Christoph Heinemann: Haushaltswoche im Deutschen Bundestag. Das ist das Hochamt des Parlamentarismus. Das hat diesmal offenbar Spaß gemacht, jedenfalls der Kanzlerin. Hören wir mal!
O-Ton Angela Merkel: Meine Damen und Herren, wenn es so weitergeht, werden die Grünen für Weihnachten sein, aber gegen die davorgeschaltete Adventszeit. – Meine Damen und Herren, so geht es nicht!
Heinemann: Das war das eine, was auffiel. Angela Merkel schoss sich vor allem auf die Grünen ein. Kein Wunder: die haben in einigen Umfragen die Nase vor der SPD. – Das andere: Angela Merkels Behandlung des eigentlichen Oppositionsführers.
O-Ton Angela Merkel: Lieber Herr Steinmeier, lieber Herr Steinmeier, nach Ihrer Rede habe ich nur ein einziges Bedürfnis: endlich eine Rede über die Zukunft Deutschlands zu halten.
Heinemann: Viel Zukunft, so der Tenor der Presse, hatte Frank-Walter Steinmeier nicht geliefert. Und ein Weiteres blieb nicht unbeobachtet: Während der Rede des SPD-Fraktionschefs saß der SPD-Parteichef plaudernd in einer hinteren Reihe und kam erst nach der Rede nach vorn, um dem Redner auf die Schultern zu klopfen. Unterdessen berichten "Spiegel Online" und mehrere Zeitungen heute über ein Papier aus dem rechten SPD-Flügel, in dem die Parteispitze scharf attackiert wird, Überschrift "Mut zur Sozialdemokratie". Die SPD befinde sich in einer Identitätskrise, die SPD sei unkenntlich, schreibt Parteifreund Garrelt Duin, und ebenfalls aus der Seeheimer Kreis-Klasse stammt das Lamento des Johannes Kahrs, der meint, dass Willy Brandt-Haus bliebe unter seinen Möglichkeiten, und das ist dann schon ein klarer Angriff auf den Hausherrn, über den "Spiegel Online" schreibt: "Die Debatte über den künftigen Kurs in der SPD ist eröffnet. Nur einer schweigt dazu bislang: der Parteichef Sigmar Gabriel." Aber nicht mehr lange! Guten Morgen, Herr Gabriel!
Sigmar Gabriel: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
Heinemann: Identitätskrise, unkenntlich, Herr Gabriel. Die "Frankfurter Rundschau" berichtet, Sie seien richtig sauer gewesen. Lassen Sie uns teilhaben an diesem Gemütszustand.
Gabriel: Kann ich leider nicht, weil ich darüber nicht sauer bin, sondern dass eine Partei ein Jahr in der Opposition dann auch mal anfangen muss, über ihre Zukunft zu reden, das ist natürlich richtig und auch gut so. Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass die Debatte beginnt über die zukünftige Ausrichtung der SPD, und das kann nicht nur die Aufgabe des Vorsitzenden sein, dann ist es eine One-Man-Show. Also ich finde, dass es bei uns eine ganz muntere Diskussion gibt, ist eigentlich ganz gut.
Heinemann: ... die man auch öffentlich führen sollte?
Gabriel: Ich meine, wir sind eine offene Gesellschaft. Wer glaubt, dass solche Diskussionen hinter verschlossenen Türen stattfinden, der hat natürlich auch eine Illusion. Das ist auch in Ordnung. Ich meine, der Hauptunterschied zur Kanzlerin ist zum Beispiel, dass ich der Überzeugung bin, wenn man 60 Milliarden Euro mehr Steuern einnimmt, dann muss man 60 Milliarden Euro weniger Schulden machen und nicht eine Kriegskasse anlegen für zukünftige Steuersenkungen, und dann muss man eben auch der SPD sagen, auch für uns heißt das, dass wir nicht ein wünsch-dir-was-Papier und –Katalog aufschreiben können, was wir alles ausgeben wollen, sondern auch wir müssen sagen, 60 Milliarden mehr heißt 60 Milliarden weniger Schulden, weil das eines der zentralen Themen ist in Deutschland. Wir müssen auch bei uns in unseren Haushalten sparen, weil wir mehr Geld für Bildung ausgeben müssen, mehr Geld für Integrationsaufgaben. Das sind Themen, die, finde ich, in Deutschland wichtig sind, aber die beantwortet die Politik insgesamt zurzeit nicht. Und der größte Unterschied wie gesagt zur Regierung ist, dass wir der Überzeugung sind, Schulden machen auf Kosten zukünftiger Generationen ist falsch, und das war auch die Debatte zum Haushalt.
