Christian Schütte: Von einem Wettlauf gegen die Zeit spricht der Zentralrat der Juden in Deutschland. Dem 89-Jährigen mutmaßlichen Kriegsverbrecher John Demjanjuk, gestern aus den USA nach Deutschland überstellt, soll möglichst bald der Prozess gemacht werden. Generalsekretär Stefan Kramer:
Stefan Kramer: "Es geht hier nicht um Rache, sondern es geht um Gerechtigkeit. Insofern ist es gut und richtig, dass er nach Deutschland ausgeliefert wird und hier vor Gericht gestellt wird. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass er auch nur einen Tag im Gefängnis verbringen wird. Ich gehe davon aus, dass es hoffentlich einen Prozess geben wird. Auch das steht noch in Frage, weil vorangegangene Verfahren in der Regel immer ausgesetzt worden sind, weil allein das Alter schon ausgereicht hat, um eine Verfahrensunfähigkeit zu präjudizieren."
Schütte: Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. - Am Telefon begrüße ich nun den Historiker und Publizisten Götz Aly. Guten Morgen!
Götz Aly: Guten Morgen!
Schütte: Herr Aly, sind Sie da mit Blick auf die Geschichte ähnlich skeptisch, ob es überhaupt zu einem Verfahren gegen Demjanjuk kommt?
Aly: Die Schwierigkeit ist ja ganz eindeutig das Alter. Gegen einen 89-jährigen Mann ist schwer ein Prozess zu führen, und zwar einfach aus dem Grund - das sagen nun mal unsere Gesetze -, er muss in der Lage sein, den Prozess zu verstehen, den Gang durchstehen, sich selber verteidigen können, und das ist eine offene Frage. Die wird nicht in der Öffentlichkeit entschieden, sondern notfalls eben durch ärztliche Gutachter, und dazu wird es sicherlich kommen.
Schütte: Wenn das Verfahren nicht begonnen oder zu Ende geführt werden kann, was wäre dann die Auslieferung überhaupt wert?
Aly: Dass die ganze Frage, die damit zusammenhängt, oder die Fragen noch mal thematisiert werden und dass natürlich auch bei einem alten Mann diese Dinge bis zum Schluss aufgeklärt werden. Und der Fall Demjanjuk - unterstellen wir mal, er sei damals tatsächlich in Sobibor als Wachmann gewesen - zeigt etwas, was man so in NS-Prozessen noch selten gesehen hat in Deutschland, nämlich die Frage der europäischen Beteiligung der Kollaboration wird hier thematisiert und das ist schwierig. Das zu handhaben, ist auch für die deutsche Öffentlichkeit und übrigens auch die internationale Öffentlichkeit eine Herausforderung, denn es geht darum, dass man feststellt, dass der Holocaust - und das tun heute sehr viele - nicht nur ein Tiefpunkt der deutschen Geschichte ist, der allertiefste, sondern eben auch der europäischen Geschichte. Und man muss das formulieren und formulieren können, beispielsweise am Fall Demjanjuk, aber es gibt tausende solcher Fälle, ohne die deutsche Schuld zu relativieren, die Oberverantwortung, die Tatherrschaft der Deutschen. Die Deutschen haben Sobibor betrieben, nicht John Demjanjuk, und die Deutschen hätten das jeden Tag beenden können, nicht Herr Demjanjuk.
Schütte: Wie kann man das angemessen behandeln? Wie kann man die Mitverantwortung anderer europäischer, ich sage mal Staaten oder Bürger ansprechen, verfolgen, ohne sich zugleich ein bisschen aus der deutschen Verantwortung herauszustehlen?
Aly: Beispielsweise durch solche Prozesse, aber es geschieht vor allem, indem es in den anderen europäischen Staaten thematisiert wird - denken Sie an die großen Leistungen des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac in dieser Hinsicht, der immer wieder und mehrfach bei öffentlichen Gelegenheiten gesagt hat, wir als Franzosen, als französischer Staat, wir waren an diesem Verbrechen beteiligt. In Rumänien wird in dieser Form heute darüber geredet, es gibt polnische Historiker und Publizisten, die das tun, die die Mitverantwortung auch ihrer Nation, von Polizeikräften, von Institutionen in Polen während des Krieges thematisieren. Das gibt es in den Niederlanden und ich glaube, vor diesem Hintergrund kann man darüber nüchtern reden. Der Holocaust ist auch zu verstehen als europäisches Ereignis, als Mittäterschaft. Sie müssen sich vorstellen, dass deportierte Juden etwa von Ungarn aus bis zur slowakischen Grenze keinen Deutschen gesehen haben, sondern nur ungarische Gendarmen und dann in den Lagern natürlich auch oft Wachmänner, die ganz anderer Nationalität waren, Ukrainer, Letten, Litauer. Darüber zu reden als Europa heute, das scheint mir möglich, aber das brauchte eben auch diesen Abstand von mehr als 60 Jahren inzwischen und auch die Überwindung des Kalten Krieges. Das Jahr 1989, bis dahin waren die Verbrechen der Vergangenheit, des Zweiten Weltkrieges, diese deutschen Großverbrechen und die Folgen davon, zu der auch die Teilung Europas gehörte, sozusagen eingeeist im Kalten Krieg und es findet dieser Prozess erst seit 20 Jahren statt.
