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Die drei bis fünf Prozent Veränderer in der Gesellschaft

Einer der Vordenker der kapitalismuskritischen Schule ist der Sozialpsychologe Harald Welzer. Er setzt darauf, dass in jedem Bereich wenige Beteiligte - drei bis fünf Prozent - eine Veränderung anstoßen können.

Von Martin Hubert |
    Harald Welzers Buch ist auch das Buch einer persönlichen Entwicklung. Denn vor einigen Monaten verließ der bekannte Sozialpsychologe das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen, an dem er jahrelang gearbeitet hat. Er wollte nicht länger immer neue Daten über den Lauf der Welt sammeln, sondern die Welt selbst verändern. Nun ist er Direktor der Berliner Stiftung "Futur Zwei". Deren Motto heißt: Wir werden etwas getan haben. Welzer und seine Mitarbeiter wollen Geschichten von vorbildlichen Projekten erzählen, die in die Zukunft weisen: ökologisch, sozial, nicht an Wachstum und Profit orientiert. Einige solcher Geschichten finden sich auch in Welzers Buch.

    "Die GLS-Bank definiert als ihr Unternehmensziel eine "nachhaltige Gesellschaftsentwicklung". Zurzeit finanziert sie etwa 18.000 Projekte von der ökologischen Landwirtschaft bis zu Behinderteneinrichtungen."

    Welzer malt diese Geschichten jedoch erst im letzten Viertel seines Buches aus. Auf den vorherigen 250 Seiten versucht er zu begründen, warum er sie erzählt. Seine Frage lautet: Wie lässt sich die heutige Wachstumsgesellschaft verändern und warum muss man dabei auf Geschichten selbst denkender und handelnder Menschen bauen? Mal locker und sehr persönlich, mal wissenschaftlich argumentierend berührt Welzer dabei fast alle Aspekte eines Projekts der Gesellschaftsveränderung: Autonomie und Bündnispolitik, Utopie und Realismus, Freiheit und Verantwortung, Spaß und Widerstand. Warum aber überhaupt dieses große Wort: "Widerstand?" Für Welzer zerstört die Wachstums-und Konsumlogik der Gesellschaft nicht nur die natürlichen Ressourcen. Sie sei, schreibt er, fast schon zu unserer inneren Natur geworden und definiere unser Selbstverständnis als autonomes Individuum.

    "Es könnte sein, dass der heutige Totalitarismus ausgerechnet im Gewand der Freiheit auftritt: In jedem Augenblick alles haben und sein zu können, was man haben und sein zu wollen glaubt. Wenn diese Diagnose richtig ist, dann ist allerdings Widerstand nötig. Widerstand gegen die physische Zerstörung der künftigen Überlebenschancen. Widerstand gegen die freiwillige Hingabe der Freiheit. Widerstand gegen die Dummheit. Widerstand gegen die Verführbarkeit seiner selbst."

    Das sind starke Worte. Als Sozialpsychologe weiß Welzer jedoch, dass solche Deklarationen genauso wenig wie rationale Argumente reichen, um aus den verinnerlichten Zwängen herauszukommen, wie er sie unterstellt. Notwendig sei vielmehr eine neue Praxis, die sich immer schon an den Wünschen und Hoffnungen eines guten Lebens orientiert. Deshalb seien die Geschichten von Projekten, die in diese Richtung weisen, weiter zu tragen, sodass sich eine neue Kultur etabliert. In ihr wird lieber repariert, getauscht und geliehen statt immer wieder neu gekauft, regionale Güter- und Verkehrskreisläufe schonen die Ressourcen, Genossenschaften funktionieren mit verkürzter Arbeitszeit.