Heinemann: Wer sagt das Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen?
Gabriel: Das hat Herr Steinmeier gesagt, das sage ich, das sagen wir alle.
Heinemann: Nur in Nordrhein-Westfalen werden fleißig weiter Schulden gemacht.
Gabriel: Na ja, Frau Kraft hat noch nichts anderes gemacht, als den Haushalt von Herrn Rüttgers offengelegt. Die Schulden, die da gemacht worden sind, sind ja nicht von Frau Kraft gemacht worden, die ist gerade ein paar Monate im Amt, sondern sie hat offengelegt, welche riesigen Defizite die CDU und Herr Rüttgers vorm Wahlkampf da verschwiegen haben.
Heinemann: Dann schauen wir mal, was im Haushalt 2011 in Nordrhein-Westfalen stehen wird. – CDU und Grüne bestimmen die politische Diskussion, die SPD ist und wird nicht gefragt. Noch so ein Satz aus Herrn Duins Feder. Stimmt nicht ganz, seien Sie froh, dass es den Deutschlandfunk gibt. Aber es fällt doch schon auf: Gorleben, "Stuttgart 21" ...
Gabriel: Das finde ich auch!
Heinemann: Danke! – Gorleben, "Stuttgart 21", die Straßen sind grün oder schwarz. Nur wo bleibt die SPD?
Gabriel: Das sind zwei Themen, bei denen die Grünen klassische Themen für sich haben. Sie sind die Anti-Atom-Partei, die Sozialdemokratie ist mit ihnen gemeinsam aus der Atomenergie ausgestiegen, wir finden das Thema genauso wichtig. Aber es ist der Gründungsmythos der Grünen, der da eine große Rolle spielt. Und beim Thema "Stuttgart 21", da geht es um was ganz einfaches: Wir können nicht einfach so tun, als sei das Problem auf der Straße wegzudiskutieren und wegzudemonstrieren. Wir brauchen solche Infrastrukturprojekte, aber wir können sie auch nicht wie die CDU mit dem Polizeiknüppel durchsetzen, sondern sagen, lasst uns diese Argumente, wie das bei Heiner Geißler passiert, austauschen und dann müssen die Bürgerinnen und Bürger selber entscheiden, was sie wollen. Das ist eine Position, die ist nicht schwarz oder weiß, und diejenigen, die mit schwarz oder weiß in der Politik operieren, die haben es manchmal einfacher, aber auf mittlere Sicht, bin ich ziemlich sicher, setzen sich in der Politik immer die durch, die ziemlich nah an der Realität argumentieren und nicht so tun, als ob die Welt aus Schwarz oder Weiß, ja oder nein besteht.
Heinemann: Wieso lässt die SPD nach der Linkspartei nun bereits den zweiten Konkurrenten hochkommen?
Gabriel: Nun muss ich Ihnen mal ein bisschen was zu der Debatte in Deutschland sagen. Wenn Sie nach Hamburg sehen, wenn wir nach Hamburg gucken, dort regieren die Grünen, da sind sie nur bei 10 Prozent, die SPD bei über 40 Prozent. Im Saarland, wo die Grünen mit der CDU gemeinsam und der FDP regieren, ist die SPD inzwischen in allen Umfragen stärkste Partei. In Schleswig-Holstein ist das so. In Nordrhein-Westfalen haben wir gerade mit Hannelore Kraft eine neue sozialdemokratische Ministerpräsidentin gewonnen. Von daher muss ich sagen, ein Jahr zurückblickend, nach der Bundestagswahl hätte uns doch diese, sagen wir, Wahl- und Umfrageergebnisse niemand zugetraut. Deswegen sage ich, wir sind, finde ich, in einer guten Situation, 12 Monate nach der letzten Bundestagswahl, aber die ist natürlich nicht gut genug. Und wer glaubt, dass man in 12 Monaten alles Vertrauen zurückgewinnen kann, was eben Menschen auch auf einer Regierungsstrecke gegenüber Regierungsparteien verlieren, der hat natürlich auch eine Illusion.
