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Die Briten und die EU
"Der Brexit kommt mit großer Wahrscheinlichkeit"

In Großbritannien herrsche eine große Nervosität wegen des geplanten Austritts aus der EU, sagte die britische Journalistin Anne McElvoy im Dlf. Aber man könne nicht sagen, dass es sich die Bevölkerung noch mal überlegt habe. Das sei auch ein Problem für Premierministerin Theresa May.

Anne McElvoy im Gespräch mit Stefan Heinlein |
    Die britische Premierministerin Theresa May beim EU-Gipfel in Salzburg (20.9.2018).
    Die britische Premierministerin Theresa May (AP / Matthias Schrader)
    Stefan Heinlein: In der britischen Hauptstadt begrüße ich jetzt die Kollegin Anne McElvoy vom britischen Nachrichtenmagazin "The Economist". Good Morning! – Guten Morgen auf die Insel.
    Anne McElvoy: Good Morning! – Guten Morgen!
    Heinlein: Frau McElvoy, hat Theresa May einen Plan, oder ist sie die "Chaos Queen" des Brexit?
    McElvoy: Die "Chaos Queen" – sie ist die Überlebenskünstlerin zurzeit. Jede Woche kommen Schlagzeilen, die sagen, sie sitzt in der Todeszone, sie wird nicht mehr lange an der Macht sein. Aber sie schlägt sich durch, und das, muss man sagen, ist eine große Stärke von Theresa May.
    Ob sie einen Plan hat? Ja, sie hat einen Plan. Sie hat den sogenannten Chequers-Plan vorgelegt. Aber dieser Plan kommt nicht durch, hauptsächlich wegen der Irland-Frage. Das haben Sie ein bisschen besprochen mit Ihrem Korrespondenten. Aber sie hat auch ein großes Problem in der Partei - insofern, dass die Konservativen immer zwischen einem sehr starken euroskeptischen Flügel und vielleicht einem Flügel der Partei, die lieber einen Kompromiss hätten in dieser EU-Frage. Das ist immer sehr schwierig. Das ist ein Thema, das beschreibe ich jetzt seit 20 Jahren in der Partei. Mit dem Referendum, mit diesem Ergebnis und mit diesen 17 Millionen ist das jetzt ein sehr großes Problem für Theresa May geworden. Ich muss sagen, das wäre ein Problem, auch wenn es nicht Theresa May gegeben hätte.
    Britische Journalistin Anne McElvoy
    Britische Journalistin Anne McElvoy (The Economist)
    Heinlein: Ein großes Problem, sagen Sie, Frau McElvoy. Auf der einen Seite ist Theresa May tatsächlich zu nachgiebig gegenüber Brüssel. Auf der anderen Seite - Sie haben es beschrieben - zu hart, zu kompromisslos. Das ist ein Spagat. Kann Theresa May das auf Dauer bewältigen?
    McElvoy: Sie kann das nicht auf Dauer. Das geht ja nicht auf Dauer. Es muss sowieso bis Jahresende, spätestens bis Januar geklärt werden. Die Frage ist, ob Theresa May ein bisschen mehr nachgibt, indem sie sagt, okay, Irland ist wahnsinnig schwierig und mit viel Schmerz in der Geschichte verbunden, sie kann nicht einfach das machen, was Michel Barnier von ihr verlangt, dass sie diesen sogenannten Backstop nimmt und sagt, Nordirland ist mehr eine Funktion von der EU und das wird dann dadurch von Großbritannien, von dem Vereinigten Königreich gespalten. Das geht nicht, das kann kein Premierminister.
    Aber theoretisch könnte sie sagen, okay, ich habe das versucht, mein Chequers-Plan ist nicht durchgekommen, und sie könnte dann die EU ganz nett und freundlich darum bitten, dass sie vielleicht mehr in Richtung eines Norwegen-Modells geht. Aber das ist jetzt sehr spät und da kommt jetzt auch von meiner Seite Kritik. Da würde ich wirklich Kritik an ihr üben. Sie hat das nicht früh genug gemacht. Sie hat ein bisschen auf dieser Linie beharrt und sie glaubt nach wie vor, dass die EU da nachgibt. Das sehe ich nicht ein und ich glaube, sie muss entweder entscheiden, dass sie eine andere Richtung einschlägt, oder sie kann nur hoffen, dass sie in letzter Minute ein Jawort von der EU, sprich vor allem von Angela Merkel bekommt. Ich sehe da kein Zeichen aus Berlin, und Sie werden das vielleicht auch aus Ihrer Sicht erklären können, dass das kommt. Wir warten jetzt geraume Zeit und es sind jetzt wirklich nur die zwei Monate, bis das geklärt werden muss.
    "Große Wahrscheinlichkeit, dass der Brexit kommt"
    Heinlein: Frau McElvoy, geben Sie uns einen Einblick in die britische Seelenlage. Wie nervös ist man denn bei Ihnen auf der Insel in Großbritannien, dass der "Final Countdown" jetzt tickt, aber nicht so richtig vorangeht?
    McElvoy: Ich würde sagen, es herrscht eine große Nervosität, sei es in Geschäftskreisen oder sei es in der Bevölkerung, dass keiner weiß, wo es langgeht nach März nächstes Jahr, wenn Großbritannien aus der EU heraustreten wird, und ich würde sagen, mit großer Wahrscheinlichkeit heraustreten wird. Es ist immer sehr leicht, wenn man zum Beispiel einen Protestmarsch, einen Protestzug macht, wie man am vorletzten Samstag gesehen hat, zu sagen, das wird vielleicht nicht passieren. Aber die große Wahrscheinlichkeit ist, dass es kommt, dass der Brexit kommt, und man muss sich auf ihn einstellen.
