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Das Vermächtnis von Horst Stern
Blutige Jagd im TV an Heiligabend

Aufruf zum Hirsche schießen statt "Sissi" – mit der Dokumentation „Bemerkungen über den Rothirsch“ traf die ARD vor 50 Jahren eine mutige Programmentscheidung zur besten Sendezeit. Der Film von Horst Stern steht bis heute dafür, was Umweltjournalismus leisten kann. Und zeigt gleichzeitig, wo seine Grenzen liegen.

Text: Michael Borgers; Uwe Kammann im Gespräch mit Brigitte Baetz |
Ein Rothirsch und eine Hirschkuh stehen in einem Waldgebiet
Ein Rothirsch und eine Hirschkuh stehen in einem Waldgebiet - hier dem eines Wildparks (picture alliance/dpa)
Weihnachten ist eine Zeit der Traditionen, auch im Fernsehen. An den Festtagen laufen dann jede Menge Klassiker, Filme wie „Sissi“, den in diesem Jahr das Erste an Heiligabend zeigen wird. In den Wald wird es dann auch gehen, wenn Franz Joseph, der Gemahl der Kaiserin, auf Jagd geht. Aber eine breite öffentliche Debatte wird diese Programmauswahl nicht auslösen. Anders war das bei einer Sendung vor 50 Jahren.
Am 24. Dezember 1971 zeigt die ARD um 20.15 Uhr, also zur besten Sendezeit, „Bemerkungen über den Rothirsch“. Eine knapp 40-minütige Dokumentation, die mit einer Anklage beginnt: Der deutsche Wald sei krank „bis auf den Tod“, und zum „Waldzerstörer“ sei der Rothirsch geworden. Dann enden die schönen Luft- und Waldaufnahmen. Und zu sehen ist Horst Stern, der fordert: „Sie hören richtig: Es ist nicht dringlich, den Hirsch zu schonen, es ist dringlich zurzeit, ihn zu schießen.“ Der Film ist da gerade eine Minute jung.

Stern: Man rettet den Wald nicht, indem man „O Tannenbaum“ singt

In der Folge beschreibt Stern, ein damals bereits sehr bekannter Filmemacher und Umweltjournalist, wie er zu dieser Analyse gekommen ist: Der „menschliche Wolf“ habe versagt. „Er ernährt sich von Kalbfleisch und jagt den Hirsch als Knochenschmucklieferant für die Wand überm Sofa.“ Stern macht also die, wie er sie nennt, damals vorherrschende „konservative Jagd“ verantwortlich. Diese sei nur auf das „prestigehaltige“ Sammeln großer Geweihe aus und schone deshalb weibliche und junge Tiere. Eine Folge dieser Fokussierung sei am Ende eben zu viel Wild, das Bäume fresse und so Wald zerstöre.
Ein Porträt von Horst Stern
Horst Stern war ein deutscher Wissenschaftsjournalist, Filmemacher und Schriftsteller (imago/teutopress)
„Ich meine, dies ernste Thema war eine knappe Stunde ihrer stillsten Nacht wert. Man rettet den deutschen Wald ja nicht, indem man ‚O Tannenbaum‘ singt“, beendet Stern seine Dokumentation – und ahnt da wohl noch nicht, welche Reaktionen er mit seiner Arbeit auslösen wird. Er selbst erhält Morddrohungen. Und mit dem Thema befasst sich die Politik.

