"Ohne Gottesdienste merkt man vom christlichen Glauben in unserer Gesellschaft relativ wenig mittlerweile. Im Sinne der Zehn Gebote: Du sollst den Feiertag heiligen - und dazu zählt der Sonntag für mich," sagt ein treuer evangelischer Gottesdienstbesucher aus dem Prenzlauer Berg in Berlin.
Andere ergänzen: "Sonntagsgottesdienste sind Sammelorte für alle unterschiedlichen Gruppen in der Gemeinde und Schutzraum für Leute, die einsam sind, die suchen. Und es ist der einzige Tag, wo die Kirche sicher offen ist." – "Ich finde es einfach wichtig. Ob es sich lohnt, sei dahingestellt. Ich finde das muss bleiben."
In Hannover bei der Evangelischen Kirche in Deutschland ist man da schon weiter. Der EKD-Cheftheologe Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes, hält nichts davon, auf Biegen und Brechen am Sonntagsgottesdienst festzuhalten:
"Der Sonntagsgottesdienst ist eine zentrale Veranstaltung, aber nicht die einzige zentrale Veranstaltung. Und das soll man in großer evangelischer Freiheit vor Ort reflektieren. Ich finde das auch so wichtig, dass wir jetzt nicht den Kollegen auf's Auge drücken, Ihr müsst unbedingt jeden Sonntag Gottesdienst machen, egal ob jemand kommt, egal wer das wichtig findet. Das ist eine Ideologie, die ich nicht teilen kann."
Gerade einmal drei bis vier Prozent aller Evangelischen gehen in den Sonntagsgottesdienst. Wolle man die große Mehrheit der Kirchensteuerzahler erreichen, vielleicht sogar neue Menschen missionieren, müssten sich Pfarrer und Pastoren etwas anderes einfallen lassen.
Selbstvergewisserung für Engagierte
"Die Liturgische Konferenz hat eine Studie erarbeitet, aus der hervorgeht, dass der Sonntagsgottesdienst insbesondere für Mitarbeitende und ehrenamtlich Engagierte ist. Das heißt: Es ist eine starke Vergewisserung derjenigen, die sich engagieren. Viele andere Gottesdienstformen haben aber auch hohe Bedeutung. So dass ich immer den einzelnen Gemeinden und Regionen in evangelischer Freiheit sagen würde: Prüft alles und behaltet das Gute! Schaut, ob die Gottesdienste, die ihr macht mit Liebe und Intensität und Qualität, ob die wirklich auch noch andere erreichen als nur die eigenen schon Engagierten."
Der neue Trend heißt "Thematische Zielgruppengottesdienste", spirituelle Angebote - überspitzt phantasiert - etwa für Paare mit Kinderwunsch, Schwangere, Früh-, Rechtzeitig-, oder Spätgebärende, Krabbelkinder, Vor-Kita, Kita-, Vorschul-, Grundschul-, Hochbegabtenkinder. Und so weiter und so weiter. Von der Wiege bis zur Bahre für jede Lebenslage. Die Menschen gehen nicht mehr in die Kirche, sondern die Kirche kommt zu den Menschen. Thies Gundlach:
"Das ist eine kluge Reaktion unserer Kirche auf die Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft. Der Sonntagsmorgengottesdienst hat diese geistliche Tradition, aber hat auch damit zu tun, dass in einer ländlichen Gesellschaft, einer von Bauern geprägten Gesellschaft dieser Termin zwischen halb zehn und halb elf nach dem Melken der Kühe und vor dem Mittagessen um 12 Uhr und der Arbeit dort platziert war. Dass es viele Menschen gibt, die einen anderen Biorhythmus haben. Die Mitte der Gemeinde ist der geglaubte Jesus Christus - und der kommt an verschiedenen Orten vor. Dass die große Gemeinde oft auch im Familiengottesdienst auftaucht, in Konzerten, ist die Versammlung der Gemeinde ein bisschen pluraler geworden an verschiedenen Orten."
