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Die, die trotz allem blieben

Auch nach dem Holocaust gab es jüdisches Leben in Deutschland, im Land der Mörder: Geblieben waren Überlebende aus den befreiten Konzentrationslagern, wenige hatten als Partner in so genannten "Mischehen" die Katastrophe überstanden, manche unter falscher Identität in Verstecken ausgeharrt. Diesem Aspekt der jüdischen Geschichte in Deutschland hat der Historiker Anthony Kauders nun erstmals eine eigene Studie gewidmet. Renate Faerber-Husemann über das Buch.

    "1989 hatten wir 30.000 Menschen in den jüdischen Gemeinden in Deutschland, heute 80.000. Wenn mir das nach dem Krieg, als siebenjähriger, jemand gesagt hätte, jetzt warte mal ab 50, 55 Jahre, dann wird in Deutschland die drittgrößte jüdische Gemeinschaft in Westeuropa sein, hätte ich gesagt, Du bist ein Spinner. Es ist meiner Meinung nach wirklich ein großes Wunder."

    Das ist die Stimme von Paul Spiegel, dem 2006 verstorbenen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland.

    "Nach dem größten Völkermord der Geschichte haben unmittelbar nach der Öffnung der KZs jüdische Menschen damit begonnen, wieder jüdische Gemeinden aufzubauen. Mein Vater war einer von ihnen."

    Wie schwer es die Überlebenden hatten, beschreibt der Historiker Anthony D. Kauders in seinem Buch "Unmögliche Heimat.” Ihr Leben war zunächst geprägt von fehlendem Schuldbewusstsein bei den Nichtjuden und Schuldgefühlen bei den Juden, die sich gegenüber den ausgewanderten Angehörigen und vor allem gegenüber dem jungen Staat Israel für ihr Bleiben rechtfertigen mussten. Dies ist der stärkste Teil des Buches. Kauders schildert die Jahre andauernde Debatte "Bleiben oder gehen”.

    Und er beschreibt detailreich die gleichgültige bis feindselige Haltung der nichtjüdischen Umwelt. Rund 100.000 jüdische Unternehmen waren während der Nazizeit arisiert worden. In zahlreichen einst jüdischen Häusern und Wohnungen saßen nun Profiteure des Regimes. Viele Deutsche hatten zu Schleuderpreisen Möbel und Hausrat deportierter einstiger Nachbarn zusammengerafft. Und das alles wollte man nach dem Krieg nicht wieder herausgeben. So wurden die Überlebenden häufig mit offener Ablehnung empfangen, wenn sie Rückgabe ihres Eigentums und Entschädigung forderten. Empathie mit den Opfern? Fehlanzeige! Kauders schreibt, es habe damals eine "zulässige und eine unzulässige Judenfeindschaft” gegeben und er belegt das mit zahlreichen Quellen:

    Gestattet war der Vorwurf, Juden seien in der Vergangenheit "zersetzend” und "opportunistisch” gewesen. Ebenso erlaubt war die Klage über "jüdische” Schwarzmarktaktivitäten und "anmaßende” Restitutionsansprüche in der Gegenwart. Mit Mord und Todschlag - also dem nationalsozialistischen Genozid - wollte man dagegen nichts zu tun haben.

    In dieses Land kam 1945 der siebenjährige Paul Spiegel zurück. Seine ältere Schwester war in Auschwitz ermordet worden, der Vater war ein Überlebender des KZs Dachau. Er selbst war in Belgien von einer katholischen Bauernfamilie versteckt worden.

    "Ich wusste nur eines und das hatte man mir eingetrichtert als Kind. Vor allem in der Zeit, als ich nicht bei meiner Mutter lebte, nämlich während dreieinhalb Jahre. Dass die Deutschen Riesen sind, die kleine jüdische Kinder umbringen. Und ich hatte fürchterliche Angst vor diesen Deutschen. Das Wort Deutsch war für mich ein Synonym für Tod."

    Viele deutsche Juden hatten handfeste Gründe für das - wie sie sich selbst beschwichtigten - nur vorübergehende Bleiben: Nichtjüdische Lebenspartner, der Kampf um die Rückgabe ihrer Vermögen, Krankheit, Alter, ein Beruf, der sich im Ausland nicht ausüben ließ, die Fremdheit von Kultur und Klima in Palästina.