Heinemann: Warum sind die Grünen so stark?
Gabriel: Die Grünen sind die Projektionsfläche, die die FDP 2009 gewesen ist. Sie sind nicht belastet von Regierungen, sie mussten nicht schwierige Entscheidungen treffen. Dort wo sie in der Regierung sind, sind sie auch nicht stark, da sind sie sogar außerordentlich schwach. Und von daher muss ich sagen, ich bin ganz froh, dass die Grünen die Projektionsfläche sind und nicht mehr die FDP, weil natürlich die Grünen in vielen Feldern Schnittpunkte zu uns haben, allerdings in vielen Feldern auch nicht. Wir wissen sehr genau, dass wir in Deutschland eine starke Industrie brauchen, damit wir auch ein starkes wirtschaftliches Land brauchen. Die Grünen konzentrieren sich nur auf einen kleinen Teil, auf das Thema green economy. Wir wissen, dass wir nicht einfach Energiepreise explodieren lassen können, weil es viele Menschen gibt, die die nicht bezahlen können. Und es gibt eine ganze Reihe von Themen, die uns stark unterscheiden, vor allen Dingen im sozialen Bereich, aber sie sind eine Projektionsfläche, weil sie lange Zeit im Bund nicht haben regieren müssen. In der Sekunde, wo sie zu Entscheidungen gezwungen sind – das sehen Sie in Hamburg und im Saarland -, da reduzieren sich die Wahlergebnisse schon ganz drastisch.
Heinemann: Was heißt das für künftige SPD-Wahlkämpfe? Allein gegen alle?
Gabriel: Nein. Die SPD muss das tun, was sie immer getan hat: eine eigenständige Position einnehmen, eine eigenständige Politik. Bei uns steht im Mittelpunkt das Thema Arbeit, Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Das ist verloren gegangen. Viele Leute haben, obwohl sie arbeiten gehen, nicht ausreichend Lohn, müssen zum Staat und sich noch Sozialhilfe holen. Oder junge Leute fangen trotz guter Berufsausbildung in ganz schlechten Beschäftigungsverhältnissen an. Es geht um Gesundheit und Pflege und es geht übrigens auch immer wieder um staatliche Finanzen. So wie das bislang gelaufen ist, dass wir trotz wirtschaftlichen Aufschwungs dann immer wieder neue Schulden machen, das geht nicht. Peer Steinbrück als Finanzminister der SPD hat übrigens gezeigt, dass man es auch anders machen kann. Und ich finde, das sind unsere Themen und die müssen wir im Mittelpunkt haben, müssen uns nicht mit anderen Parteien beschäftigen, sondern ich glaube, die eigentliche Zielgruppe der Sozialdemokraten sind die, die sich in den letzten Jahren ganz aus der Politik verabschiedet haben, die überhaupt nicht mehr wählen gehen, die nichts mehr von der Politik erwarten, die glauben, die da oben verstehen unseren Alltag sowieso nicht. Die wieder für die Demokratie und die Beteiligung zu interessieren, indem man ihre Themen aufgreift – das hat eben viel mit dem Arbeitsalltag zu tun, oder mit fehlender sozialer Sicherheit, mit schlechten Städten, die kein Geld mehr haben und die Schwimmbäder schließen müssen, die Theater, die Volkshochschulen -, das ist die Zielgruppe der SPD, und ich glaube, damit werden wir auch gut und erfolgreich durchs Jahr 2011 kommen.
Heinemann: Sie haben ein Thema genannt: Arbeitslosigkeit. Nur könnte Ihnen das zwischen den Fingern zerbröseln, denn die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn auch aus traurigem Anlass, nämlich der katastrophalen demografischen Entwicklung dieses Landes. Die Wirtschaft brummt, Arbeitskräfte werden sich die Jobs künftig mittelfristig zumindest aussuchen können.