"Dann fällt der Laden auseinander"
Der wöchentliche Sonntagsgottesdienst ist out, zumindest ist er kein Muss mehr, wenn es nach dem Willen der evangelischen Kirchenleitung geht. Für die Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg eine un-evangelische Entwicklung:
"Es gibt keine Kirche als Gemeinschaft, wenn sie sich nicht definiert und aber eben auch vollzieht im regelmäßigen Zusammenkommen um Wort, Sakrament, Gebet. Der Laden fällt vollends auseinander, wenn wir das nicht mehr tun. Wir müssten ja viel mehr umbauen. Wir brauchten keine studierten Theologen mehr, keine wissenschaftliche Bibelauslegung mehr. Wir könnten ein Sozialverein werden. Wir können uns bei Greenpeace anketten oder beim Paritätischen Wohlfahrtsverband und so weiter und so fort. Nur Kirche definiert sich als communio sanctorum, als Gemeinschaft der Heiligen, die dadurch zustande kommt, dass sie Gottesdienst feiert, das Wort des Heiligen Gottes empfängt und darauf antwortet."
Denn ohne Sonntagsgottesdienst verliere jede christliche Gemeinschaft ihren Kern und falle auseinander: "Auf der anderen Seite ist es natürlich wahr, wir haben viel zu viele Gottesdienste, die Leerlauf bieten, die anöden, die den Menschen verdummen und wir haben zu viele Pastoren, die einem Sachen zumuten, die man sich als denkender Mensch nicht zumuten lassen muss. Der Gottesdienst ist weitgehend leer, weil er schlecht ist und hat dann natürlich keine Ausstrahlung, weil er leer ist. Das ist dann eine Zirkelbewegung, die immer schlimmer wird. Aber es gibt ja Gemeinden, wo das anders aussieht."
Aber nur weil Gottesdienste schlecht gemacht seien, heiße das nicht, dass sie nicht mehr wichtig seien. Für Dorothea Wendebourg, die Theologie-Professorin, ist der Sonntagsgottesdienst unaufgebbar. Gerade auch um der Pfarrer willen:
"Wir haben schon eine Entwicklung, in der viele Pfarrer Aktivitäten ohne Ende entwickeln. Die haben ja dann auch einen Burnout dadurch und was es noch so gibt. Aktivitäten ohne Ende - aber kein Zentrum dieser Aktivität. Und das Zentrum kann nur ein geistliches sein. Ich habe auch den Eindruck, dass die schlechte Gottesdienstfrequenz damit zu tun hat, dass die Pfarrer selbst mit dem Gottesdienst nichts anfangen können. Wenn ein Gottesdienst gefeiert wird, wo der leitende Geistliche selber das irgendwie abspult, wo er ein Gebet abliest, als bete er gar nicht selbst. Wenn er da irgendetwas von der Kanzel herunter rattert, dann ist es nach 59 Minuten endlich zu Ende. Das kann natürlich nichts werden."
"Nie am Sonntag gearbeitet"
Auch für den evangelischen Pfarrer in Berlin-Nikolassee bleibt der Sonntagsgottesdienst Zentrum der Gemeinde. Die mangelnde Akzeptanz bei den Gläubigen habe vor allem etwas mit seinem eigenen Berufsstand zu tun:
"Denn die meisten Gemeinden sind doch leer gepredigt von Pfarrern, die nichts zu sagen haben. Von Pfarrern, die sich nicht genügend gut vorbereiten. Von Pfarrern, die keinen Glauben mehr haben."
All zu oft jammerten Pfarrer, sie hätten keine Zeit. Wenn, dann nur, um spezielle Gottesdienste für bestimmte Gemeinde- und Gesellschaftsgruppen vorzubereiten: vom Krabbelgottesdienst bis zu Andachten im Altenheim. Das aber sei Unsinn, kritisiert der evangelische Theologe und ehemalige brandenburgische Landesminister seine eigenen Kollegen.
"Der Pfarrberuf ist der freieste Beruf, den es in Deutschland gibt. Wenn man ein wenig im Studium oder im Leben gelernt hat, sich selbst zu organisieren, bleibt genug Zeit, auch diese Sondergottesdienste als Angebot für Menschen in besonderen Situationen zu machen. Aber die Argumentation, dass man dafür das Zentrum vergessen sollte, das ist schlicht absurd. Ich habe noch nie am Sonntag gearbeitet.
Wer als Pfarrer am Sonntag arbeitet, der hat nichts vom Evangelium verstanden. Der hat seine Aufgabe, seine Rolle im Gottesdienst nicht verstanden. Ich feiere mit der Gemeinde gleichberechtigt Gottesdienst, habe da eine besondere Rolle und Aufgabe, die ich gerne übernehme und die mir selber auch Freude macht und die mir Kraft gibt und nicht Kraft nimmt."
