Christoph Heinemann: Es könnte sein, dass in arabischen Staaten künftig Straßen und Plätze nach Mohamed Bouazizi benannt werden. Bouazizi war einer von vielen tunesischen Akademikern, die als Gemüsehändler arbeiten mussten, um die Familie über Wasser zu halten. Vor vier Monaten verbrannte sich Bouazizi vor dem Rathaus der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid, um auf diese Weise gegen seine dauernde Erniedrigung durch das Ben Ali-Regime und dessen Helfershelfer zu protestieren. Das war der Anfang vom Ende des Regimes in seiner Heimat und in weiteren arabischen Staaten. Eine Folge: Der ägyptische Präsident, der frühere, Husni Mubarak, macht auf seine alten Tage gerade Bekanntschaft mit der Justiz.
Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun hat der Entwicklung in der arabischen Welt ein Buch gewidmet, das morgen unter dem Titel "Arabischer Frühling" im deutschen Buchhandel erscheinen wird, Untertitel: "Vom Wiedererlangen der arabischen Würde". Ben Jelloun deutet die Entwicklung im Maghreb und anderswo auch als Niederlage des Islamismus.
O-Ton Tahar Ben Jelloun: Die islamistischen Aktivisten wurden vom Ausmaß der Proteste überrumpelt und waren größtenteils nicht vertreten. Neue Werte, die eigentlich alte Werte sind, haben das Terrain der arabischen Protestbewegung erobert: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit. Das islamistische Software-Paket, wie es einige nennen, hat den Anschluss verpasst. Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den einschläfernden, anachronistischen und stumpfsinnigen Diskurs des Islamismus hinweggefegt, der zu seiner Verbreitung auf das Irrationale und einen neurotischen Fanatismus setzte.
Heinemann: Ich habe Tahar Ben Jelloun vor dieser Sendung gefragt, ob er dauerhaft ein Abgleiten dieser Staaten in den Islamismus ausschließt.
Tahar Ben Jelloun: Nein, dessen bin ich mir überhaupt nicht sicher. Es handelt sich um eine spontane unstrukturierte Revolte. Was ich ausdrücken wollte, ist, dass dies eine Revolte ist, die ohne die Islamisten durchgeführt wurde, weil die Themen der Islamisten überhaupt nicht den Erwartungen der jungen Menschen entsprechen. Demokratie bedeutet, dass sich alle einbringen können, auch die Islamisten. Aber sie können den anderen nicht eine islamische Republik, oder eine islamistische Moral aufzwingen. Das gibt es nicht, und deshalb ist dies ein großer Misserfolg für die Islamisten.
Heinemann: Gilt das für alle betroffenen Staaten?
Ben Jelloun: Für Tunesien und Ägypten ja. Ich weiß nicht, wie sich die Lage in Libyen entwickeln wird: Dort haben wir es mit einem Mörder zu tun, einem Kriminellen, der seine Söldner täglich zum Töten aussendet. Er bezeichnet die Rebellen als Islamisten, als Leute von El Kaida, weil er weiß, dass der Westen Angst hat vor Islamisten. Das ist eine dümmliche Verdrehung der Tatsachen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Heinemann: Die internationale Koalition vermag, die Offensive von Gaddafis Truppen nicht aufzuhalten. Besteht das Risiko, dass sich Gaddafi durchsetzt?
Ben Jelloun: Wir zahlen den Preis für das Zaudern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der lange Zeit benötigt hat, um sich zu entscheiden. Gaddafi hatte viel Zeit um seine Söldner kommen zu lassen. Er ist gut organisiert.
Heinemann: Sie sprachen vom Zaudern. Wie beurteilen Sie die deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat?
Ben Jelloun: Deutschland möchte vermeiden, dass seine Soldaten an einer militärischen Intervention teilnehmen. Historisch ist das zu verstehen. Aber in diesem Fall hätte Deutschland eine Ausnahme machen und wenigstens symbolisch teilnehmen sollen. Denn hier geht es darum, ein Volk zu retten, das sich in Gefahr befindet.
Heinemann: Sie weisen in Ihrem Buch drauf hin, dass die Polizeien der Unterdrückungsregime in der DDR ausgebildet wurden.
Ben Jelloun: Ostdeutschland hat Gaddafi bei der Ausbildung seiner Folterknechte tatkräftig unterstützt.