Gabriel: Na ja, wir erleben ja gerade das Gegenteil. Wir erleben ja, dass die Jobs, die geschaffen werden, Leiharbeitsjobs sind, befristete Beschäftigung, nicht vernünftig bezahlt. Worum es bei sinkender Arbeitslosigkeit, über die man sich übrigens freuen muss – also es ist nicht so, dass man sagen darf als Opposition, schade, dass die Arbeitslosigkeit sinkt, zumal die Entscheidungen, die wir in der Großen Koalition getroffen haben, Abwrackprämie, Konjunkturprogramme, die haben natürlich ganz wesentlich dazu beigetragen und die sind (daran darf ein Sozialdemokrat schon mal erinnern) immer gegen die FDP, gegen die Grünen, häufig sogar gegen die CDU durchgesetzt worden. Von daher, finde ich, müssen wir uns darüber freuen, aber wir müssen schon dafür sorgen, dass der Aufschwung auch für alle stattfindet und nicht nur für wenige. Und dass die Arbeitslosigkeit sinkt und gleichzeitig die Zahl der Langzeitarbeitslosen drastisch sinkt, dass ältere Arbeitnehmer in steigendem Maße keinen Job finden, dass Leih- und Zeitarbeit zunehmen, dass befristete Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, das ist kein Zeichen dafür, dass der Aufschwung für alle da ist, und dafür müssen Sozialdemokraten eintreten.
Heinemann: Noch mal zurück in den Deutschen Bundestag, Herr Gabriel. Wo sollte der Parteichef sitzen, wenn sich der eigene parlamentarische Frontmann am politischen Gegner abarbeitet?
Gabriel: Ich finde das ja super, dass jetzt schon Kaffeesatzlesen über die Frage existiert, wo ich sitze. So viel Aufmerksamkeit hätte ich mir früher mal gewünscht.
Heinemann: So ist der Deutschlandfunk!
Gabriel: Ein fairer Sender. – Wenn man fünf Minuten zu spät kommt, weil man im Berliner Verkehr stecken geblieben ist, dann geht man nicht nach vorne und scheucht den Kollegen auf, der auf dem eigenen Platz sitzt, sondern dann setzt man sich brav in die vorletzte Reihe und wartet, bis Zeit ist, um nach vorne zu gehen. Das ist ein Akt der Höflichkeit. Ich vermute, auch das wäre im Deutschlandfunk so.
Heinemann: Man redet aber nicht während der Rede des Fraktionsvorsitzenden mit seinem Nachbarn.
Gabriel: Doch. Wenn man der früheren Justizministerin sagt, dass da vorne eine gute Rede gehalten wird, dann darf man das auch machen.
Heinemann: Na prima! – Herr Gabriel, aus der Ölkatastrophenbekämpfung kennt man das System oder die Methode Top Kill. Das heißt, eine sprudelnde Quelle wird von oben zubetoniert. Droht den Herren Duin und Kahrs jetzt Top Kill?
Gabriel: Um Gottes willen! Ich kann noch mal sagen: Ich finde eine solche Diskussion, 12 Monate nach einer schweren Wahlniederlage zur Bundestagswahl, richtig und gut. Die SPD – das ist in jeder Partei so – muss am Anfang nach einer solchen Wahlniederlage sich mit der Frage beschäftigen, was haben wir falsch gemacht. Es kann ja nicht sein, dass man so tut, als hätte man die Wahl nur verloren, weil die Wähler einen nicht verstanden haben, sondern da wird man auch was falsch gemacht haben. Und nach 10, 12 Monaten muss damit auch Schluss sein, dann muss man über die Frage reden, was wollen wir in Zukunft tun. Das haben die beiden begonnen, das ist auch in Ordnung, und ich glaube, dass das noch andere ebenfalls tun müssen, und tun werden.
Heinemann: Haben die beiden auch richtige Antworten geliefert?
Gabriel: Sie haben erst mal Fragen gestellt, und das ist auch in Ordnung so. Am Anfang steht die Frage, was wollen wir miteinander machen und in welche Richtung wollen wir gehen. Die Antworten müssen wir schon miteinander gemeinsam finden.
Heinemann: Aber wenn da steht "Mut zur Sozialdemokratie", ist das nicht gerade ein Lob für den Parteivorsitzenden.
Gabriel: Jetzt können Sie noch dreimal versuchen, das zum Problem in der Debatte zu nominieren.
Heinemann: Das schaffen wir zeitlich nicht mehr.
Gabriel: Okay! Dann können wir es ja auch gleich sein lassen.
Heinemann: Das hängt von Ihnen ab. - ... sagt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel um 7:28 Uhr, zwei Minuten vor halb acht, im Deutschlandfunk. Danke schön übrigens ins Auto.
Gabriel: Bitte! – Tschüss!