Wer jedoch seine eigene Predigt nicht ernst nehme, den würden auch die Menschen nicht ernst nehmen. Von daher sei jeder Sonntagsgottesdienst ein lebendiger Prozess:
"Indem man sich die ganze Woche über Notizen macht, schon nachdenkt über das, worüber man am Sonntag reden will. Und das, was man an Fragen und Problemen in der Woche aufschnappt, dann wirklich von einem lebendigen Glauben her durchdenkt, durchbetet, durchknetet. So dass Menschen merken: Da gibt jemand keine vorgestanzten Antworten, sondern da kommt jemand am Sonntag aus dem Gespräch mit Gott, aus dem Gespräch mit der Gemeinde und gibt seine eigenen Erfahrungen wieder."
Das bedeute ja nicht, dass man nicht auch mit neuen Formen experimentieren könne. Etwa bei der Predigtnachbesprechung.
"Das heißt bei uns Predigt und Pasta, bei uns gegenüber ist der Tennis-Club, da gibt es für alle ein Pasta-Essen und die Möglichkeit, die Predigt nachzubesprechen. Da kommen manchmal 10%, manchmal ein Fünftel oder mehr der Menschen, die im Gottesdienst waren und reden mit."
"Das heißt bei uns Predigt und Pasta, bei uns gegenüber ist der Tennis-Club, da gibt es für alle ein Pasta-Essen und die Möglichkeit, die Predigt nachzubesprechen. Da kommen manchmal 10%, manchmal ein Fünftel oder mehr der Menschen, die im Gottesdienst waren und reden mit."
Pfarrer Steffen Reiche findet die Vorstellung unmöglich, Kirchen einfach nur als spirituelle Räume zu öffnen, um dann zum Beispiel Musik vom Band abzuspielen oder an Audiostationen per Kopfhörer die besten Predigten der letzten Jahre als Podcast anzubieten:
"Predigt ist keine Konserve. Predigen heißt doch in eine Gemeinschaft, die sich an diesem Ort, an diesem Tag trifft, so hineinzureden, dass die Menschen merken, sie sind gemeint. Dass ein Pfarrer nicht neben seiner Gemeinde, sondern mit seiner Gemeinde, in seiner Gemeinde lebt."
Eindeutige Uneindeutigkeit
Und da ist dann auch Thies Gundlach von der EKD ganz bei seinem evangelischen Kollegen aus Berlin.
"Jede Predigttheorie beginnt damit, dass die Performance, die Ansprache, das direkte Wort nicht vergleichbar ist mit einem vorgelesenen Text oder gar einer aufgenommenen Predigt. Die Erzeugung einer Atmosphäre, auch Emotion, das kann man nie ganz ersetzen."
Nur muss das unbedingt am Sonntagmorgen sein? Wenn die EKD alle Sonntagsgottesdienste aufgäbe, würden das doch nur drei bis vier Prozent der evangelischen Christen merken, also die regelmäßigen Besucher. Die meisten Kirchensteuereinnahmen würden weiter sprudeln. Dieses Gedankenspiel ist dann selbst für den EKD-Theologen Thies Gundlach zu viel der Modernisierung seiner eigenen Kirche:
"Also einmal bezweifele ich die These, dass das keiner merkt von den 96%. Weil es schon den Grundgedanken gibt, dass am Sonntag sich - auch stellvertretend für viele andere - die Christen treffen und beten. Das ist auch eine emotionale Wahrnehmung für die, die da nicht hingehen, eine relativ wichtige Dimension zu wissen: Da wird geläutet, da gehen Menschen hin, die beten, ich selbst zwar nicht, aber ich bin froh, dass das gemacht wird. Die Auferstehung Jesu Christi am dritten Tage ist ein Grundbekenntnis unserer Kirche. Und das wird natürlich davon ausgerechnet, dass er Karfreitag an einem Freitag gekreuzigt worden ist und begraben worden ist und dann ist der dritte Tag eben der Sonntag."
Der Sonntagsgottesdienst sollte also doch nicht aufgegeben werden? Anscheinend hat sich die EKD noch nicht festgelegt, welcher Linie sie folgen soll: der Tradition oder der individualistischen Moderne? Angesichts dieser eindeutigen Uneindeutigkeit ist eines sicher: Die innerevangelische Diskussion wird weiter gehen.