Noch rollen die Züge im morgendlichen Berufsverkehr planmäßig in den Kölner Hauptbahnhof ein. Vor der Anzeigetafel am Haupteingang stehen Reisende, Koffer und Taschen in der Hand, auf der Suche nach dem richtigen Gleis. Die Abfahrtszeiten entsprechen dem Fahrplan.
Daran wird sich auch vorerst nichts ändern. Denn das Arbeitsgericht Nürnberg hat heute morgen den geplanten Streik der Lokführer verboten. Dagegen hat ihre Gewerkschaft, die GDL, umgehend Widerspruch eingelegt. Denn sie möchte nur zu gern für einen eigenen Tarifvertrag streiken dürfen.
Was es bedeutet, wenn die Mitarbeiter der Bahn in den Ausstand treten, haben die Fahrgäste erst vor einem Monat beim jüngsten Warnstreik zu spüren bekommen.
"Ich wollte nach Jena, ich habe da eine Verhandlung. Die wird jetzt wohl ausfallen müssen."
"Ich komme jetzt zu spät zur Arbeit. Ich muss bis um neun Uhr nach Neuss und muss noch zweieinhalb Stunden hier rumstehen."
"Nach Freiburg. Das ist extrem blöd, weil ich die Kinder zu Hause habe und um elf zu Hause sein muss. Da weiß ich nicht was ich mache. Aber jetzt hier rumtoben, hat ja auch keinen Sinn."
Die Angst der Fahrgäste vor stundenlangen Verspätungen ist der Trumpf der GDL. Und so hält Manfred Schell an seiner Forderung nach rund 30 Prozent mehr Lohn fest. Der Chef der kleinen Lokführer-Gewerkschaft mit nur 12.000 Mitgliedern, gibt sich kompromisslos:
"Das tragfähige Angebot bedingt als allererstes einen eigenständigen Tarifvertrag. Über alles andere können wir verhandeln, aber diese Forderung nach eigenständigem Tarifvertrag ist nicht verhandelbar."
Sven Schmitte ist ICE-Lokführer. Er hat zwar gerade Urlaub, will aber trotzdem seine Kollegen unterstützen, wenn es denn zum Streik kommt. Sven Schmitte ist unzufrieden. Für die Verantwortung, die er zu tragen habe, verdiene er einfach lächerlich wenig, sagt der 28jährige:
"Wenn ich dann sehe, dass ich im Schnitt im Jahr ohne das Weihnachtsgeld wirklich auf 1.500 Euro, teilweise darunter liege ... Wenn ich dann Urlaub habe, liege ich bei 1.300 Netto bei Steuerklasse 1, dann finde ich, dass man da unzufrieden sein kann, weil ich 365 Tage im Jahr flexibel einsetzbar bin und das auch freiwillig mache, komme an jedem Wochenende, wenn es sein muss. Teilweise ist nur ein Wochenende im Monat komplett frei, bin 24 Stunden einsetzbar, fange teilweise um drei Uhr oder um 2.30 Uhr an, muss um ein Uhr morgens aufstehen, finde ich, dass die Flexibilität da doch sehr hoch ist."
Die Lokführer bestehen auf ihrer Sonderrolle. Sie wollen sich nicht mit dem Tarifabschluss, der seit einem Monat eigentlich für alle Beschäftigten der Deutschen Bahn gelten sollte, abfinden. Diesen hatten die beiden anderen Bahngewerkschaften Transnet und GDBA zusammen ausgehandelt. Er sieht eine Lohnerhöhung von 4,5 Prozent und eine Einmalzahlung in Höhe von 600 Euro vor.
Das reicht den Lokführern der GDL aber nicht aus. Sie fühlen sich unverstanden und ausgegrenzt. Bei den Tarifverhandlungen für die Bahnbeschäftigten seien sie stets in der Minderheit gewesen. Ihre speziellen Forderungen würden deshalb nie berücksichtigt, bemängelt Lokführer Sven Schmitte.
"Da sind wir im Tarifgespräch immer die Minderheit, und der Großteil der Bahn versteht gar nicht, was wir für Probleme haben. Da werden wir im Prinzip immer überstimmt und ziehen immer den Kürzeren."
Bereits vor vier Jahren hatten die Lokführer versucht, sich von den beiden anderen Gewerkschaften, Transnet und GDBA, abzugrenzen. Auch damals wurde den Lokführern ein Streik gerichtlich untersagt, und sie gaben klein bei. Diesmal allerdings wollen sie sich nicht mit der Einstweiligen Verfügung nicht abspeisen lassen. Ihr Ziel bleibt ein eigener Tarifvertrag.
Ein Kurs, der vor allem beim Deutschen Gewerkschaftsbund auf Kritik stößt. Denn dessen acht Mitgliedsgewerkschaften halten nichts von Einzeltarifverträgen für bestimmte Berufsgruppen. Sie haben den Anspruch, im Namen aller Beschäftigten eines Unternehmens mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Ihr Ziel: Ein Tarifvertrag für alle, betont Rainer Bischoff, DGB-Vorsitzender der Region Niederrhein:
"Wir haben das Prinzip, dass eine Gewerkschaft für einen Betrieb zuständig ist, und zwar für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Betriebes. Das ist ein ganz wichtiger Bestandteil unserer Geschichte, weil das auch die Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus war, dass wir keine Richtungsgewerkschaften wollten, sondern eine Einheitsgewerkschaft. Das kann bis dahin gehen, dass Beamte, Angestellte und auch Arbeiter alle in einer Gewerkschaft organisiert sind. Und dieses Prinzip wird natürlich durch die Frage der GDL oder auch der Piloten von Cockpit nachdrücklich verletzt. Das heißt, es stört uns sehr."
