Musik: "Dillydally"
Eine Knoblauchzehe, 300ml Fischbrühe, eine halbe kleine Zwiebel, 200g Lachspüree aus der Dose und Gelatine. Dazu noch Krabben und Zitronenscheiben als Dekoration, fertig ist das Lachsmousse. Wenn das Ganze dann noch in Form einer Ananas serviert wird, passt es perfekt zu einer 70er-Jahre-Dinnerparty. Heute ist solch merkwürdig angerichtetes Essen nicht mehr so en vogue, vom gelegentlichen Mettigel mal abgesehen. Aber der Twitter-Account "70s Dinner Party" lässt die charakteristische Ästhetik mit viel eingefärbtem Gelee und in Blumenform geschnittenen Tomaten wiederauferstehen. Diesen Account hat auch Nadine Shah entdeckt und ihn als optische Inspiration für ihr neues Album genutzt.
"Ich wollte diese Ästhetik für meine Videos und das Artwork. Sie ist sehr stimulierend, aber auch echt seltsam – es sieht aus wie eine Ananas, aber es schmeckt nach Fisch! Auf dem Album geht es um häusliche Themen, vor allem solche, die Frauen betreffen wie Familienleben, die Kontrolle des weiblichen Körpers, Sexismus. Das sind ernste Themen, auch wenn ich Witze darüber mache. Die Optik sollte bunt und lebendig sein, wie bei diesem Twitter-Account."
Musik: "Kitchen Sink"
Nadine Petra Katarina Shah wird 1986 in Whitburn geboren, einem kleinen Küstenort im Nordosten Englands. Ihre Mutter hat norwegische Vorfahren, ihr Vater kommt aus Pakistan. Zu Hause singt er Ghasels, Lieder voller Liebe und Leidenschaft auf Urdu, der pakistanischen Nationalsprache. Aber Shah hört lieber Whitney Houston und Nina Simone. Mit 17 zieht sie nach London, studiert Kunst und hängt abends im Pizza Express Jazz Club in Soho ab. Dort macht sie auch erste Bühnenerfahrung, bekommt wertvolle Tipps von den altgedienten Jazzheads und lernt ihren späteren Manager kennen. Mit einer handvoll eigener Songs macht sie sich auf die Reise durch unzählige Londoner Clubs, in einem davon trifft sie den Produzenten Ben Hillier. Der hat schon mit Bands wie Depeche Mode und Blur zusammengearbeitet. Gemeinsam nehmen sie Nadines erste EP "Aching Bones" auf, ein brodelndes Gemisch aus düsterer Instrumentierung und dramatischen Gesangsgesten.
Musik: "To Be a Young Man"
Dunkelrote Gothic-Musik
Die emotionale Rohheit der Songs stößt weitgehend auf positives Echo. Motiviert von der Reaktion nimmt Nadine Shah mit Ben Hillier gleich noch ihr Debütalbum auf: "Love your dum and mad" erscheint im Juli 2013. In den klaustrophobisch-dunklen Songs geht es um die unschönen, zerstörerischen Seiten der Liebe und unerfüllte Träume. Ihre dunkelrot gefärbte Gothic-Musik mit knallharten Gitarren, schrillem Klavier und martialischem Schlagzeug bringt ihr Vergleiche mit Nick Cave und PJ Harvey ein.
Musik: "Aching Bones"
Ihr zweites Album "Fast Food" erscheint 2015. Die Themen sind weniger düster, aber weiterhin sehr persönlich. Shah blickt zurück auf vergangene Beziehungen bzw. auf, wie sie es ausdrückt, die Wirrungen ihres "rubbish love life".
Musik: "Fool"
Mit "Fast Food" spielt Shah unter anderem in Deutschland im Vorprogramm von Depeche Mode. Ob das ihr musikalischer Partner Ben Hillier eingefädelt hat, der ja auch schon mit den Synthie-Superstars im Studio war, ist nicht überliefert. Shah und Hillier erarbeiten die Musik gemeinsam, sind dabei aber nicht immer einer Meinung.
"Er ist ein musikalisches Genie! Ben Hillier beim Arbeiten zuzuschauen ist wie einen Wissenschaftler im Labor zu beobachten. Wir haben zum Beispiel eine Idee für ein Gitarrenriff oder so und dann lässt er es durch Synthies und Verzerrer und alles mögliche laufen, sodass ich denke: Na toll, er hat es ruiniert! Und am Ende klingt es doch großartig und ich frage mich: wie hat er das gemacht?"
Musik: "Stealing Cars"
Musik: "Out The Way"
Musik: "Out The Way"
Wo soll ich hingehen?
Sie hören den Deutschlandfunk, "Rock et cetera" mit einem Porträt der britischen Sängerin Nadine Shah. Das gerade war der Song "Out the way", der auf ihrem dritten Album "Holiday Destination" erschienen ist. Hohle Gitarren, ein vorweg marschierendes Schlagzeug und unangenehm knarzende Bläser untermalen ihren angriffslustigen Gesang: Where would you have me go? - Wo soll ich hingehen?
"Mein Vater ist aus Pakistan, ich war deshalb mit einigen hässlichen Dingen konfrontiert, die man über mich und meine Familie gesagt hat. Zum Beispiel, dass ich dahin zurückgehen sollte, wo ich herkomme. Nun, ich komme aus England. Darum geht es in dem Song "Out the way". Rassismus hat es schon immer gegeben, aber ich habe den Eindruck, dass die Leute sich in letzter Zeit ermutigt fühlen und denken, dass es ok ist, solche Dinge laut zu sagen."
