Bernd Lechler: Musikzeitschriften haben es nicht leicht, seit es Rezensionen und Interviews auch im Internet gibt, reichlich und gratis. Kürzlich erst hat die Popdiskurs-Institution "Spex" ihre Papierausgabe eingestellt; als abonnierbarer Online-Blog soll sie weiterleben, aber das war nicht sofort klar. Dass es im Popfeuilleton kriselt, könnte aber noch andere Gründe haben:
Die Songs des österreichischen Wahlberliners, der sich RAF Camora nennt, waren in Deutschland dieses Jahr auf Spotify die meistgestreamten überhaupt. Oder es gab die Schweizer Influencerin Loredana, die ihren Song "Sonnenbrille" auf YouTube hochlud und binnen zwei Wochen 13 Millionen Klicks hatte. Dem Musikfeuilleton waren beide Acts kaum eine Zeile wert. Frage an den Musikkritiker und "Spiegel Online"-Rezensenten Andreas Borcholte: Ist das eine Lücke, ein Fehler?
Andreas Borcholte: Ja, natürlich. Auf der anderen Seite muss man sagen, da muss man unterscheiden: Loredana, den Song kenne ich, fand ich jetzt tatsächlich - vielleicht ist das arrogant - fand ich jetzt nicht so interessant, als dass man hätte darüber berichten müssen. Fand ich auch eher so ein bisschen schlagerhaft. Bei RAF Camora – das ist natürlich schon eine Geschichte, die man hätte haben können und die hätte man vielleicht auch haben müssen. Da ist definitiv eine Lücke. Wenn er, wie es jetzt rausgekommen ist, einer der erfolgreichsten, allermeisten gestreamten Künstler des Jahres ist, dann hätte man da schon mal ein Porträt machen können. Ja, das ist eine Lücke.
"Geschmäcklerisch ist Popkritik natürlich immer"
Lechler: Noch ein Beispiel vielleicht. Ich entsinne mich: Letztes Jahr ist das Album von Ed Sheeran erschienen, der wirklich auch so ein globales Phänomen ist. Wie da die Online-Rezension des "Musikexpress" nur aus einem etwas höhnischen Kurztext bestand, der sinngemäß sagte: Ja, auch Ed Sheeran hat wieder ein Album veröffentlicht. Und ich dachte damals zuerst: Ist das ein Statement oder ist es einfach geschmäcklerisch und eine journalistische Bankrotterklärung, wenn man sich mit so einem Phänomen nicht mehr auseinandersetzen will? Sie sollen es nicht die Kollegen dissen, aber welchen Umgang finden Sie in so einem Fall angemessen?
Borcholte: Ich glaube, ich habe einen relativ langen Text zu dem Album geschrieben. Ja, geschmäcklerisch ist Popkritik natürlich immer. Ich glaube, ein Missverständnis ist, was auch viele Leser zurückmelden: Warum habt ihr denn nicht da- und darüber berichtet und so. Natürlich sucht man sich das zum Teil nach sehr engen Geschmackskriterien aus, was man interessant findet und was nicht. Und es geht ja auch gar nicht anders, denn man muss sich ja auch interessieren. Da entstehen logischerweise blinde Flecken. Viele Kollegen verbindet ja mit Ed Sheeran gerade irgendwie eine totale Hassliebe oder besser gesagt: ein tiefgehender Hass. Von Liebe kann da keine Rede sein. Ich für meine Person finde den harmlos-interessant, kann man mal was zu machen.
Lechler: Die Neuveröffentlichungen, die Sie zum Beispiel in der Rubrik "Abgehört" bei "Spiegel Online" besprechen - wie stoßen Sie auf die? Also welche Quellen nutzen sie vor allem?