Heinemann: Nur in Libyen, oder auch in anderen Staaten?
Ben Jelloun: Ostdeutschland unterhielt sehr gute Verbindungen zu Ägypten und zu Saddam Hussein. Es war bekannt, dass Ostdeutschland über hoch entwickelte Verhörmethoden und Folterpraktiken verfügte.
Heinemann: "Informationen am Morgen im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit dem marokkanischen Schriftsteller Tahar Ben Jelloun über sein Buch "Arabischer Frühling". - Welche sind im Sinne dieses Arabischen Frühlings die viel versprechenden Staaten?
Ben Jelloun: Zunächst Marokko. Das Land hat mit der Thronbesteigung von Mohammed VI. Reformen eingeleitet. Marokko gestaltet seine Revolution im Stillen. Was die Tunesier und die Ägypter machen werden, wird man sehen. Sie werden den Staat neu aufbauen und das Geld eintreiben müssen, das die beiden Staatschef gestohlen und unterschlagen haben. Das wird lange dauern, auch zu Fehlern führen, und die Leute werden enttäuscht sein. Aber das ist normal, so ist das Leben.
Heinemann: Sie haben von unterschlagenem Geld gesprochen: der Lebensstil des marokkanischen Königs ähnelt dem der ehemaligen Präsidenten von Tunesien und Ägypten. Besteht da tatsächlich ein so großer Unterschied?
Ben Jelloun: Da besteht ein sehr großer Unterschied: Der König unterschlägt kein öffentliches Geld. Der König sollte sich künftig monarchischer verhalten und dem Premierminister und dem Parlament einen größeren Spielraum überlassen, was er selbst sogar vorgeschlagen hat. Er sollte dann eingreifen, wenn es Probleme gibt.
Heinemann: Für Algerien erwarten Sie eine besonders schwierige Entwicklung: Sie haben geschrieben: Algerien, das ist die Armee.
Ben Jelloun: Im Februar haben 2.000 Menschen versucht zu demonstrieren. Ihnen standen 30.000 Polizisten gegenüber. Das gibt es nirgendwo, nicht einmal in Nordkorea. Es ist wie in Syrien: Die Armee verfügt über die Macht, und sie wird sie nicht übergeben.
Heinemann: Dient die Demokratie, wie wir sie in Westeuropa kennen, als Modell für die arabischen Staaten, die sich gerade von ihren Regimen befreien?
Ben Jelloun: Ich sage immer: Die Demokratie ist keine Technik, sondern eine Kultur. Demokratie setzt Werte voraus, die in jedem Fall geachtet werden: Respekt des Menschen, des Individuums, freie und offene Wahlen, ohne Fälschungen, Anerkennung der Wahlergebnisse und die Trennung der weltlichen und der religiösen Macht.
Heinemann: Am Beginn der Revolution in Tunesien stand eine Selbstverbrennung. Im letzten Kapitel ihres Buches beschreiben Sie das Schicksal von Mohamed Bouazizi. Andere sind seinem Beispiel gefolgt. Was symbolisiert diese Form der Selbsttötung?
Ben Jelloun: Es ist merkwürdig, da dies nichts mit der arabisch-muslimischen Kultur zu tun hat. In allen monotheistischen Religionen ist die Selbsttötung untersagt. Diese Selbstverbrennungen bedeuten: Hier opfert sich jemand öffentlich, um durch dieses Zeichen für Aufmerksamkeit zu sorgen. Die Kommunikation wird immer schneller. Eines der ersten bekannten Beispiele einer Selbstverbrennung stammt aus Vietnam. Das hat die Menschen beeindruckt.
Heinemann: Welchen Einfluss übt das Internet aus?
Ben Jelloun: Einen beträchtlichen. Denn heute kann man nichts mehr verstecken. Die Zensur, die bisher als Behörde organisiert war, hat heute keinen Sinn mehr. Man kann kein Buch mehr zensieren, da man es sofort im Internet findet. Das gilt für Erklärungen, Filme, Videos.
Heinemann: Sind Sie zuversichtlich?
Ben Jelloun: Ich bin vorsichtig. Ich mache mir keine Illusionen. Sicher ist aber, dass es zumindest in Tunesien und Ägypten nie wieder Diktatoren geben wird, die den Menschen das Geld stehlen und in aller Ruhe foltern und morden werden.