Heinemann: Tschüss!
O-Ton Angela Merkel: Meine Damen und Herren, wenn es so weitergeht, werden die Grünen für Weihnachten sein, aber gegen die davorgeschaltete Adventszeit. – Meine Damen und Herren, so geht es nicht!
Heinemann: Das war das eine, was auffiel. Angela Merkel schoss sich vor allem auf die Grünen ein. Kein Wunder: die haben in einigen Umfragen die Nase vor der SPD. – Das andere: Angela Merkels Behandlung des eigentlichen Oppositionsführers.
O-Ton Angela Merkel: Lieber Herr Steinmeier, lieber Herr Steinmeier, nach Ihrer Rede habe ich nur ein einziges Bedürfnis: endlich eine Rede über die Zukunft Deutschlands zu halten.
Heinemann: Viel Zukunft, so der Tenor der Presse, hatte Frank-Walter Steinmeier nicht geliefert. Und ein Weiteres blieb nicht unbeobachtet: Während der Rede des SPD-Fraktionschefs saß der SPD-Parteichef plaudernd in einer hinteren Reihe und kam erst nach der Rede nach vorn, um dem Redner auf die Schultern zu klopfen. Unterdessen berichten "Spiegel Online" und mehrere Zeitungen heute über ein Papier aus dem rechten SPD-Flügel, in dem die Parteispitze scharf attackiert wird, Überschrift "Mut zur Sozialdemokratie". Die SPD befinde sich in einer Identitätskrise, die SPD sei unkenntlich, schreibt Parteifreund Garrelt Duin, und ebenfalls aus der Seeheimer Kreis-Klasse stammt das Lamento des Johannes Kahrs, der meint, dass Willy Brandt-Haus bliebe unter seinen Möglichkeiten, und das ist dann schon ein klarer Angriff auf den Hausherrn, über den "Spiegel Online" schreibt: "Die Debatte über den künftigen Kurs in der SPD ist eröffnet. Nur einer schweigt dazu bislang: der Parteichef Sigmar Gabriel." Aber nicht mehr lange! Guten Morgen, Herr Gabriel!
Sigmar Gabriel: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
Heinemann: Identitätskrise, unkenntlich, Herr Gabriel. Die "Frankfurter Rundschau" berichtet, Sie seien richtig sauer gewesen. Lassen Sie uns teilhaben an diesem Gemütszustand.
Gabriel: Kann ich leider nicht, weil ich darüber nicht sauer bin, sondern dass eine Partei ein Jahr in der Opposition dann auch mal anfangen muss, über ihre Zukunft zu reden, das ist natürlich richtig und auch gut so. Ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass die Debatte beginnt über die zukünftige Ausrichtung der SPD, und das kann nicht nur die Aufgabe des Vorsitzenden sein, dann ist es eine One-Man-Show. Also ich finde, dass es bei uns eine ganz muntere Diskussion gibt, ist eigentlich ganz gut.
Heinemann: ... die man auch öffentlich führen sollte?
Gabriel: Ich meine, wir sind eine offene Gesellschaft. Wer glaubt, dass solche Diskussionen hinter verschlossenen Türen stattfinden, der hat natürlich auch eine Illusion. Das ist auch in Ordnung. Ich meine, der Hauptunterschied zur Kanzlerin ist zum Beispiel, dass ich der Überzeugung bin, wenn man 60 Milliarden Euro mehr Steuern einnimmt, dann muss man 60 Milliarden Euro weniger Schulden machen und nicht eine Kriegskasse anlegen für zukünftige Steuersenkungen, und dann muss man eben auch der SPD sagen, auch für uns heißt das, dass wir nicht ein wünsch-dir-was-Papier und –Katalog aufschreiben können, was wir alles ausgeben wollen, sondern auch wir müssen sagen, 60 Milliarden mehr heißt 60 Milliarden weniger Schulden, weil das eines der zentralen Themen ist in Deutschland. Wir müssen auch bei uns in unseren Haushalten sparen, weil wir mehr Geld für Bildung ausgeben müssen, mehr Geld für Integrationsaufgaben. Das sind Themen, die, finde ich, in Deutschland wichtig sind, aber die beantwortet die Politik insgesamt zurzeit nicht. Und der größte Unterschied wie gesagt zur Regierung ist, dass wir der Überzeugung sind, Schulden machen auf Kosten zukünftiger Generationen ist falsch, und das war auch die Debatte zum Haushalt.