Borcholte: Ganz unterschiedlich. Also mir schicken tatsächlich auch inzwischen ganz viele Künstler selbst ihre Platten. Da kriege ich dann Post ins Büro oder ich kriege E-Mails: "Lieber Andreas Borcholte, hör dir das bitte mal an." Ich bin sehr viel auf angloamerikanischen Blogs unterwegs, wo neue Songs gepostet werden. Da bin ich sehr aufmerksam, wenn sich da möglicherweise interessante neue Künstler auftun. Und die dritte Säule, würde ich sagen, ist natürlich immer noch die klassische Plattenindustrie, die mich im Zweifelsfall bemustert mit ihren Produkten.
Kluft zwischen Konsumenten und Kritikern: "Das ist aber ganz natürlich"
Lechler: Wenn wir jetzt sagen, die Kulturjournalisten sind überwiegend mittleren Alters, sind Vinyl- oder CD-sozialisiert, bildungsbürgerlich geprägt. Die Pop-Konsument*innen werden immer jünger, nutzen Spotify, hören nicht unbedingt immer Alben, sondern auch einfach mal eine Playlist. Wächst da eine Kluft zwischen den Erfahrungswelten, lebt man sich auseinander?
Borcholte: Ja, das ist aber ganz natürlich und es war auch immer schon so. Ich glaube nicht, dass sich der Teenager, der sich in den 60ern für die Beatles begeistert hat oder in den 90ern für Take That, dass der oder die irgendein Interesse gehabt hätte, darüber eine popkritische Abhandlung zu lesen, im "Spex" oder sonst wo, im "Rolling Stone". Diese Kluft gab es immer und wir sind, glaube ich, auch in einem Alter. Dann gab es früher die "Bravo", da hat man dann die kleinen Klatsch und Tratsch-Geschichten über die Stars, die man angehimmelt hat, gelesen. Und irgendwann, wenn man sich dann weiter für Musik interessierte, fiel einem vielleicht der "Musikexpress" in die Hand oder der "Rolling Stone" oder eine andere Publikation, die ein bisschen tiefer reinging. Und dann ist man dabeigeblieben oder vielleicht auch nicht. Die Frage ist halt, ob man die dann weiter und tiefergehender für Popmusik interessieren kann.
Lechler: Was haben Sie denn aus Zuschriften oder Untersuchungen oder sonstigen Quellen für ein Bild von ihrer Leser- und Hörerschaft?
Borcholte: Also wenn ich mir jetzt gerade das sehr unterhaltsame Forum unter meiner Jahresausgabe von der "Abgehört"-Kolumne angucke, dann tummeln sich ein paar Unentwegte, die dann mit Judas Priest und Prog-Rock um sich werfen - was sie natürlich schmerzlich vermissen in meiner Kolumne. Andere zeigen sich irgendwie unverständlich über bestimmte Einzelauswahlen. Ich glaube, was ich dem entnehme, ist: Dieses Publikum, was ich auch da äußert, das hat schon ein gewisses Alter. Das ist natürlich auch analog zu unserem "Spiegel Online"-Publikum, das ist dann zwischen dreißig und vierzig, würde ich mal sagen.
Der Kritiker als Pop-Navigator
Lechler: Ich habe ja als Leser manchmal das Gefühl - in Tageszeitungen weniger, bei "Abgehört" schon eher -, die Rezensenten kennen sich eh alle und es besteht auch die Gefahr, dass man seinen Artikel für die Kollegen schreibt.
Borcholte: Das ist immer eine große Gefahr. Ich glaube, das ist auch historisch gewachsen in der Popkritik, weil es immer schon eine kleine Blase war. Wir dürfen uns ja nicht der Illusion hingeben, dass Popkritik jetzt irgendwie Mainstream wäre oder ein Massenphänomen oder genauso klickstark oder so viel Interesse generiert wie ein Politik-Artikel. Das ist immer Nische. Und der Personenkreis, der des betreut und das liest, der es aufmerksam liest und sich damit auseinandersetzt, der ist sehr klein.