    "Alle diese höchst unterschiedlichen Projekte haben ein gemeinsames Merkmal: Sie verändern einen zum Teil winzigen Aspekt des gewöhnlichen Umgangs mit den Menschen und Dingen. Das Weitererzählen solcher Geschichten des Gelingens perforiert selbst schon die nur scheinbar hermetische Wirklichkeit. Aber: Das Schreiben einer solchen Geschichte darf man sich nicht gemütlich vorstellen. Sie wird nur unter der Voraussetzung wirkungsmächtig werden, dass in jedem gesellschaftlichen Segment, in jeder Schicht, in jedem Beruf, in jeder Funktion ein paar Prozent der Beteiligten beginnen, die Dinge anders zu machen: Es müssen drei bis fünf Prozent sein."

    Vieles von dem, was Welzer schreibt, kommt einem bekannt vor. Die Kritik des 68er an Konsumterror und manipuliertem Bewusstsein klingt genauso an wie basisdemokratische Konzepte einer Gesellschaftsveränderung durch exemplarische Projekte. Aber Welzer schreibt diese Ideen für eine Gegenwart fort, in der die ökonomische und ökologische Krise tatsächlich bedrohliche Züge angenommen hat. Und er setzt auf eine utopische Praxis, die das Realitätsprinzip nicht verleugnet. Es gibt keinen Masterplan, schreibt er, nur ein Experiment nach dem Motto: Ihr müsst risikoreich euer Leben ändern, wenn ihr die Gesellschaft ändern wollt.

    "Die Zukunft wird nur auf einem Weg zu erreichen sein, der selbst durch Irr- und Abwege, unpassierbare Stellen, gute Passagen, Steigungen und Gefälle, kurz: durch alles andere als Geradlinigkeit gekennzeichnet ist. Das ist keine Zukunft für Zwangscharaktere, weil man sich von vornherein als fehlerfreundlich verstehen muss. Wir wissen ja eben heute noch nicht, wie denn eine nachhaltige, moderne Welt aussieht, die frei, demokratisch, sicher, gerecht auf der Basis eines Ressourcenbedarfs ist, der gegenüber heute um den Faktor fünf bis zehn verringert ist. Also entwirft man den nächsten und allenfalls den übernächsten Schritt auf Probe und prüft, wie das Ergebnis jeweils ausfällt. Ob man weiterkommt oder nicht."

    Wie von selbst fallen einem beim Lesen dieses Buches serienweise Einwände ein. Ist es nicht zu individualistisch, kulturpessimistisch und moralisch, eine naive Münchhausiade? Der Mensch, verstrickt in die Wachstumslogik, soll sich irgendwie selbst aus deren Sumpf herausziehen? Fehlt nicht eine genaue Analyse des ökonomischen Systems und seiner globalen Abhängigkeiten? Unterschätzt Welzer nicht die Notwendigkeit politisch-strategischen Handelns? All das hat seine Berechtigung. Aber doch nicht ganz. Denn Welzer sieht beispielsweise durchaus die klassische politische Ebene, wenn er schreibt:

    "Eine Bürgerinitiative, die gegen die Interessen der großen Energieversorger arbeitet, braucht die Unterstützung der Kommune. Eine erfolgreiche Carsharing-Initiative braucht den Politiker, der eine andere Parkraumbewirtschaftung durchsetzt. Eine Nachhaltigkeitsinitiative in einem Unternehmensvorstand braucht den Betriebsrat."

    Welzers Buch spielt Kulturrevolution nicht gegen Politik aus. Es erkundet die psychologischen Aspekte einer zivilgesellschaftlichen Veränderung, die angesichts der Krisen in den letzten Jahren immer wieder einmal beschworen wurde. So etwas hat versucht werden müssen. Denn hier kann jeder überprüfen, ob er zu den drei bis fünf Prozent gehören will, denen eine nachhaltige Gesellschaft mit all ihren Anspruchsverlusten die Mühe wert ist.

    Buchinfos:
    Harald Welzer: "Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand", S. Fischer Verlag, ISBN: 978-3-100-89435-9, 336 Seiten, Preis: 19,99 Euro