Schütte: Herr Aly, wie weit ist denn die deutsche Forschung in diesem Punkt? Was ist der Stand der Debatte? Wie weit ist man da?
Aly: Intern ist man da, glaube ich, ganz schön weit. Sie können jetzt Dissertationen lesen, dass zum Beispiel die litauischen Juden eigentlich bis zum Tod in den Kleinstädten keinen einzigen Deutschen gesehen haben. Das ändert überhaupt nichts an der deutschen Oberverantwortung, weil die Deutschen haben das ins Werk gesetzt, aber es ist natürlich immer misslich, wenn man als deutscher Historiker gewissermaßen damit anfängt, aber wir kommen aus dieser misslichen Lage heraus - eben deswegen, weil die Kollegen, aber auch die Politiker, die Journalisten in den anderen europäischen Ländern an diesen Fragen interessiert sind und die dortigen Öffentlichkeiten damit konfrontieren, auch weil Organisationen wie etwa die Claims-Konferenz auch diese anderen europäischen Länder dazu veranlasst hat nachzuforschen, wo ist denn das jüdische Eigentum geblieben nach der Deportation, nämlich fast immer in den Ländern, in den Staaten, aus denen die Juden deportiert wurden. Also ich glaube, in den nächsten zehn Jahren wird über dieses Thema noch sehr viel geredet werden, in Europa und auch in einer verständigen klaren Weise, und der Prozess gegen Demjanjuk, sollte er auch scheitern, die Anklage, die Thematisierung wird dabei weiterhelfen.
Schütte: Der Historiker und Publizist Götz Aly im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank.
Stefan Kramer: "Es geht hier nicht um Rache, sondern es geht um Gerechtigkeit. Insofern ist es gut und richtig, dass er nach Deutschland ausgeliefert wird und hier vor Gericht gestellt wird. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass er auch nur einen Tag im Gefängnis verbringen wird. Ich gehe davon aus, dass es hoffentlich einen Prozess geben wird. Auch das steht noch in Frage, weil vorangegangene Verfahren in der Regel immer ausgesetzt worden sind, weil allein das Alter schon ausgereicht hat, um eine Verfahrensunfähigkeit zu präjudizieren."
Schütte: Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. - Am Telefon begrüße ich nun den Historiker und Publizisten Götz Aly. Guten Morgen!
Götz Aly: Guten Morgen!
Schütte: Herr Aly, sind Sie da mit Blick auf die Geschichte ähnlich skeptisch, ob es überhaupt zu einem Verfahren gegen Demjanjuk kommt?
Aly: Die Schwierigkeit ist ja ganz eindeutig das Alter. Gegen einen 89-jährigen Mann ist schwer ein Prozess zu führen, und zwar einfach aus dem Grund - das sagen nun mal unsere Gesetze -, er muss in der Lage sein, den Prozess zu verstehen, den Gang durchstehen, sich selber verteidigen können, und das ist eine offene Frage. Die wird nicht in der Öffentlichkeit entschieden, sondern notfalls eben durch ärztliche Gutachter, und dazu wird es sicherlich kommen.
Schütte: Wenn das Verfahren nicht begonnen oder zu Ende geführt werden kann, was wäre dann die Auslieferung überhaupt wert?
