Demokratie als Lernprozess - oder: Der lange Abschied von der "demokratischen Elitenherrschaft"
Ein Geheimnis der vergleichsweise großen Stabilität von Demokratien liegt, so sahen es schon die Vordenker der attischen Demokratie, in ihrer beachtlichen Anpassungs- und Lernfähigkeit. Volkssouveränität und Gewaltenteilung sorgen dafür, dass Macht breit gestreut ist und der politische Prozess auf Öffentlichkeit und Debatte, das heißt auf die Weisheit der Vielen setzt. Demokratien können damit leichter dem Schicksal autoritärer Regime entgehen, die durch die übergroße Machtkonzentration an der Spitze immer wieder autistische Züge entwickeln. Gerade für autoritäre Verhältnisse gilt darum die hochaktuelle Machtdefinition von Karl W. Deutsch: Macht hat derjenige, der glaubt es sich leisten zu können, nicht lernen zu müssen.
Auch Demokratien können mehr oder weniger autoritär verfasst sein und gesellschaftliche Lernprozesse blockieren. Es braucht eine beteiligungsorientierte Weiterentwicklung und Vertiefung von Demokratie, um die wachsende Kluft zwischen Bürgern und Staat zu verkleinern. Angesagt ist der Übergang von einer überwiegend repräsentativ dominierten Demokratie zu einer Bürgerdemokratie. Im Zentrum steht dabei die Stärkung von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Staat und Wirtschaft, aber auch gegenüber Verbänden, Parteien und Parlamenten. Bürgerdemokratie stellt eine progressive Antwort auf aktuelle politische Krisenerscheinungen dar. Sie ist mehr als eine Fiktion, weil wir auf die gestiegenen Beteiligungsansprüche in der Bevölkerung und auf institutionelle Innovationen bauen können, die bereits erprobt werden.
In vielen Ländern, nicht zuletzt in den gefestigten repräsentativen Demokratien des Westens, gibt es wachsende Zweifel an der politischen Leistungsfähigkeit sowie der demokratischen Qualität und Legitimation des eingespielten Politikbetriebs. Wir erleben eine Strukturkrise westlicher Demokratien und sind auf dem Weg zur "Postdemokratie". Der Brite Colin Crouch hat mit dieser These das Schwinden demokratischer Gestaltungsfähigkeit angesichts einer Übermacht von großen Konzernen und Medienunternehmen angeprangert. Gleichzeitig ist der öffentliche Sektor in einer Weise geschrumpft und an den Maßgaben der Privatwirtschaft ausgerichtet, dass von ihm keine Gestaltungsimpulse mehr ausgehen. Im November 2010 äußerten 79 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger bei einer Forsa-Umfrage Zweifel daran, dass ihre Interessen ausreichend berücksichtigt werden.
Mit der Legitimation ist auch das Vertrauen in die politische Leistungsfähigkeit geschwunden. Aus einer Vielzahl von Untersuchungsergebnissen mag die Zahl aus einer TNS-Emnid-Befragung zur "Politikbeteiligung" vom Juni 2010 genügen. Danach haben drei Viertel der Bevölkerung in Deutschland ein eher niedriges oder sehr niedriges Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik.
Diese verbreitete Unzufriedenheit mit dem politischen Prozess hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Offensichtlich sind der Rückzug aus den politischen Parteien und eine sinkende Wahlbeteiligung, aber auch die gewachsene Bereitschaft zum Protest. Der anhaltende und fantasievolle Widerstand gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" ist hierfür zu einem Symbol geworden.
Es sollte aber nicht übersehen werden, dass es in diesem Zusammenhang auch antidemokratische Strömungen gibt, die fremdenfeindliche, rechtspopulistische und rechtsextreme Motive aufgreifen. Dennoch, und das ist die gute Botschaft der aktuellen Bürgerproteste, das Gros des Unbehagens ist demokratisch motiviert. Verlangt wird nicht die Abschaffung, sondern eine Vertiefung und Vitalisierung demokratischer Gestaltungsmöglichkeiten. Nach der bereits zitierten Emnid-Umfrage möchten fast die Hälfte der Befragten mehr direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen.