Die 34-Jährige thematisiert aber nicht nur den um sich greifenden Nationalismus und Rassismus in Großbritannien nach dem Brexit-Referendum. In atmosphärisch dichten Songs zwischen Wavepop-Düsternis und Postpunk-Kante schaut sie auch auf die Situation von Geflüchteten, beklagt mangelnde Empathie und das Los von Minenarbeitern unter Margaret Thatcher.
"Die Bergbauindustrie war extrem wichtig für den Nordosten Englands. Als unter Thatcher viele Minen dicht machen mussten, hatte das erhebliche negative Konsequenzen für die Region. Die Minenarbeiter wurden außerdem sehr schlecht behandelt. In dem Song "Yes men" geht es um die Regierung und wie sie vor allem der Arbeiterklasse immer wieder Lügen auftischt. Das ist so oft passiert. Der Song ist ein Aufruf, sich dagegen zu wehren."
Musik: "Yes Men"
Auch auf ihrem neuen vierten Album "Kitchen Sink" nimmt sich Shah wieder unbequeme Themen vor. Sie schlüpft in verschiedene Rollen und schaut mit schwarzem Humor auf traditionelle Rollenverteilung, Sexismus und Geschlechterklischees. Musikalisch haben sie und Ben Hillier sich von den Talking Heads inspirieren lassen und der überschwänglich bunten Sesamstraßen-Atmosphäre.
"Mein und Bens Lieblingsalbum von den Talking Heads ist "Naked" und es ist ziemlich selten, dass jemand dieses Album mag. Aber wir haben einen sehr ähnlichen Musikgeschmack. Die andere Inspiration war die Sesamstraße. Denn in den Texten verhandele ich zwar ernste Themen, aber ich ziehe sie auch ins Lächerliche. Und ich wollte, dass die Musik das aufgreift, dass sie verspielt ist und ein bisschen bombastisch, wie die Sesamstraße."
Im ersten Song "Club Cougar" wird mit Bass, indischen Tablas, einem pompösen Saxofon, Pfiffen und Geheul eine synthetisch-schwülwarme Anmach-Szenerie erschaffen oder besser gesagt: durch den Kakao gezogen. Damit macht sich Shah darüber lustig, dass Frauen, die deutlich jüngere Männer daten, immer noch als Cougar, also Puma oder Silberlöwe, bezeichnet werden.
"Eine meiner Mitschülerinnen hatte einen Freund in der Stufe unter uns, sie war 15, er 14. Und schon damals haben die Leute sie Cougar genannt oder Cradle-Snatcher, also Wiegendieb, oder Mrs. Robinson. Für Frauen, die einen jüngeren Mann daten gibt es alle möglichen abfälligen Bezeichnungen. Neulich habe ich überlegt, was das Äquivalent für Männer ist, die eine jüngerer Frau daten. Und eine Freundin meinte dazu: ungefähr jeder Filmstar?!"
Musik: "Club Cougar"
Ihr Song "Ladies for Babies (Goats for Love)" ist eine Antwort auf den Hit "All that she wants" der schwedischen Popgruppe Ace of Base. "All that she wants" ist Teil von Shahs "Sexist Playlist", einer Sammlung von Songs mit zumindest fragwürdigen Texten, auf der sich, nicht überraschend, einige Klassiker wiederfinden. Wenn man die 34-Jährige darauf anspricht, redet sie sich fast ein bisschen in Rage.
"Es gibt so viele Songs, die ich als Kind gehört und mitgesungen habe und keine Ahnung hatte, was ich da singe. Zum Beispiel Andy Williams "Music to watch girls by" - echt gruselig, fuck off! Oder "Wives and Lovers" von Burt Bacharach und "Young girl" von Gary Pucket & the Union Gap. Darin warnt er das viel zu junge Mädchen wegzulaufen - what the fuck? Und es gibt einfach unfassbar viele von diesen Songs. "Baby it's cold outside" ist auch so einer, fürchterlich! Also musikalisch sind sie meistens super, aber ihre Message ist einfach abstoßend und veraltet. Darauf wollte ich mal hinweisen."
Nadine Shah setzt sich nicht nur in ihrer Musik für eine gerechtere, offenere Welt und die Rechte von Frauen und Minderheiten ein. Sie plant eine Initiative, die ältere Künstlerinnen dabei unterstützen soll, in die Musikindustrie zurückzukehren. Denn, so sagt sie, es gibt schon viele Aktionen für junge Frauen und Mädchen, aber aktive ältere Musikerinnen kann man an zwei Händen abzählen. Sie möchte das ändern und mehr Sichtbarkeit schaffen. Egal welches Thema sich die Britin vornimmt, ob nun in Form eines Songs oder anderweitig, man bekommt immer das Gefühl sie hat das Herz am rechten Fleck, den Kopf voller guter Ideen und den nächsten Spruch schon auf den Lippen. Hoffen wir, dass es so kommt wie sie es sich wünscht: Musik zu machen, bis man sie im Rollstuhl von der Bühne schieben muss.
Musik: "Ladies for Babies (Goats for Love)"