Medienjournalist Kammann: Stern hat möglicherweise zu viel erwartet

Stern habe sich dadurch ausgezeichnet, „radikal“ zu berichten, findet Uwe Kammann, der 1971 noch Student ist und später den Fachdienst „epd medien“ und das Grimme-Institut leiten wird. Stern habe zu seinen Überzeugungen gestanden und sich dabei nicht vor Lobbygruppen, wie im Fall der Doku den Jägern, gefürchtet, sagte Kammann im Deutschlandfunk. Die „Bemerkungen zum Rothirsch“ an Heiligabend um 20.15 Uhr zu senden, sei eine „mutige Entscheidung“ gewesen und so heute nicht mehr vorstellbar.
Auch heutzutage gebe es noch „tolle Sendungen mit großer Differenziertheit zu den einschlägigen Themen“, nur mache es die Vielfalt in den Mediatheken schwer, "das so zu erkennen". Inhaltlich sei die Darstellung außerdem insgesamt neutraler, so würden etwa verschiedene Standpunkte abgebildet. Allerdings werde dabei zum Teil zu „apokalyptisch“ auf Themen geschaut, kritisiert Kammann. Stern dagegen habe mit seinen Inhalten stets vermittelt, „kämpferisch“ zu bleiben. Dessen Botschaft habe gelautet: „Man kann was tun.“
Dass Stern sich später "resigniert" über die Wirkung seiner Arbeit geäußert habe, liegt Kammann zufolge daran, dass dieser "möglicherweise zu viel erwartet" habe.

Stern zieht Bilanz der Ohnmacht

Stern hört Mitte der Achtziger auf, als Journalist zu arbeiten. Und irgendwann auch damit, mit Medien über sich zu sprechen. In einem seiner letzten längeren Interviews im ZDF-Format „Zeugen des Jahrhunderts“ wird er gleich zu Beginn nach der Wirkung seiner Arbeit gefragt. „In der Sache“ sei diese „bescheiden geblieben“, antwortet der damals Mitte-Siebzigjährige.
Das sehe er daran, dass auch Jahrzehnte nach seiner aktiven Fernsehzeit „junge Kollegen mit der gleichen Thematik heute wieder auf den Schirm kommen“. Und zum Teil drehten die an denselben Orten, wie er, so Stern. Und stellt resigniert fest: „Ich habe nur in den Köpfen und Herzen der Ohnmächtigen was bewirkt, aber in den Köpfen der Mächtigen fast gar nichts.“
Mehr als 20 Jahre nach diesem Gespräch, 2019, stirbt Horst Stern im Alter von 96 Jahren.

„GEO“-Redakteur Carstens: Jeder kann sich informieren

Peter Carstens gehört zur nächsten Generation von Umweltjournalisten. Seit 2002 schreibt er für „GEO online“ über Themen wie Umwelt und Klimawandel. Beim Thema Jagd hat er andere Ansichten als Horst Stern. Dass zu wenig gejagt wurde und wird, findet er etwa nicht.
Die grundsätzliche Ohnmacht, die Stern empfunden hat, kann Carstens aber nachvollziehen. Noch immer würden Lobbygruppen maßgeblich die Politik beeinflussen, beispielsweise eine „Forstwirtschaft, der es vor allem um Festmeter Holz geht“. Das sei „ein schwer aufzulösendes Geflecht“, beobachtet er gegenüber dem Deutschlandfunk, „und wir werden sehen, was ein grüner Forst- und Landwirtschaftsminister da bewegen kann“.

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Rolle und Arbeit des Umweltjournalismus sieht der Redakteur dennoch grundsätzlich positiv. Während die ARD 1971 mit der Ausstrahlung von „Bemerkungen über den Rothirsch“ noch Pionierarbeit geleistet habe, gebe es heute kritische Berichterstattung in „ausreichender Menge“, findet Carstens. „Was die Fakten zu den Auswirkungen des Klimawandels betrifft, sind wir gut versorgt: Jeder kann das wissen, wenn er das möchte.“ Skeptisch sei er allerdings bei der Frage, „ob das Wissen ausreicht, um unser Handeln zu verändern“.
Bei der Jagd änderten sich irgendwann Gesetze und Fokus der Jagdtreibenden. Dennoch zeige das Beispiel des Waldes auch ein Dilemma des Umweltjournalismus auf, beobachtet Carstens: Nach der Jagd sei der saure Regen als Bedrohung aufgekommen, und heute seien es die Folgen der Klimakatastrophe und einer am kurzfristigen Ertrag orientierten Forstwirtschaft, die den Wald gefährdeten. Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten sei es, diese Probleme transparent zu machen. Doch handeln müssten dann eben auch andere.