Damit werden zentrale Annahmen der "realistischen" Demokratietheorie, wie sie Joseph A. Schumpeter bereits in den 1940er Jahren formuliert hat, unrealistisch. Er setzte auf eine "demokratische Elitenherrschaft", die durch regelmäßige Wahlen kontrolliert wird. Mit ihr konnte das notwendige und wünschbare Maß an Bürgerbeteiligung auf den periodischen Urnengang, das heißt die Wahl von konkurrierenden professionellen Mannschaften reduziert werden. Jenseits des Urnengangs waren Bürgerinnen und Bürger von politischer Beteiligung entlastet. Geringes politisches Interesse schien bis in die 1960er Jahre hinein als Systemvorteil westlicher Demokratien, als Ausdruck allgemeiner Zufriedenheit. Die Tugend weitgehender politischer Enthaltsamkeit erschien umso strahlender, stand sie doch in einem scharfen Kontrast zur dauermobilisierten Pseudounterstützung, wie sie in den politischen Regimen des Ostblocks der Bevölkerung abverlangt wurde.
Auch Demokratien können mehr oder weniger autoritär verfasst sein und gesellschaftliche Lernprozesse blockieren. Es braucht eine beteiligungsorientierte Weiterentwicklung und Vertiefung von Demokratie, um die wachsende Kluft zwischen Bürgern und Staat zu verkleinern. Angesagt ist der Übergang von einer überwiegend repräsentativ dominierten Demokratie zu einer Bürgerdemokratie. Im Zentrum steht dabei die Stärkung von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Staat und Wirtschaft, aber auch gegenüber Verbänden, Parteien und Parlamenten. Bürgerdemokratie stellt eine progressive Antwort auf aktuelle politische Krisenerscheinungen dar. Sie ist mehr als eine Fiktion, weil wir auf die gestiegenen Beteiligungsansprüche in der Bevölkerung und auf institutionelle Innovationen bauen können, die bereits erprobt werden.
In vielen Ländern, nicht zuletzt in den gefestigten repräsentativen Demokratien des Westens, gibt es wachsende Zweifel an der politischen Leistungsfähigkeit sowie der demokratischen Qualität und Legitimation des eingespielten Politikbetriebs. Wir erleben eine Strukturkrise westlicher Demokratien und sind auf dem Weg zur "Postdemokratie". Der Brite Colin Crouch hat mit dieser These das Schwinden demokratischer Gestaltungsfähigkeit angesichts einer Übermacht von großen Konzernen und Medienunternehmen angeprangert. Gleichzeitig ist der öffentliche Sektor in einer Weise geschrumpft und an den Maßgaben der Privatwirtschaft ausgerichtet, dass von ihm keine Gestaltungsimpulse mehr ausgehen. Im November 2010 äußerten 79 Prozent der befragten Bürgerinnen und Bürger bei einer Forsa-Umfrage Zweifel daran, dass ihre Interessen ausreichend berücksichtigt werden.
Mit der Legitimation ist auch das Vertrauen in die politische Leistungsfähigkeit geschwunden. Aus einer Vielzahl von Untersuchungsergebnissen mag die Zahl aus einer TNS-Emnid-Befragung zur "Politikbeteiligung" vom Juni 2010 genügen. Danach haben drei Viertel der Bevölkerung in Deutschland ein eher niedriges oder sehr niedriges Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik.
Diese verbreitete Unzufriedenheit mit dem politischen Prozess hat unterschiedliche Reaktionen ausgelöst. Offensichtlich sind der Rückzug aus den politischen Parteien und eine sinkende Wahlbeteiligung, aber auch die gewachsene Bereitschaft zum Protest. Der anhaltende und fantasievolle Widerstand gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" ist hierfür zu einem Symbol geworden.
Es sollte aber nicht übersehen werden, dass es in diesem Zusammenhang auch antidemokratische Strömungen gibt, die fremdenfeindliche, rechtspopulistische und rechtsextreme Motive aufgreifen. Dennoch, und das ist die gute Botschaft der aktuellen Bürgerproteste, das Gros des Unbehagens ist demokratisch motiviert. Verlangt wird nicht die Abschaffung, sondern eine Vertiefung und Vitalisierung demokratischer Gestaltungsmöglichkeiten. Nach der bereits zitierten Emnid-Umfrage möchten fast die Hälfte der Befragten mehr direkten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen.
