das Gute immer einfordern. Denn Gastfreundschaft ist zwar die Tugend der Nomaden und die ersten Christen waren eine Nomaden-Religion, aber zugleich nerven Gäste eben auch nach drei Tagen. Und damals: Die Nahrungsvorräte, die da im Haushalt waren, die reichten ja vielleicht zwei, drei Tage. Und dann war er auch wieder leer. War ja kein Kühlschrank da. Also musste man eben bestimmte Formen finden, wie man Gastfreundschaft auch organisiert. Aber ohne dieses Ethos der Gastfreundschaft wäre das Christentum nicht zu einer Weltreligion geworden.
Main: Aber Christen haben damals nur Christen geholfen.
Claussen: Genau. Also, ist immer die Frage: Wer ist der Fremdling? Wenn es im Alten oder im Neuen Testament heißt "nimm den Fremdling auf", dann ist es jetzt nicht einfach so der Ausländer im heutigen Sinne. Das gab es ja auch gar nicht – Inland, Ausland. Diese Unterscheidungen waren gar nicht gegeben.
"Bei den Christen kann man sich durchschnorren"
Es bezog sich diese Gastfreundschaft der ersten Christen auf Glaubensbrüder, aber die natürlich auch aus ganz anderen Ländern kamen, die aus ganz anderen Kulturen kamen, die andere Frömmigkeiten hatten. Zugleich ist sozusagen in dieser Nächstenliebe, auch in der Gastfreundschaft der Keim für etwas, was dann langsam sich entwickelt hat, nämlich, dass es eine universale – ein universales Liebesgebot gibt.
Main: Sie zitieren Lukian, den großartigen antiken Spötter. Es scheint also so gewesen zu sein, dass die Gastfreundschaft auch ausgenutzt wurde. Wie?
Claussen: Na klar, also, da gibt es - Lukian erzählt von dem Wanderpropheten Peregrinus. Und als der alt wird, sagt er: Oh, ich werde jetzt mal Christ. Bei den Christen kann man sich so gut durchschnorren, wenn man es nur richtig anstellt.
Und natürlich, Gastfreundschaft wird auch gern mal ausgenutzt. Insofern muss man da klug mit umgehen. Und die ersten Gemeinden haben das dadurch getan, dass sie Regeln aufgestellt haben: also drei Tage, dann reicht es. Und dann auch selber arbeiten. Paulus hat ja immer selber gearbeitet, also aber auch die Möglichkeit gegeben, dass man Arbeit findet. Und eben für religiöse Dienste wird kein Lohn bezahlt. Und später gab es auch noch mal so kleine Ausweise, so was, Zertifikate.
Main: Nüchternheit also und Nächstenliebe, Besonnenheit und Barmherzigkeit bei frühen Christen offenbar eng verzahnt. Was lernen wir heute daraus?
Claussen: Ja, dass wir vor der großen Herausforderung stehen, ja noch in ganz anderer Weise mit Migration umzugehen. Also, es fängt ja doch erst an, wenn ich - ich bin kein Experte, aber wenn ich mir nur mal vorstelle, was mit der Erderhitzung noch alles passiert und was das für Bewegungen auslösen wird, sind wir natürlich vor der Herausforderung, Zuwanderung vernünftig und sinnvoll und human zu organisieren und aber auch Grenzen präzise zu beschreiben.
"Über die Grenze hinausdenken"
Und, wenn man aber Grenzen beschrieben hat, hat man das Problem noch nicht gelöst, sondern dann muss man sich ja dann drüber - über die Grenze hinausdenken. Wir als Europäer haben die Möglichkeiten, stehen aber auch vor der Herausforderung, einerseits über unsere Grenzen nachzudenken und über unsere Grenzen hinaus zu denken.
Main: Am Ende Ihres Buches ziehen Sie das Fazit, dass wegen der christlichen Missionstätigkeit sowie wegen der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, des Alten Israel "Judentum und Christentum am Ende und auf je eigene Weise zu heimatlosen Weltreligionen geworden sind." Das bedeutet dann heute abschließend für die evangelische Kirche was?
Claussen: Ja, sich aufmachen und aufbrechen. Also, das Christentum und das Judentum haben sich ja dann auch wieder beheimatet, zum Glück. Man will ja - keiner kann nur in der Fremde leben. Man will ja irgendwo auch ankommen. Bei uns ist es natürlich so, wir sind inzwischen gut angekommen, vielleicht als evangelische Kirche. Da könnte ein bisschen Aufbrechen gar nicht schaden.
Main: Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen. Sein "Buch der Flucht – die Bibel in 40 Stationen" ist erschienen bei C.H. Beck. 332 Seiten kosten 24,95 Euro. Danke, Johann Hinrich Claussen, für das Gespräch.
Claussen: Vielen Dank für die Einladung.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.