Lechler: Wie sehen Sie denn ihre Rolle jetzt, auch natürlich seit im Internet viele Amateur-Rezensenten mitschreiben? Wie wichtig ist man als Musikjournalist noch, als Multiplikator und vielleicht auch Gatekeeper?
Borcholte: "Multiplikator" ist, glaube ich, nicht mehr das richtige Wort. Ich glaube, es gab mal eine Zeit, in der wir das waren, weil wir große Leserschaften hatten und tatsächlich als eine Art Sprachrohr dienten. Ich glaube, dass wir mittlerweile eher Navigatoren sind. Ich glaube, dass die Navigator-Funktion im Pop wichtiger denn je ist.
"Man muss sich bemühen, das Feld nicht aufzugeben"
Lechler: Dieses Jahr wurde "Spex" auf Papier eingestellt. Zunächst sah es ja so aus, als verschwände das Magazin ganz, als Opfer einer sich wandelnden Medienlandschaft und auch eben diese ganzen Umwälzungen, was das Musikhören und die Bedeutung und Wahrnehmung der Popmusik betrifft. Denken Sie, da werden weitere Publikationen folgen?
Borcholte: Ja, ich denke schon. Das hat ja auch etwas mit der Wirtschaftlichkeit zu tun und das ist natürlich auch ein Problem. Ich finde das übrigens sehr gut, dass die "Spex" weitergeführt wird. Und ich finde es auch richtig, was der Chefredakteur Dennis Pohl schreibt: dass man sich eben bemühen muss, eben das Feld nicht aufzugeben, und dann natürlich auch dahingeht, wo sich Pop die meiste Zeit abspielt heutzutage - nämlich im Internet. Und das hätte man als Musikmedium natürlich auch schon viel früher machen können. Das geht an die "Spex", das geht an den "Rolling Stone", den "Musikexpress" genauso. Aber das ist immer eine Frage der Finanzierbarkeit, weil: Man will natürlich irgendwie gute Inhalte bieten. Man möchte die Leute auch bezahlen, die schreiben oder die Inhalte herstellen. Und die Erlösmodelle im Internet sind natürlich prekär. Der Weg aber, das weiter zu versuchen und genau im Internet zu versuchen, sodass man eben auch diese Druckkosten nicht hat, dass man das Heft an den Kiosk bringen muss, wo die Abnehmerzahl wirklich sinkt und auch weiter sinken wird, der ist genau richtig.
"Ein relativ starkes Nachwuchsproblem"
Lechler: Was wäre dann, um das zu retten oder im Netz auch stark zu halten, für Sie das Wichtigste, die wichtigste Stärke, die man ausspielen muss, das Größte, was man zu bieten hat als Popjournalist?
Borcholte: Naja, auf der einen Seite die gesammelte Erfahrung. Und ich glaube, also ist es ganz, ganz wichtig, dass junge Leute sich für Pop interessieren und auch anfangen zu schreiben darüber. Da gibt es auch ein relativ starkes Nachwuchsproblem, dass da Leute nachkommen, die jung sind und sich möglicherweise auch für andere Sachen interessieren. Also Überalterung ist schon ein Thema, aber auf der anderen Seite ist der Erfahrungshorizont und das, was man sich so angehört hat über die Jahre, natürlich schon ein Pfund, von dem ich, als ich angefangen habe, mich dafür zu interessieren, auch profitiert habe. Dass da Leute saßen, die sich auskannten, die auch ein bisschen tiefer gegraben haben und mir Sachen zugeführt haben, von denen ich im Leben noch nicht gehört habe - und die mir im Übrigen auch heutzutage - Spotify über die Playlisten oder YouTube oder selbstvermarktete Künstler über Instagram - das würde mir niemand zuführen. Das ist, glaube ich, die Kompetenz, die nach wie vor extrem wertvoll ist und die, glaube ich, auch nachgefragt wird.
Lechler: Sagt "Spiegel Online"-Autor und Musikkritiker Andreas Borcholte. Danke für das Corsogespräch.
Borcholte: Vielen Dank.
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