Damit werden zentrale Annahmen der "realistischen" Demokratietheorie, wie sie Joseph A. Schumpeter bereits in den 1940er Jahren formuliert hat, unrealistisch. Er setzte auf eine "demokratische Elitenherrschaft", die durch regelmäßige Wahlen kontrolliert wird. Mit ihr konnte das notwendige und wünschbare Maß an Bürgerbeteiligung auf den periodischen Urnengang, das heißt die Wahl von konkurrierenden professionellen Mannschaften reduziert werden. Jenseits des Urnengangs waren Bürgerinnen und Bürger von politischer Beteiligung entlastet. Geringes politisches Interesse schien bis in die 1960er Jahre hinein als Systemvorteil westlicher Demokratien, als Ausdruck allgemeiner Zufriedenheit. Die Tugend weitgehender politischer Enthaltsamkeit erschien umso strahlender, stand sie doch in einem scharfen Kontrast zur dauermobilisierten Pseudounterstützung, wie sie in den politischen Regimen des Ostblocks der Bevölkerung abverlangt wurde.
Eine aktive Bürgerschaft meldet sich zu Wort - demokratische Innovationen bahnen sich weltweit einen Weg
Diese klassische, nach dem US-Vorbild gezeichnete Tauschbeziehung zwischen einer politisch weitgehend uninteressierten und abstinenten Bürgerschaft einerseits und professionellen Politikeliten andererseits war für die Bundesrepublik mit ihren vergleichsweise starken Partei- und Verbandstraditionen nie völlig zutreffend. Die entscheidende Herausforderung für diese "realistische" Demokratiekonzeption brachte jedoch erst ein politisch-kultureller Wandel, der in den 1960er Jahren einsetzte und bis heute anhält. Es ist das Anwachsen einer aktiven, auf direkte Formen der Beteiligung setzenden Bürgerschaft. Ronald Inglehart hat diesen, in vielen Ländern zu beobachtenden Wandel als Übergang von einem elitenfixierten zu einem selbstbewussten, die politischen Eliten herausfordernden Publikum beschrieben.
Für diesen internationalen Trend dürften drei Dinge entscheidend sein: die Ausweitung von höherer Bildung, die Zunahme der für das gestiegene politische Interesse verfügbaren freien Zeit und das gestärkte bürgerschaftliche Kompetenzbewusstsein. Unterstützt wird politisches Engagement heute zudem durch neue Kommunikationsmöglichkeiten. Ohne sie wäre weder die wachsende Zahl von transnationalen Mobilisierungen noch die Vielzahl der Nichtregierungsorganisationen, aber auch mancher spontaner lokaler Protest kaum vorstellbar.
Nach vielfältigen Protesten, Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen stehen heute die Erweiterungen der institutionellen Beteiligungsmöglichkeiten auf der Tagesordnung. Bürgerinnen und Bürger sollen sich einmischen können, ihre Fachkompetenz einbringen, sich als Koproduzenten betätigen, öffentliche Aufgaben übernehmen oder zumindest mitentscheiden können. Im Ergebnis sind intelligentere, weniger kostspielige und gesellschaftlich breiter akzeptierte politische Entscheidungen zu erwarten. Vor allem auf kommunaler Ebene wird unter der Überschrift "Bürgerkommune" mit einer Vielzahl von Beteiligungsangeboten experimentiert - von Kinder- und Jugendstadträten über Bürgerforen bis hin zu Bürgerhaushalten. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben seit der deutschen Vereinigung zwar in alle Kommunalverfassungen Eingang gefunden, aber oft mit solch hohen Hürden, dass sie nicht alltagstauglich sind.
Die Arbeiten auf der Reformbaustelle Bürgerdemokratie stehen also erst am Anfang. Denn häufig endet die Fantasie schon bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden, die zwar wichtige Korrektive und Widerspruchsmöglichkeiten bieten, aber zu einer alltäglichen Beteiligungspraxis nur wenig beitragen können.
Für diesen internationalen Trend dürften drei Dinge entscheidend sein: die Ausweitung von höherer Bildung, die Zunahme der für das gestiegene politische Interesse verfügbaren freien Zeit und das gestärkte bürgerschaftliche Kompetenzbewusstsein. Unterstützt wird politisches Engagement heute zudem durch neue Kommunikationsmöglichkeiten. Ohne sie wäre weder die wachsende Zahl von transnationalen Mobilisierungen noch die Vielzahl der Nichtregierungsorganisationen, aber auch mancher spontaner lokaler Protest kaum vorstellbar.