    Über diese frühen Jahre erzählt Anthony Kauders sehr dicht. Die Leser erfahren viel über die Debatten unter jüdischen Intellektuellen jener Zeit, über ihre Zerrissenheit, ihre Rechtfertigungsversuche vor sich selbst und vor ausgewanderten Freunden und Verwandten. Vieles davon ist nachzulesen in persönlichen Erinnerungen oder in Arbeiten zu Entschädigung und Wiedergutmachung. Neu ist der wertende Blick des Historikers, der viele einzelne Mosaiksteine zu einem Gesamtbild zusammengetragen hat.

    Historiker versuchen Typisches zu entdecken. Und das Typische an den Juden in der Bundesrepublik waren ihre Schuldgefühle, weil sie im "Land der Täter” lebten.

    Auch das gehört zu diesem Bild: Der weiter latent vorhandene Antisemitismus führte dazu, dass jüdische Familien sehr isoliert lebten. Zu nichtjüdischen Deutschen gab es kaum Kontakte. Die immer in der Luft liegende Frage: Wie haben sich mein Nachbar, mein Kollege in der Nazizeit verhalten, schuf Distanz. Und so spielten die damals etwa 30.000 deutschen Juden keine Rolle im öffentlichen Leben ihres Landes.

    Dies änderte sich erst, als die Nachkriegsgeneration erwachsen wurde. Junge deutsche Juden verteidigten nicht mehr kritiklos israelische Politik, etwa im Libanonkrieg 1982. Und sie protestierten offen gegen antisemitische Tendenzen in Deutschland. Umgekehrt zeigte eine neue nichtjüdische Generation Verständnis für den Überlebenskampf der Israelis. Und mit dem Auschwitzprozess Anfang der sechziger Jahre begann endlich auch die Auseinandersetzung mit der Schuld der Elterngeneration.

    Kauders kluge Analysen haben leider auch eine Schwäche: Die Gegenwart interessiert ihn weit weniger als die frühe Nachkriegsgeschichte. Zwar beschreibt er detalliert die Chancen und die neuen Konflikte durch die Zuwanderung von etwa 100.000 überwiegend russischsprachigen Juden in den neunziger Jahren, denen jüdische Kultur und Tradition meist fremd sind, die trotz eines hohen Bildungsgrades isoliert leben.

    Ausgeklammert aber hat er leider die wieder erwachten Ängste der deutschen Juden. Über die Jahre und Jahrzehnte hinweg kommen alle sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Schluss, dass 15 Prozent aller Deutschen antisemitische Einstellungen haben. Ignatz Bubis und Paul Spiegel warnten als Präsidenten des Zentralrats der Juden unermüdlich vor den seit der Wiedervereinigung stark zunehmenden rassistischen und antisemitischen Übergriffen.

    Beide haben gegen Ende ihres Lebens resigniert. Der hoch angesehene von vielen verehrte Ignatz Bubis sagte in einem der letzten Interviews vor seinem Tod bitter, er habe nichts erreicht in all den Jahren. Paul Spiegel sah das ähnlich. Wie dies alles in den jüdischen Gemeinden diskutiert wird, darüber hätte man gerne mehr gelesen in einer deutsch-jüdischen Geschichte der Bundesrepublik. Am Ende seines Buches stellt Anthony Kauders die Frage, ob jüdisches Leben in Deutschland trotz allem eine Zukunft haben wird. Er vergleicht die Situation mit der der Juden in den USA:

    Hier zeigt sich eine Parallele mit dem amerikanischen Judentum: Auch in den USA heiraten immer mehr Juden Nichtjuden, auch dort untergräbt die Suche nach dem individuellen Glück den ethnischen Separatismus. Die jüdische Ethnie löst sich zunehmend durch "Mischehen” auf, übrig bleibt im günstigsten Fall die Religion.

    Renate Faerber-Husemann über das Buch von Anthony Kauders mit dem Titel "Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik, erschienen in der Deutschen Verlagsanstalt. Das Buch hat 304 Seiten und kostet Euro 22,95.