Heinemann: Wer sagt das Frau Kraft in Nordrhein-Westfalen?
Gabriel: Das hat Herr Steinmeier gesagt, das sage ich, das sagen wir alle.
Heinemann: Nur in Nordrhein-Westfalen werden fleißig weiter Schulden gemacht.
Gabriel: Na ja, Frau Kraft hat noch nichts anderes gemacht, als den Haushalt von Herrn Rüttgers offengelegt. Die Schulden, die da gemacht worden sind, sind ja nicht von Frau Kraft gemacht worden, die ist gerade ein paar Monate im Amt, sondern sie hat offengelegt, welche riesigen Defizite die CDU und Herr Rüttgers vorm Wahlkampf da verschwiegen haben.
Heinemann: Dann schauen wir mal, was im Haushalt 2011 in Nordrhein-Westfalen stehen wird. – CDU und Grüne bestimmen die politische Diskussion, die SPD ist und wird nicht gefragt. Noch so ein Satz aus Herrn Duins Feder. Stimmt nicht ganz, seien Sie froh, dass es den Deutschlandfunk gibt. Aber es fällt doch schon auf: Gorleben, "Stuttgart 21" ...
Gabriel: Das finde ich auch!
Heinemann: Danke! – Gorleben, "Stuttgart 21", die Straßen sind grün oder schwarz. Nur wo bleibt die SPD?
Gabriel: Das sind zwei Themen, bei denen die Grünen klassische Themen für sich haben. Sie sind die Anti-Atom-Partei, die Sozialdemokratie ist mit ihnen gemeinsam aus der Atomenergie ausgestiegen, wir finden das Thema genauso wichtig. Aber es ist der Gründungsmythos der Grünen, der da eine große Rolle spielt. Und beim Thema "Stuttgart 21", da geht es um was ganz einfaches: Wir können nicht einfach so tun, als sei das Problem auf der Straße wegzudiskutieren und wegzudemonstrieren. Wir brauchen solche Infrastrukturprojekte, aber wir können sie auch nicht wie die CDU mit dem Polizeiknüppel durchsetzen, sondern sagen, lasst uns diese Argumente, wie das bei Heiner Geißler passiert, austauschen und dann müssen die Bürgerinnen und Bürger selber entscheiden, was sie wollen. Das ist eine Position, die ist nicht schwarz oder weiß, und diejenigen, die mit schwarz oder weiß in der Politik operieren, die haben es manchmal einfacher, aber auf mittlere Sicht, bin ich ziemlich sicher, setzen sich in der Politik immer die durch, die ziemlich nah an der Realität argumentieren und nicht so tun, als ob die Welt aus Schwarz oder Weiß, ja oder nein besteht.
Heinemann: Wieso lässt die SPD nach der Linkspartei nun bereits den zweiten Konkurrenten hochkommen?
Gabriel: Nun muss ich Ihnen mal ein bisschen was zu der Debatte in Deutschland sagen. Wenn Sie nach Hamburg sehen, wenn wir nach Hamburg gucken, dort regieren die Grünen, da sind sie nur bei 10 Prozent, die SPD bei über 40 Prozent. Im Saarland, wo die Grünen mit der CDU gemeinsam und der FDP regieren, ist die SPD inzwischen in allen Umfragen stärkste Partei. In Schleswig-Holstein ist das so. In Nordrhein-Westfalen haben wir gerade mit Hannelore Kraft eine neue sozialdemokratische Ministerpräsidentin gewonnen. Von daher muss ich sagen, ein Jahr zurückblickend, nach der Bundestagswahl hätte uns doch diese, sagen wir, Wahl- und Umfrageergebnisse niemand zugetraut. Deswegen sage ich, wir sind, finde ich, in einer guten Situation, 12 Monate nach der letzten Bundestagswahl, aber die ist natürlich nicht gut genug. Und wer glaubt, dass man in 12 Monaten alles Vertrauen zurückgewinnen kann, was eben Menschen auch auf einer Regierungsstrecke gegenüber Regierungsparteien verlieren, der hat natürlich auch eine Illusion.
Heinemann: Warum sind die Grünen so stark?