Heinemann: "Arabischer Frühling - Vom Wiedererlangen der arabischen Würde", das Buch des marokkanischen Schriftstellers Tahar Ben Jelloun erscheint morgen im deutschen Buchhandel.
Tahar Ben Jelloun: "Arabischer Frühling - Vom Wiedererlangen der arabischen Würde". Berlin Verlag. 10 Euro
Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun hat der Entwicklung in der arabischen Welt ein Buch gewidmet, das morgen unter dem Titel "Arabischer Frühling" im deutschen Buchhandel erscheinen wird, Untertitel: "Vom Wiedererlangen der arabischen Würde". Ben Jelloun deutet die Entwicklung im Maghreb und anderswo auch als Niederlage des Islamismus.
O-Ton Tahar Ben Jelloun: Die islamistischen Aktivisten wurden vom Ausmaß der Proteste überrumpelt und waren größtenteils nicht vertreten. Neue Werte, die eigentlich alte Werte sind, haben das Terrain der arabischen Protestbewegung erobert: Freiheit, Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit. Das islamistische Software-Paket, wie es einige nennen, hat den Anschluss verpasst. Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den einschläfernden, anachronistischen und stumpfsinnigen Diskurs des Islamismus hinweggefegt, der zu seiner Verbreitung auf das Irrationale und einen neurotischen Fanatismus setzte.
Heinemann: Ich habe Tahar Ben Jelloun vor dieser Sendung gefragt, ob er dauerhaft ein Abgleiten dieser Staaten in den Islamismus ausschließt.
Tahar Ben Jelloun: Nein, dessen bin ich mir überhaupt nicht sicher. Es handelt sich um eine spontane unstrukturierte Revolte. Was ich ausdrücken wollte, ist, dass dies eine Revolte ist, die ohne die Islamisten durchgeführt wurde, weil die Themen der Islamisten überhaupt nicht den Erwartungen der jungen Menschen entsprechen. Demokratie bedeutet, dass sich alle einbringen können, auch die Islamisten. Aber sie können den anderen nicht eine islamische Republik, oder eine islamistische Moral aufzwingen. Das gibt es nicht, und deshalb ist dies ein großer Misserfolg für die Islamisten.
Heinemann: Gilt das für alle betroffenen Staaten?
Ben Jelloun: Für Tunesien und Ägypten ja. Ich weiß nicht, wie sich die Lage in Libyen entwickeln wird: Dort haben wir es mit einem Mörder zu tun, einem Kriminellen, der seine Söldner täglich zum Töten aussendet. Er bezeichnet die Rebellen als Islamisten, als Leute von El Kaida, weil er weiß, dass der Westen Angst hat vor Islamisten. Das ist eine dümmliche Verdrehung der Tatsachen, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Heinemann: Die internationale Koalition vermag, die Offensive von Gaddafis Truppen nicht aufzuhalten. Besteht das Risiko, dass sich Gaddafi durchsetzt?
Ben Jelloun: Wir zahlen den Preis für das Zaudern des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, der lange Zeit benötigt hat, um sich zu entscheiden. Gaddafi hatte viel Zeit um seine Söldner kommen zu lassen. Er ist gut organisiert.
Heinemann: Sie sprachen vom Zaudern. Wie beurteilen Sie die deutsche Enthaltung im UN-Sicherheitsrat?
Ben Jelloun: Deutschland möchte vermeiden, dass seine Soldaten an einer militärischen Intervention teilnehmen. Historisch ist das zu verstehen. Aber in diesem Fall hätte Deutschland eine Ausnahme machen und wenigstens symbolisch teilnehmen sollen. Denn hier geht es darum, ein Volk zu retten, das sich in Gefahr befindet.
Heinemann: Sie weisen in Ihrem Buch drauf hin, dass die Polizeien der Unterdrückungsregime in der DDR ausgebildet wurden.
Ben Jelloun: Ostdeutschland hat Gaddafi bei der Ausbildung seiner Folterknechte tatkräftig unterstützt.
Heinemann: Nur in Libyen, oder auch in anderen Staaten?
Ben Jelloun: Ostdeutschland unterhielt sehr gute Verbindungen zu Ägypten und zu Saddam Hussein. Es war bekannt, dass Ostdeutschland über hoch entwickelte Verhörmethoden und Folterpraktiken verfügte.