Nach vielfältigen Protesten, Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen stehen heute die Erweiterungen der institutionellen Beteiligungsmöglichkeiten auf der Tagesordnung. Bürgerinnen und Bürger sollen sich einmischen können, ihre Fachkompetenz einbringen, sich als Koproduzenten betätigen, öffentliche Aufgaben übernehmen oder zumindest mitentscheiden können. Im Ergebnis sind intelligentere, weniger kostspielige und gesellschaftlich breiter akzeptierte politische Entscheidungen zu erwarten. Vor allem auf kommunaler Ebene wird unter der Überschrift "Bürgerkommune" mit einer Vielzahl von Beteiligungsangeboten experimentiert - von Kinder- und Jugendstadträten über Bürgerforen bis hin zu Bürgerhaushalten. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid haben seit der deutschen Vereinigung zwar in alle Kommunalverfassungen Eingang gefunden, aber oft mit solch hohen Hürden, dass sie nicht alltagstauglich sind.
Die Arbeiten auf der Reformbaustelle Bürgerdemokratie stehen also erst am Anfang. Denn häufig endet die Fantasie schon bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden, die zwar wichtige Korrektive und Widerspruchsmöglichkeiten bieten, aber zu einer alltäglichen Beteiligungspraxis nur wenig beitragen können.
Partizipation braucht passende Strukturen - Aktuelle Herausforderungen für eine demokratische Beteiligungskultur
Die bislang gesammelten Erfahrungen mit Bürgerhaushalten, BürgerInnen-Räten und anderen Beteiligungsformen verweisen auf schwierige Gestaltungsaufgaben, die noch auf dem Wege zur Bürgerdemokratie zu bewältigen sind. Sie werden erst sichtbar, wenn dem wohlfeilen Bekenntnis zu mehr Beteiligung auch konkrete Schritte folgen.
Zum einen muss mit der Regel gebrochen werden, nach der Bürger vor allem dort eingebunden werden, wo die geringste Regelungskompetenz besteht.
Mit guten Gründen konzentriert sich das Interesse der Bürger an mehr politischem Engagement derzeit vorwiegend auf die kommunale und die Landesebene. Dort gibt es bislang auch die größten Zugewinne an Beteiligungsangeboten. Der Bund, die Europäische Union und internationale Organisationen hingegen werden zumeist als außerhalb der Reichweite direkter Beteiligung wahrgenommen. Gleichzeitig wachsen aber deren Bedeutung und ihr Durchgriff auf die unteren Ebenen. Das bedeutet: Je geringer die politische Bedeutung einer Ebene ist, desto größer sind die Möglichkeiten der Partizipation. Ändern lässt sich dies in erster Linie mit einer Stärkung der kommunalen Ebene.
Zum Zweiten muss der Staat den öffentlichen Raum zurückerobern. Bürgerdemokratie ist darauf angewiesen, dass es öffentlich gestaltbare Räume und Institutionen gibt. Hier liegt eine besondere Herausforderung der erheblich vorangeschrittenen marktradikalen Umbauprozesse von vormals öffentlichen Einrichtungen und Gütern. Einige Kommunen bemühen sich heute um eine Rekommunalisierung privatisierter Einrichtungen, um wieder einen öffentlichen Zugriff zu haben.
Zum Dritten darf keine Kaste der auch politisch Ausgeschlossenen entstehen. Mit der Ausweitung von anspruchsvollen Beteiligungsmöglichkeiten wächst nach allen Erfahrungen zunächst die politische Ungleichheit. Beteiligung ist naturwüchsig keine "Waffe der Schwachen", sondern eine "Waffe der Starken". Besser gebildete und ressourcenstarke Bevölkerungsgruppen werden zusätzlich privilegiert, wenn nicht gegengesteuert wird. Die gezielte Förderung partizipationsferner Gruppen und eine repräsentative Auswahl von Bürgerinnen und Bürgern für Planungszellen, Bürgerpanels und Bürger-Räte sind mögliche Antworten.