Gabriel: Die Grünen sind die Projektionsfläche, die die FDP 2009 gewesen ist. Sie sind nicht belastet von Regierungen, sie mussten nicht schwierige Entscheidungen treffen. Dort wo sie in der Regierung sind, sind sie auch nicht stark, da sind sie sogar außerordentlich schwach. Und von daher muss ich sagen, ich bin ganz froh, dass die Grünen die Projektionsfläche sind und nicht mehr die FDP, weil natürlich die Grünen in vielen Feldern Schnittpunkte zu uns haben, allerdings in vielen Feldern auch nicht. Wir wissen sehr genau, dass wir in Deutschland eine starke Industrie brauchen, damit wir auch ein starkes wirtschaftliches Land brauchen. Die Grünen konzentrieren sich nur auf einen kleinen Teil, auf das Thema green economy. Wir wissen, dass wir nicht einfach Energiepreise explodieren lassen können, weil es viele Menschen gibt, die die nicht bezahlen können. Und es gibt eine ganze Reihe von Themen, die uns stark unterscheiden, vor allen Dingen im sozialen Bereich, aber sie sind eine Projektionsfläche, weil sie lange Zeit im Bund nicht haben regieren müssen. In der Sekunde, wo sie zu Entscheidungen gezwungen sind – das sehen Sie in Hamburg und im Saarland -, da reduzieren sich die Wahlergebnisse schon ganz drastisch.
Heinemann: Was heißt das für künftige SPD-Wahlkämpfe? Allein gegen alle?
Gabriel: Nein. Die SPD muss das tun, was sie immer getan hat: eine eigenständige Position einnehmen, eine eigenständige Politik. Bei uns steht im Mittelpunkt das Thema Arbeit, Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Das ist verloren gegangen. Viele Leute haben, obwohl sie arbeiten gehen, nicht ausreichend Lohn, müssen zum Staat und sich noch Sozialhilfe holen. Oder junge Leute fangen trotz guter Berufsausbildung in ganz schlechten Beschäftigungsverhältnissen an. Es geht um Gesundheit und Pflege und es geht übrigens auch immer wieder um staatliche Finanzen. So wie das bislang gelaufen ist, dass wir trotz wirtschaftlichen Aufschwungs dann immer wieder neue Schulden machen, das geht nicht. Peer Steinbrück als Finanzminister der SPD hat übrigens gezeigt, dass man es auch anders machen kann. Und ich finde, das sind unsere Themen und die müssen wir im Mittelpunkt haben, müssen uns nicht mit anderen Parteien beschäftigen, sondern ich glaube, die eigentliche Zielgruppe der Sozialdemokraten sind die, die sich in den letzten Jahren ganz aus der Politik verabschiedet haben, die überhaupt nicht mehr wählen gehen, die nichts mehr von der Politik erwarten, die glauben, die da oben verstehen unseren Alltag sowieso nicht. Die wieder für die Demokratie und die Beteiligung zu interessieren, indem man ihre Themen aufgreift – das hat eben viel mit dem Arbeitsalltag zu tun, oder mit fehlender sozialer Sicherheit, mit schlechten Städten, die kein Geld mehr haben und die Schwimmbäder schließen müssen, die Theater, die Volkshochschulen -, das ist die Zielgruppe der SPD, und ich glaube, damit werden wir auch gut und erfolgreich durchs Jahr 2011 kommen.
Heinemann: Sie haben ein Thema genannt: Arbeitslosigkeit. Nur könnte Ihnen das zwischen den Fingern zerbröseln, denn die Arbeitslosigkeit sinkt, wenn auch aus traurigem Anlass, nämlich der katastrophalen demografischen Entwicklung dieses Landes. Die Wirtschaft brummt, Arbeitskräfte werden sich die Jobs künftig mittelfristig zumindest aussuchen können.