Heinemann: "Informationen am Morgen im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit dem marokkanischen Schriftsteller Tahar Ben Jelloun über sein Buch "Arabischer Frühling". - Welche sind im Sinne dieses Arabischen Frühlings die viel versprechenden Staaten?
Ben Jelloun: Zunächst Marokko. Das Land hat mit der Thronbesteigung von Mohammed VI. Reformen eingeleitet. Marokko gestaltet seine Revolution im Stillen. Was die Tunesier und die Ägypter machen werden, wird man sehen. Sie werden den Staat neu aufbauen und das Geld eintreiben müssen, das die beiden Staatschef gestohlen und unterschlagen haben. Das wird lange dauern, auch zu Fehlern führen, und die Leute werden enttäuscht sein. Aber das ist normal, so ist das Leben.
Heinemann: Sie haben von unterschlagenem Geld gesprochen: der Lebensstil des marokkanischen Königs ähnelt dem der ehemaligen Präsidenten von Tunesien und Ägypten. Besteht da tatsächlich ein so großer Unterschied?
Ben Jelloun: Da besteht ein sehr großer Unterschied: Der König unterschlägt kein öffentliches Geld. Der König sollte sich künftig monarchischer verhalten und dem Premierminister und dem Parlament einen größeren Spielraum überlassen, was er selbst sogar vorgeschlagen hat. Er sollte dann eingreifen, wenn es Probleme gibt.
Heinemann: Für Algerien erwarten Sie eine besonders schwierige Entwicklung: Sie haben geschrieben: Algerien, das ist die Armee.
Ben Jelloun: Im Februar haben 2.000 Menschen versucht zu demonstrieren. Ihnen standen 30.000 Polizisten gegenüber. Das gibt es nirgendwo, nicht einmal in Nordkorea. Es ist wie in Syrien: Die Armee verfügt über die Macht, und sie wird sie nicht übergeben.
Heinemann: Dient die Demokratie, wie wir sie in Westeuropa kennen, als Modell für die arabischen Staaten, die sich gerade von ihren Regimen befreien?
Ben Jelloun: Ich sage immer: Die Demokratie ist keine Technik, sondern eine Kultur. Demokratie setzt Werte voraus, die in jedem Fall geachtet werden: Respekt des Menschen, des Individuums, freie und offene Wahlen, ohne Fälschungen, Anerkennung der Wahlergebnisse und die Trennung der weltlichen und der religiösen Macht.
Heinemann: Am Beginn der Revolution in Tunesien stand eine Selbstverbrennung. Im letzten Kapitel ihres Buches beschreiben Sie das Schicksal von Mohamed Bouazizi. Andere sind seinem Beispiel gefolgt. Was symbolisiert diese Form der Selbsttötung?
Ben Jelloun: Es ist merkwürdig, da dies nichts mit der arabisch-muslimischen Kultur zu tun hat. In allen monotheistischen Religionen ist die Selbsttötung untersagt. Diese Selbstverbrennungen bedeuten: Hier opfert sich jemand öffentlich, um durch dieses Zeichen für Aufmerksamkeit zu sorgen. Die Kommunikation wird immer schneller. Eines der ersten bekannten Beispiele einer Selbstverbrennung stammt aus Vietnam. Das hat die Menschen beeindruckt.
Heinemann: Welchen Einfluss übt das Internet aus?
Ben Jelloun: Einen beträchtlichen. Denn heute kann man nichts mehr verstecken. Die Zensur, die bisher als Behörde organisiert war, hat heute keinen Sinn mehr. Man kann kein Buch mehr zensieren, da man es sofort im Internet findet. Das gilt für Erklärungen, Filme, Videos.
Heinemann: Sind Sie zuversichtlich?
Ben Jelloun: Ich bin vorsichtig. Ich mache mir keine Illusionen. Sicher ist aber, dass es zumindest in Tunesien und Ägypten nie wieder Diktatoren geben wird, die den Menschen das Geld stehlen und in aller Ruhe foltern und morden werden.
Heinemann: "Arabischer Frühling - Vom Wiedererlangen der arabischen Würde", das Buch des marokkanischen Schriftstellers Tahar Ben Jelloun erscheint morgen im deutschen Buchhandel.
Tahar Ben Jelloun: "Arabischer Frühling - Vom Wiedererlangen der arabischen Würde". Berlin Verlag. 10 Euro