Und schließlich muss eine praktikable Verknüpfung von repräsentativer und direkter Demokratie entwickelt werden. Direkte und repräsentative Formen von Demokratie können sich durchaus wechselseitig stärken. Aber sie können sich auch blockieren. Welches Zusammenspiel unterschiedlicher Demokratieformen ist eigentlich nötig und sinnvoll, um den gewünschten demokratischen Mehrwert verstärkter Beteiligung zu erzielen? Wie können Blockaden und negative Rückwirkungen durch parallele Formen demokratischer Einflussnahme vermieden werden? Das sind Fragen, die auf dem Weg zu einer erneuerten Demokratie beantwortet werden müssen.
Zum einen muss mit der Regel gebrochen werden, nach der Bürger vor allem dort eingebunden werden, wo die geringste Regelungskompetenz besteht.
Mit guten Gründen konzentriert sich das Interesse der Bürger an mehr politischem Engagement derzeit vorwiegend auf die kommunale und die Landesebene. Dort gibt es bislang auch die größten Zugewinne an Beteiligungsangeboten. Der Bund, die Europäische Union und internationale Organisationen hingegen werden zumeist als außerhalb der Reichweite direkter Beteiligung wahrgenommen. Gleichzeitig wachsen aber deren Bedeutung und ihr Durchgriff auf die unteren Ebenen. Das bedeutet: Je geringer die politische Bedeutung einer Ebene ist, desto größer sind die Möglichkeiten der Partizipation. Ändern lässt sich dies in erster Linie mit einer Stärkung der kommunalen Ebene.
Zum Zweiten muss der Staat den öffentlichen Raum zurückerobern. Bürgerdemokratie ist darauf angewiesen, dass es öffentlich gestaltbare Räume und Institutionen gibt. Hier liegt eine besondere Herausforderung der erheblich vorangeschrittenen marktradikalen Umbauprozesse von vormals öffentlichen Einrichtungen und Gütern. Einige Kommunen bemühen sich heute um eine Rekommunalisierung privatisierter Einrichtungen, um wieder einen öffentlichen Zugriff zu haben.
Zum Dritten darf keine Kaste der auch politisch Ausgeschlossenen entstehen. Mit der Ausweitung von anspruchsvollen Beteiligungsmöglichkeiten wächst nach allen Erfahrungen zunächst die politische Ungleichheit. Beteiligung ist naturwüchsig keine "Waffe der Schwachen", sondern eine "Waffe der Starken". Besser gebildete und ressourcenstarke Bevölkerungsgruppen werden zusätzlich privilegiert, wenn nicht gegengesteuert wird. Die gezielte Förderung partizipationsferner Gruppen und eine repräsentative Auswahl von Bürgerinnen und Bürgern für Planungszellen, Bürgerpanels und Bürger-Räte sind mögliche Antworten.
Und schließlich muss eine praktikable Verknüpfung von repräsentativer und direkter Demokratie entwickelt werden. Direkte und repräsentative Formen von Demokratie können sich durchaus wechselseitig stärken. Aber sie können sich auch blockieren. Welches Zusammenspiel unterschiedlicher Demokratieformen ist eigentlich nötig und sinnvoll, um den gewünschten demokratischen Mehrwert verstärkter Beteiligung zu erzielen? Wie können Blockaden und negative Rückwirkungen durch parallele Formen demokratischer Einflussnahme vermieden werden? Das sind Fragen, die auf dem Weg zu einer erneuerten Demokratie beantwortet werden müssen.