    Aber ich glaube, wenn Sie von Nervosität sprechen, es gibt natürlich auch diese 17 Millionen Mitbürger, die für den Brexit gestimmt haben. Die werden manchmal ein bisschen so behandelt, als ob sie das Problem wären. Aber das ist mehr als die Hälfte der Wähler, die an diesem Tag für den Brexit gewählt haben, und für die ist es eine Nervosität in die andere Richtung. Es gibt kein großes Zeichen, dass die ihre Meinung geändert haben, und das ist auch ein weiterer Grund, warum es einen Spagat für die Regierung gibt und warum wir in diesem Stillstand sind. Man kann nicht sagen, dass die Bevölkerung noch mal überlegt hat. Das ist ein Kern der Sache für Theresa May und auch ein Grund, warum wir nicht viel schneller vorangekommen sind.
    Heinlein: Frau McElvoy, diese 17 Millionen Wähler, die für den Brexit gestimmt haben, sind da bereits viele Träume geplatzt, jetzt nach diesen zähen Verhandlungen, oder haben diese 17 Millionen immer noch die Illusion, dass alles besser werden wird nach dem März 2019?
    McElvoy: Wir wissen nicht, ob es eine Illusion ist. Die 17 Millionen denken natürlich nicht alle gleich. Aber bei ihnen herrscht die Vorstellung, wenn man sich von der EU befreit, dann kann Großbritannien allein verschiedene Handelsabkommen mit anderen Ländern schließen, sie kriegen dadurch vielleicht eine neue Energie vor allem in die Volkswirtschaft. Natürlich ist es so, um das einmal auszusprechen, das ist vielleicht eine Vorstellung, die nicht sofort, wenn überhaupt realisierbar ist.
    "Insel schreiben immer deutsche Korrespondenten, wenn sie nicht besonders nett zu uns sind"
    Heinlein: Ist der Eindruck, Frau McElvoy, völlig falsch hier in Europa - den Eindruck haben viele auch in Deutschland -, dass die Europäische Union, dass das europäische Projekt insgesamt nie wirklich eine Herzensangelegenheit für die Mehrheit der Briten war?
    McElvoy: Ja, dem stimme ich zu. Das, glaube ich, ist der Fall, und das sage ich als jemand, die aus einem Teil von Großbritannien im Norden kommt, wo viele für den Brexit gestimmt haben. Aber ich war auch längere Zeit in Deutschland und ich glaube, die Mentalität, die Psychologie der EU gegenüber ist eine ganz andere. Es gibt natürlich sehr gute, sehr feste historische Grundlagen, wenn man dieses furchtbare 20. Jahrhundert in Europa sich anschaut und die Rolle, die die EU gespielt hat nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist, glaube ich, in Deutschland und in Frankreich, sozusagen im Main-Land Europas, oder, wie wir sagen, im Kontinentaleuropa, als ob wir nicht selber Europäer wären - wir sind das -, das ist natürlich eine ganz andere Lage. Es ist geographisch eine andere Lage.
    Oder man kann auch sagen, die böse Presse ist daran schuld, die sind nicht nett genug zur EU, die hat uns viel gebracht, und das stimmt auch. Aber in der Bevölkerung war immer, glaube ich, ein bisschen die Meinung, die EU ist 50 Prozent gut, 50 Prozent nicht so gut, und die Probleme, die man innerhalb der EU jetzt hat, das hat dieses Gefühl bestärkt, dass die EU vielleicht nicht so tauglich ist, nicht für alle Probleme, die wir jetzt im 21. Jahrhundert sehen und vor uns haben, dass das vielleicht nicht eine Antwort ist. Man muss natürlich auch sagen, dass es eine Hälfte der Wähler gibt, die das nicht so sehen und die lieber geblieben wären. Das Land ist gespalten, mit oder ohne Presse.
    Heinlein: Frau McElvoy, sind den Briten Schlagbäume und Grenzen zu Europa ab März 2019 - dann wird es sie ja wieder geben - eigentlich egal, weil man ohnehin auf einer Insel lebt, getrennt durch den Ärmelkanal? Ist das ein großer Unterschied zu uns Kontinentaleuropäern?
    McElvoy: Ja, das kann sein. Insel schreiben immer deutsche Korrespondenten, wenn sie nicht besonders nett zu uns sind.
    Heinlein: Ist ja nicht ganz falsch.
    McElvoy: Wobei es gibt auch andere Inseln in Europa. Daran kann es wohl nicht liegen. Es liegt irgendwie ein bisschen daran: Wir sind ein bisschen anders. Insel spielt eine Rolle. Die Insel von Irland ist schon wieder ein Thema. Geographische Lage, Geschichte, vielleicht mehr eine Anlehnung an ein atlantisches Bild und ein bisschen an diese Orientierung, die auch nicht problemlos ist heutzutage. Und ich füge hinzu: Diese Verhandlungen sind ja wirklich so schleppend gelaufen. Gäbe es einen anderen Präsidenten im Weißen Haus und nicht den unberechenbaren Donald Trump, dann kann es sehr gut sein, dass es ein bisschen ein anderer Brexit gewesen wäre, weil viele Briten orientieren sich vielleicht mehr nach Amerika, als sie es nach Europa tun. In diesem Fall ist es besonders kompliziert, weil Europa hat große Probleme, Migration, Eurozone und so weiter, aber Amerika hat wirklich ein sehr großes Problem in Donald Trump.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen die britische Journalistin Anne McElvoy vom Nachrichtenmagazin "The Economist". Vielen Dank, Frau McElvoy, für Ihre Zeit und auf Wiederhören nach London.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.