Die fünf Punkte, die der Staatschef im Parlament in Kiew vorstellte, im Eizelnen
1. Bedingungslose Einladung in die NATO
In der NATO gibt es keinen Konsens in dieser Frage. Zwar betont die NATO-Führung regelmäßig, dass Kiew zukünftig dem Bündnis beitreten kann. Doch sprechen sich mehrere Bündnisstaaten öffentlich gegen eine solche Beitrittsperspektive aus. Eines der erklärten Kriegsziele Moskaus ist es auch, einen neutralen Status der Ukraine zu erzwingen.
Der neue NATO-Generalsekretär Rutte reagierte zurückhaltend. Zugleich betonte er, dass die Ukraine gestärkt werden müsse. Die Ukraine müsse "in der bestmöglichen Position" sein, wenn die Regierung in Kiew eines Tages entscheide, Gespräche zur Beendigung dieses Krieges aufzunehmen. Rutte verwies auf die Beschlüsse des jüngsten NATO-Gipfels in Washington. Dabei wurde noch einmal betont, dass eine formelle Einladung zum Beitritt erst ausgesprochen werden kann, wenn alle Alliierten zustimmen und alle Aufnahmebedingungen erfüllt sind. Dazu zählen Reformen in den Bereichen Demokratie, Wirtschaft und Sicherheitssektor.
2. Verteidigung stärken und den "Krieg nach Russland tragen"
Ein weiterer Punkt sieht eine Stärkung der Verteidigung gegen die russische Invasion vor. Zudem soll der Krieg auf das Gebiet Russlands ausgeweitet werden. "Das ist realistisch: Unsere Positionen auf dem Schlachtfeld in der Ukraine halten - und gleichzeitig den Krieg auf das Gebiet Russlands zurückbringen, damit die Russen wirklich spüren, was Krieg heißt", sagte Selenskyj. Ziel sei es, den Hass der Russen in Richtung des Kremls zu lenken. Zu diesem Zweck soll der seit August laufende Einsatz der ukrainischen Armee im russischen Grenzgebiet Kursk fortgesetzt werden.
Für die Umsetzung dieses Punkts ist auch eine Freigabe westlicher Waffen gegen Ziele weiter im russischen Hinterland erforderlich. Soweit bekannt haben bisher die USA, Großbritannien und Frankreich der Ukraine Raketen mit einer Reichweite von bis zu 300 Kilometern geliefert. Die USA lehnen diese Freigabe bislang ab. Beweglicher sieht die Position Großbritanniens aus. Bundeskanzler Scholz (SPD) lehnt die von Kiew geforderte Lieferung der Taurus-Marschflugkörper ab. CDU-Chef und Oppositionsführer Merz forderte im Bundestag hingegen erneut die Taurus-Übergabe an die Ukraine.
3. Die Ukraine zur Abschreckung aufrüsten
Außerdem sollen in der Ukraine mit der Hilfe westlicher Partner ausreichend konventionelle Waffen produziert und stationiert werden, um Russland von weiteren Angriffen abzuhalten. "Wenn Russland weiß, dass es eine Antwort geben wird, und begreift, wie diese Antwort aussieht, wählen sie Verhandlungen und eine stabile Koexistenz sogar mit strategischen Gegnern", erläuterte der Präsident das Vorhaben. Frieden solle so durch Stärke erzwungen werden.
Zwar fangen viele westliche Rüstungsfirmen an, in der Ukraine zu produzieren. Die notwendige weitere Finanzierung erhofft sich Selenskyj aber von den westlichen Staaten. Nach mehr als zweieinhalb Jahren beispielloser Hilfe fahren Länder wie die USA und Deutschland aber allmählich ihre Unterstützung zurück.
4. Zugriff auf ukrainische Rohstoffe
Die Ukraine verfüge über wertvolle Rohstoffe "im Wert von Billionen US-Dollar", sagte Selenskyj. Als Beispiele nannte er Uran, Titan, Lithium und Graphit. Die Frage sei, ob diese Ressourcen im globalen Wettbewerb an Russland und dessen Verbündete fielen oder bei der Ukraine und - wie er sagte - der demokratischen Welt verblieben. Mit diesem Vorschlag versucht Selenskyj, die westlichen Partner zu locken. Auch in Moskau wird oft damit argumentiert, dass Russland sich diese Rohstoffe sichern müsse.