Gabriel: Na ja, wir erleben ja gerade das Gegenteil. Wir erleben ja, dass die Jobs, die geschaffen werden, Leiharbeitsjobs sind, befristete Beschäftigung, nicht vernünftig bezahlt. Worum es bei sinkender Arbeitslosigkeit, über die man sich übrigens freuen muss – also es ist nicht so, dass man sagen darf als Opposition, schade, dass die Arbeitslosigkeit sinkt, zumal die Entscheidungen, die wir in der Großen Koalition getroffen haben, Abwrackprämie, Konjunkturprogramme, die haben natürlich ganz wesentlich dazu beigetragen und die sind (daran darf ein Sozialdemokrat schon mal erinnern) immer gegen die FDP, gegen die Grünen, häufig sogar gegen die CDU durchgesetzt worden. Von daher, finde ich, müssen wir uns darüber freuen, aber wir müssen schon dafür sorgen, dass der Aufschwung auch für alle stattfindet und nicht nur für wenige. Und dass die Arbeitslosigkeit sinkt und gleichzeitig die Zahl der Langzeitarbeitslosen drastisch sinkt, dass ältere Arbeitnehmer in steigendem Maße keinen Job finden, dass Leih- und Zeitarbeit zunehmen, dass befristete Beschäftigungsverhältnisse zunehmen, das ist kein Zeichen dafür, dass der Aufschwung für alle da ist, und dafür müssen Sozialdemokraten eintreten.
Heinemann: Noch mal zurück in den Deutschen Bundestag, Herr Gabriel. Wo sollte der Parteichef sitzen, wenn sich der eigene parlamentarische Frontmann am politischen Gegner abarbeitet?
Gabriel: Ich finde das ja super, dass jetzt schon Kaffeesatzlesen über die Frage existiert, wo ich sitze. So viel Aufmerksamkeit hätte ich mir früher mal gewünscht.
Heinemann: So ist der Deutschlandfunk!
Gabriel: Ein fairer Sender. – Wenn man fünf Minuten zu spät kommt, weil man im Berliner Verkehr stecken geblieben ist, dann geht man nicht nach vorne und scheucht den Kollegen auf, der auf dem eigenen Platz sitzt, sondern dann setzt man sich brav in die vorletzte Reihe und wartet, bis Zeit ist, um nach vorne zu gehen. Das ist ein Akt der Höflichkeit. Ich vermute, auch das wäre im Deutschlandfunk so.
Heinemann: Man redet aber nicht während der Rede des Fraktionsvorsitzenden mit seinem Nachbarn.
Gabriel: Doch. Wenn man der früheren Justizministerin sagt, dass da vorne eine gute Rede gehalten wird, dann darf man das auch machen.
Heinemann: Na prima! – Herr Gabriel, aus der Ölkatastrophenbekämpfung kennt man das System oder die Methode Top Kill. Das heißt, eine sprudelnde Quelle wird von oben zubetoniert. Droht den Herren Duin und Kahrs jetzt Top Kill?
Gabriel: Um Gottes willen! Ich kann noch mal sagen: Ich finde eine solche Diskussion, 12 Monate nach einer schweren Wahlniederlage zur Bundestagswahl, richtig und gut. Die SPD – das ist in jeder Partei so – muss am Anfang nach einer solchen Wahlniederlage sich mit der Frage beschäftigen, was haben wir falsch gemacht. Es kann ja nicht sein, dass man so tut, als hätte man die Wahl nur verloren, weil die Wähler einen nicht verstanden haben, sondern da wird man auch was falsch gemacht haben. Und nach 10, 12 Monaten muss damit auch Schluss sein, dann muss man über die Frage reden, was wollen wir in Zukunft tun. Das haben die beiden begonnen, das ist auch in Ordnung, und ich glaube, dass das noch andere ebenfalls tun müssen, und tun werden.
Heinemann: Haben die beiden auch richtige Antworten geliefert?
Gabriel: Sie haben erst mal Fragen gestellt, und das ist auch in Ordnung so. Am Anfang steht die Frage, was wollen wir miteinander machen und in welche Richtung wollen wir gehen. Die Antworten müssen wir schon miteinander gemeinsam finden.
Heinemann: Aber wenn da steht "Mut zur Sozialdemokratie", ist das nicht gerade ein Lob für den Parteivorsitzenden.
Gabriel: Jetzt können Sie noch dreimal versuchen, das zum Problem in der Debatte zu nominieren.
Heinemann: Das schaffen wir zeitlich nicht mehr.
Gabriel: Okay! Dann können wir es ja auch gleich sein lassen.
Heinemann: Das hängt von Ihnen ab. - ... sagt der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel um 7:28 Uhr, zwei Minuten vor halb acht, im Deutschlandfunk. Danke schön übrigens ins Auto.
Gabriel: Bitte! – Tschüss!
Heinemann: Tschüss!
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