Aly: Dass die ganze Frage, die damit zusammenhängt, oder die Fragen noch mal thematisiert werden und dass natürlich auch bei einem alten Mann diese Dinge bis zum Schluss aufgeklärt werden. Und der Fall Demjanjuk - unterstellen wir mal, er sei damals tatsächlich in Sobibor als Wachmann gewesen - zeigt etwas, was man so in NS-Prozessen noch selten gesehen hat in Deutschland, nämlich die Frage der europäischen Beteiligung der Kollaboration wird hier thematisiert und das ist schwierig. Das zu handhaben, ist auch für die deutsche Öffentlichkeit und übrigens auch die internationale Öffentlichkeit eine Herausforderung, denn es geht darum, dass man feststellt, dass der Holocaust - und das tun heute sehr viele - nicht nur ein Tiefpunkt der deutschen Geschichte ist, der allertiefste, sondern eben auch der europäischen Geschichte. Und man muss das formulieren und formulieren können, beispielsweise am Fall Demjanjuk, aber es gibt tausende solcher Fälle, ohne die deutsche Schuld zu relativieren, die Oberverantwortung, die Tatherrschaft der Deutschen. Die Deutschen haben Sobibor betrieben, nicht John Demjanjuk, und die Deutschen hätten das jeden Tag beenden können, nicht Herr Demjanjuk.
Schütte: Wie kann man das angemessen behandeln? Wie kann man die Mitverantwortung anderer europäischer, ich sage mal Staaten oder Bürger ansprechen, verfolgen, ohne sich zugleich ein bisschen aus der deutschen Verantwortung herauszustehlen?
Aly: Beispielsweise durch solche Prozesse, aber es geschieht vor allem, indem es in den anderen europäischen Staaten thematisiert wird - denken Sie an die großen Leistungen des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac in dieser Hinsicht, der immer wieder und mehrfach bei öffentlichen Gelegenheiten gesagt hat, wir als Franzosen, als französischer Staat, wir waren an diesem Verbrechen beteiligt. In Rumänien wird in dieser Form heute darüber geredet, es gibt polnische Historiker und Publizisten, die das tun, die die Mitverantwortung auch ihrer Nation, von Polizeikräften, von Institutionen in Polen während des Krieges thematisieren. Das gibt es in den Niederlanden und ich glaube, vor diesem Hintergrund kann man darüber nüchtern reden. Der Holocaust ist auch zu verstehen als europäisches Ereignis, als Mittäterschaft. Sie müssen sich vorstellen, dass deportierte Juden etwa von Ungarn aus bis zur slowakischen Grenze keinen Deutschen gesehen haben, sondern nur ungarische Gendarmen und dann in den Lagern natürlich auch oft Wachmänner, die ganz anderer Nationalität waren, Ukrainer, Letten, Litauer. Darüber zu reden als Europa heute, das scheint mir möglich, aber das brauchte eben auch diesen Abstand von mehr als 60 Jahren inzwischen und auch die Überwindung des Kalten Krieges. Das Jahr 1989, bis dahin waren die Verbrechen der Vergangenheit, des Zweiten Weltkrieges, diese deutschen Großverbrechen und die Folgen davon, zu der auch die Teilung Europas gehörte, sozusagen eingeeist im Kalten Krieg und es findet dieser Prozess erst seit 20 Jahren statt.
Schütte: Herr Aly, wie weit ist denn die deutsche Forschung in diesem Punkt? Was ist der Stand der Debatte? Wie weit ist man da?
Aly: Intern ist man da, glaube ich, ganz schön weit. Sie können jetzt Dissertationen lesen, dass zum Beispiel die litauischen Juden eigentlich bis zum Tod in den Kleinstädten keinen einzigen Deutschen gesehen haben. Das ändert überhaupt nichts an der deutschen Oberverantwortung, weil die Deutschen haben das ins Werk gesetzt, aber es ist natürlich immer misslich, wenn man als deutscher Historiker gewissermaßen damit anfängt, aber wir kommen aus dieser misslichen Lage heraus - eben deswegen, weil die Kollegen, aber auch die Politiker, die Journalisten in den anderen europäischen Ländern an diesen Fragen interessiert sind und die dortigen Öffentlichkeiten damit konfrontieren, auch weil Organisationen wie etwa die Claims-Konferenz auch diese anderen europäischen Länder dazu veranlasst hat nachzuforschen, wo ist denn das jüdische Eigentum geblieben nach der Deportation, nämlich fast immer in den Ländern, in den Staaten, aus denen die Juden deportiert wurden. Also ich glaube, in den nächsten zehn Jahren wird über dieses Thema noch sehr viel geredet werden, in Europa und auch in einer verständigen klaren Weise, und der Prozess gegen Demjanjuk, sollte er auch scheitern, die Anklage, die Thematisierung wird dabei weiterhelfen.
Schütte: Der Historiker und Publizist Götz Aly im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Vielen Dank.