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"Die Engländer haben ein anderes Verhältnis zu Menschen mit Behinderung"

Nie zuvor wurden so viele Eintrittskarten für die Paralympics verkauft wie in diesem Jahr. Der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes Julius Beucher ist begeistert von der Stimmung in London. Bereits die gestrige Eröffnungsfeier habe "alle fürchterlich jubeln lassen".

Julius Beucher im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Sandra Schulz: London ist bereit, so hat es Bürgermeister Boris Johnson gesagt, bereit für die wohl größten Paralympics der Geschichte, denn in den kommenden beiden Wochen treten rund 4200 Athletinnen und Athleten mit Behinderungen an, heute beginnen die Wettkämpfe. Die Londoner freuen sich kurz nach den Olympischen Spielen auf ein weiteres rauschendes Fest, und gestern Abend hat das mit der Eröffnungszeremonie begonnen.
    Wir wollen heute am ersten Wettkampftag vorausschauen, im Interview mit dem Präsidenten des Deutschen Behindertensportverbandes, mit Friedhelm Julius Beucher. Der ist gestern zwar auch spät ins Bett gekommen, aber jetzt trotzdem schon bei uns am Telefon. Guten Morgen!

    Friedhelm Julius Beucher: Guten Morgen, Frau Schulz.

    Schulz: Wer noch nie paralympischen Sport gesehen hat, den wird es vom Hocker hauen. Das sagt der Präsident des Organisationskomitees. Warum?

    Beucher: …, weil das einfach faszinierend ist, was Sportler mit Behinderung im Leistungssport zu leisten vermögen. Und wenn man das denn paart, die Hochleistungen, die wir hier in London zu erwarten haben, mit der Begeisterung des britischen Publikums, dann können das nur top und einmalige Spiele werden. Das erlebt man tagtäglich in den Straßen, das erlebt man in den Gesprächen mit den Menschen hier vor Ort, und da hat die Eröffnungsfeier, die weit über Mitternacht hinausging und uns alle hat fürchterlich jubeln lassen, wie man auch an meiner Stimme hören kann, schon einen Vorgeschmack gegeben, der eigentlich nicht mehr zu toppen ist.

    Schulz: Es sind ja auch so viele Tickets verkauft worden, wie bisher noch nie. Woher kommt das Interesse jetzt?

    Beucher: Die Engländer, glaube ich, haben ein anderes Verhältnis zu Menschen mit Behinderung. Die Gleichheit, die wir immer anstreben im täglichen Leben, und die Angleichung an die Lebensverhältnisse, das Schaffen gleicher Voraussetzungen, da hat man in vielen, vielen Fällen das Gefühl, dass das hier gegeben ist. Sie erleben Paralympics nicht nur begrenzt hier auf die Stadien, im Straßenbild, an den Reklametafeln, an den Flaggen, die die Straßen säumen; London ist seit langer Zeit vorbereitet auf den Empfang dieser vielen Tausend Sportlerinnen und Sportler aus aller Welt und sie lassen es die Menschen auch spüren.

    Schulz: Ist London ein Durchbruch, oder könnte das Interesse auch wieder einbrechen?

    Beucher: Ich glaube, es ist ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung mehr Wissen und mehr Kennen und mehr erfahren können über Paralympics und über den Sport von Menschen mit Behinderung. Ich glaube, das ist ein ganz gewaltiger und wichtiger Schritt in diese Richtung.

    Schulz: Geht das auch Hand in Hand damit, dass behinderte Menschen im Alltag, also keine Spitzensportler, es einfacher haben?

    Beucher: Ich sehe das als eine Konsequenz, die daraus folgt, durch mehr Wahrnehmung erfolgt mehr Bewusstsein und über mehr Bewusstsein erfolgt mehr Veränderung, und wir haben in Deutschland die Inklusionsdebatte, die die Teilhabe gesetzlich regeln will und soll, und das kann nur zum Guten werden und das kann nur Vorteile bringen. Deshalb ist auch dieses paralympische Ereignis hier in London so wichtig.

    Schulz: Da ist der Sport der Motor?

    Beucher: Früher habe ich immer gesagt, Sport ist eine unwahrscheinlich gute Integrationsmöglichkeit, und das hat auch Motorcharakter. Das treibt an und ja, Sport ist Motor für Angleichung zu Lebensverhältnissen von Menschen mit Behinderung.

    Schulz: Es ging jetzt zuletzt auch um eine Frage, die eigentlich nicht so furchtbar viel mit dem olympischen oder paralympischen Gedanken zu tun hat, nämlich ums Geld, um die Prämien für Goldmedaillen. Da bekommen die Athleten bei den Olympischen Spielen immer noch die doppelte Prämie. Ist der Sieg eines Behinderten nur die Hälfte wert?

    Beucher: Rechnerisch mag das diesen Eindruck erwecken, aber wenn wir sehen, wo wir angefangen haben, dann ist das ein erfreulicher Schritt in die richtige Richtung, und die Sporthilfe kann auch nur das Geld verteilen, was sie hat. Wir sind mit der Sporthilfe weiter im Gespräch, wir hoffen aber auch auf mehr Sponsoren und freuen uns, dass wir zunächst das erreicht haben, aber sagen deutlich, dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange ist.

    Schulz: Wie wichtig sind, abgesehen vom Geld, die Medaillen?

    Beucher: Ich zähle immer die Medaillen erst am Ende von Wettkämpfen, denn der Sportler, der von uns nach London geschickt wird, der hat bereits Höchstleistungen erbracht, der hat mit dem Erreichen der Qualifikation gezeigt, dass er zu den besten der Welt zählt. Und wer dann noch unter die ersten zehn hier bei den Wettkämpfen kommt, der darf sich zu den Allerbesten zählen, denn Sie wissen: Im Sport entscheidet oft nur eine Sekunde darüber, ob Sie auf den Moment in Ihrem Wettkampf die Leistung bringen können, die Sie schon an anderer Stelle einmal gezeigt haben, bei dem Erwerb von Weltmeistertiteln oder Worldcup-Gewinnen. Das ist die Faszination und Tragik vom Sport zugleich, dass es auf diese auch manchmal Hundertstelsekunde passen muss, dass Sie Ihre Leistungen abrufen können. Deshalb hoffe ich, dass das erreicht wird, und setze vorher den Sportler nicht unter Druck, dass er es erreichen muss.

    Schulz: Wie sind denn die Medaillenchancen des deutschen Teams?

    Beucher: Gut! Sie sind einfach gut. Sie zählen mit zur Weltspitze im internationalen Behindertensport und deshalb gehe ich mit großer Neugierde, aber auch Vorfreude in die Wettkampftage.

    Schulz: …, sagt hier im Deutschlandfunk Friedhelm Julius Beucher - wir geben Ihnen jetzt Gelegenheit, Ihre Stimme wieder zu schonen -, Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes und gestern lange bei der Eröffnungsfeier in London, hier in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Danke!


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