5. Ukraine als europäische Sicherheitsmacht
Selenskyj sagte, dass die Ukraine nach einem Ende des russischen Angriffskrieges ihre militärische Erfahrung für die Sicherheit Europas und der NATO nutzen werde. Ihre kriegserprobten Soldaten könnten in Europa sogar US-Truppen ersetzen, sagte er. Dieser Vorschlag zielt offenbar auf die USA. Diese hoffen, ihr Engagement auf dem europäischen Kontinent zurückzufahren - ob unter republikanischer oder demokratischer Regierung. Der ukrainische Vorschlag würde aber eine komplizierte Abstimmung zwischen Washington, den europäischen Hauptstädten und Kiew erfordern.
Selenskyj hatte diesen Plan einschließlich weiterer nicht-öffentlicher Teile bereits in Washington, London, Paris, Rom und Berlin vorgestellt. An diesem Donnerstag ist eine Präsentation beim Europäischen Rat in Brüssel geplant. Der ukrainische Präsident hofft so, die Brücke zu einem zweiten Friedensgipfel zu schlagen, diesmal mit Beteiligung Russlands - und den Krieg im kommenden Jahr zu seinen Bedingungen zu beenden.
Moskaus Reaktion
Kremlsprecher Peskow sagte, er habe Selenskyjs Rede zwar nicht verfolgt, es handele sich aber um ein Diktat der USA. Dahinter stehe nichts anderes als die amerikanische Absicht, den Krieg weiterzuführen und "bis zum letzten Ukrainer gegen uns zu kämpfen". Peskow fügte hinzu, ein Ende des Krieges werde erst möglich, wenn die Ukraine die - wie er es nannte - Perspektivlosigkeit ihrer Politik einsehe. Russland hatte stets betont, den Krieg bis zum Erreichen aller Ziele zu führen, darunter auch die komplette Einverleibung der Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson, die Moskau nur zum Teil kontrolliert.
Der Chef des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma in Moskau, Sluzki, erklärte, der Plan mit "dreisten und provokativen Forderungen" sei ein klassischer Versuch, den Westen in einen direkten Krieg mit Russland hineinzuziehen - mit der Perspektive eines Übergangs zum Dritten Weltkrieg, Selenskyj wolle so die Verantwortung für die Vernichtung des ukrainischen Volkes abgeben und die Schuld für das Scheitern dem Westen geben. Es handele sich nicht um einen Siegesplan, sondern um einen "Plan zur Rettung vor der Niederlage". Selenskyj habe nicht einen Vorschlag zur Lösung des Konflikts gemacht.
Kritik aus der ukrainischen Opposition
In der prowestlichen Opposition wurde der fehlende ukrainische Anteil an Selenskyjs "Siegesplan" kritisiert. "In der Botschaft ging es nur um Forderungen an die Partner, und es gab kein Wort zu unseren Hausaufgaben, damit wir den Kriterien der NATO-Staaten entsprechen", schrieb die Abgeordnete Heraschtschenko von der Fraktion des Ex-Präsidenten Poroschenko auf Telegram. Der Präsident habe kein Wort zu Korruptionsbekämpfung verloren. Der Plan sei wenig realistisch und wirke wie ein Rahmen ohne Inhalt. "Wie sollen wir siegen? Die Partner werden das für uns nicht machen", sagte sie. Ihr Fraktionskollege Hontscharenko pflichtete ihr bei und verwies auf fehlende konkrete Schritte. In diesem Plan gebe es keinen Plan. "Es ist eine Reihe von Losungen und nicht mehr", schrieb er. Es wirke so, als ob jemand anderes alles für die Ukrainer tun solle.
(Quelle: Deutsche Presse-Agentur)
Diese Nachricht wurde am 16.10.2024 im Programm Deutschlandfunk gesendet.