Demokratie will gelernt sein - Die nächsten Schritte in Richtung Bürgerdemokratie
Eine wichtige Etappe auf dem Wege zu mehr Bürgerbeteiligung ist sicherlich der Abschied von repräsentativen Alleinvertretungsansprüchen. Auch die öffentlichen Verwaltungen müssen bereit und fähig sein, die Mitwirkungsansprüche der Bürger anzuerkennen und zu fördern. Außerdem muss die Entwicklung einer Bürgerdemokratie als Erfahrungsprozess verstanden werden. Denn Beteiligung will gelernt sein. Eine beteiligungsfreundliche Alltagskultur in Familien, Schulen, Kommunen, Sportvereinen kann dabei hilfreich sein. Hier liegen der besondere Wert und die Chance von Kinder- und Jugendbeteiligung. Befragungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es eine provozierend große Kluft zwischen der grundsätzlichen Beteiligungsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen einerseits und den allenfalls bescheidenen Beteiligungsangeboten in Schulen und Gemeinden gibt. Zudem muss die politische Partizipation zur Alltagserfahrung werden. Sie sollte nicht nur für wichtige Ausnahmen zugestanden sein. Die Geschichte der neueren Selbsthilfe- und Protestbewegungen ist voll von Initiativen, in denen es darum geht, Institutionen, die unser Leben "programmieren", für Alternativen und Gestaltungsmöglichkeiten zu öffnen. Dies gilt für die medizinische Versorgung ebenso, wie für die Art zu sterben, auf die nicht zuletzt die Hospizbewegung Einfluss nehmen konnte. Es sind diese kulturellen Selbstverständlichkeiten, zu denen auch der Umgang zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften gehört, in denen auch politische Brisanz steckt. Demokratische Aushandlungsprozesse können erheblich zu Toleranz, Respekt und einem entspannten Umgang mit Vielfalt beitragen, wenn es Institutionen gelernt haben, davon einen vernünftigen Gebrauch zu machen. Und schließlich müssen die Lehren aus dem Großkonflikt um Stuttgart 21 gezogen werden. Er hat deutlich gemacht: Mit der Zahl der Betroffenen und der Eingriffstiefe des Vorhabens steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Widerspruch und Blockaden kommt. Beteiligungsprozesse sind nicht nur demokratisch geboten, sondern auch politisch klug und unabdingbar. Über die Standards solcher Verfahren wissen wir einiges. Sie müssen frühzeitig eingesetzt werden, sie brauchen Transparenz und eine verständliche, bürgerfreundliche Aufbereitung. Eine unabhängige Moderation steigert die Qualität und die Akzeptanz der Ergebnisse. Schließlich sind Beteiligungsprozesse sinnlos, wenn keine Alternativen ins Spiel gebracht werden können. Die gültigen Informationsfreiheitsgesetze billigen den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen einen höheren Rang zu als der Transparenz. Diese Regelung muss zumindest dort, wo es um öffentliche Aufträge geht, geändert werden. Von einer bestimmten Auftragssumme an sollte das Transparenzgebot auch für private Unternehmen gelten. Doch nicht nur bauliche Großprojekte, auch tief greifende politische Reformen verlangen nach mehr Bürgerbeteiligung. Das zeigte der Protestherbst von 2004 gegen die Hartz-IV-Gesetzgebung, an dem sich mehrere Hunderttausend Menschen beteiligt haben ebenso wie die zahlreichen Konflikte um Bildungsreformen ohne Einbindung von Schülern und Eltern und die Bildungsstreiks gegen die mit dem Namen Bologna verbundenen Hochschulreformen, bei denen die Studierenden außen vor blieben: Die Lehre, die aus diesen Beispielen zu ziehen ist, lautet: Große, tief greifende Reformen können heute ohne breite Beteiligung nicht gelingen - oder ihre Resultate sind so ungenügend, dass die Betroffenen mit massiven Protesten Korrekturen einfordern.
Für Beteiligung und Engagement brauchen Bürgerinnen und Bürger ein realistisches und attraktives Leitbild. Auch wenn die Zahl derer, die gefragt, beteiligt und engagiert sein wollen, deutlich zugenommen hat, sind es keineswegs alle, oft nicht einmal Mehrheiten, die sich für die Anforderungen aktiver Bürgerschaft erwärmen lassen. Selbst die Aktivsten wollen in der Regel nicht zu nimmermüden Partizipationsprofis werden, die sich bei allem und jedem einmischen. Gefragt sind Institutionen, die sich bei Bedarf - vor allem bei zentralen politischen Weichenstellungen - für Beteiligung öffnen und den "Stand-by-Bürger" als aktiven Demokraten willkommen heißen.
Für Beteiligung und Engagement brauchen Bürgerinnen und Bürger ein realistisches und attraktives Leitbild. Auch wenn die Zahl derer, die gefragt, beteiligt und engagiert sein wollen, deutlich zugenommen hat, sind es keineswegs alle, oft nicht einmal Mehrheiten, die sich für die Anforderungen aktiver Bürgerschaft erwärmen lassen. Selbst die Aktivsten wollen in der Regel nicht zu nimmermüden Partizipationsprofis werden, die sich bei allem und jedem einmischen. Gefragt sind Institutionen, die sich bei Bedarf - vor allem bei zentralen politischen Weichenstellungen - für Beteiligung öffnen und den "Stand-by-Bürger" als aktiven Demokraten willkommen heißen.