Die Lokführer sind nicht die Einzigen, die nichts von Einheitsgewerkschaften halten. Zuerst gelang es der Pilotenvereinigung Cockpit, einen eigenen Tarifvertrag zu erstreiken. Deutliche Gehaltserhöhungen waren die Folge. Seitdem tritt Cockpit gegenüber den Luftfahrtunternehmen selbstbewusst auf und verleiht den Interessen seiner Mitglieder notfalls mit Warnstreiks Nachdruck, wie jüngst bei Air Berlin.
Im vergangenen Jahr sind dann die Klinikärzte dem Beispiel gefolgt. Zuvor hatte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bereits einen Tarifvertrag für alle Klinikangestellten ausgehandelt, mit moderaten Lohnsteigerungen. Zuwenig, sagte der Marburger Bund und entschloss sich zum Alleingang. Die Ärzte erstritten sich bei den klammen kommunalen Krankenhäusern einen eigenen Tarifvertrag. Beim Gehalt wurde deutlich draufgelegt. Ein längst überfälliges Zugeständnis, meint Armin Ehl, der Geschäftsführer des Marburger Bundes:
"Die Ärzte werden in den Krankenhäusern, mit Ausnahme der Chefärzte, - ich sage jetzt mal ein pathetisches Wort - gedemütigt. Sie müssen sehr viel arbeiten, sie bekamen sehr kurz befristete Verträge. Das wurde übrigens sehr stark deutlich auf einem Plakat, das bei den Demonstrationen mitgeführt wurde, da stand drauf: Das ist kein Ärztestreik, das ist ein Sklavenaufstand."
Die Kritik von Verdi, der Marburger Bund spalte die Belegschaft, prallte an dessen Vorsitzendem, Frank Ulrich Montgomery, ab. Geschickt verkaufte er das Anliegen der Ärzte nicht zuletzt gegenüber den Medien und gab keinen Deut nach, bis die Kliniken aus Angst vor Millionenverlusten einknickten. Man bereue den Bruch mit Verdi nicht, allein sei der Marburger Bund einfach erfolgreicher, sagt Armin Ehl:
"Wir waren ja nicht mit Verdi verheiratet, sondern wir haben aus ganz praktischen Erwägungen heraus über viele Jahre die Verhandlungsvollmacht in Sachen Tarife an die DAG, später dann an Verdi abgetreten. Aber auch da hat man festgestellt, dass in den vergangenen zehn Jahren für die oberen Vergütungsgruppen, und dazu gehören nun mal die Ärztinnen und Ärzte auch, zu realen Einkommensverlusten kam, während untere Vergütungsgruppen reale Einkommenszuwächse zu verzeichnen hatten. Das war für uns nicht erträglich."
Ähnlich argumentieren nun auch die Lokführer. Dass künftig noch mehr Berufsgruppen dem Beispiel von Cockpit folgen, steht nach Einschätzung des Tarifexperten beim Institut der deutschen Wirtschaft, Hagen Lesch, allerdings nicht zu befürchten.
"Das ist der Machtfaktor. Sie brauchen nur das Beispiel zu nehmen: Den Piloten können Sie nicht beliebig ersetzen, den Lokführer auch nicht. Wenn sie im Einzelhandel die Kassiererinnen zu einem Berufsverband zusammenschließen und für die höhere Gehälter durchsetzen wollten, dann kann notfalls auch der Filialleiter sich mal an die Kasse setzen, um den Kunden zu bedienen. Da gibt erst einfach die Möglichkeit über Zeitarbeit oder Ähnliches ... Die Berufsgruppe ist zahlreich vorhanden, man kann sie austauschen, während das bei den Lokführern, Ärzten oder Piloten halt nicht geht."
Den übrigen Gewerkschaften bleibt dagegen nur zähes Ringen um moderate Tariferhöhungen. Allerdings variiert auch bei den acht Mitgliedsorganisationen des DGB die Verhandlungsmacht. So sind zum Beispiel in der Metallbranche sehr viel mehr Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert als im Einzelhandel. Dementsprechend habe die IG Metall eine bessere Position als die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, erläutert Heiner Dribbusch, Tarifexperte bei der gewerkschaftsnahen Böckler-Stifung:
"Der Einzelhandel ist eine Branche, in der es seit zehn Jahren keine einzige Tarifrunde gegeben hat, wo es ganz klar die Unternehmerseite ist, die sich, wie in diesem Jahr auch, nachhaltig Verhandlungslösungen verweigert und darauf setzt, dass es Gewerkschaften, im Einzelhandel ist es Verdi, sehr schwer fällt, in einer Einzelhandelslandschaft, die sich durch viele, viele Kleinbetriebe und eine große Zersplitterung der Beschäftigten auszeichnet, nachhaltig wirtschaftlichen Druck durch einen Streik zu erzeugen."
Hinzu kommt, dass für immer weniger Beschäftigte ein Tarifvertrag gilt. Gerade mal in jedem zweiten Unternehmen werden die Mitarbeiter noch nach Tarif bezahlt. Ein weiteres Problem: Die Gewerkschaften haben in den vergangenen 15 Jahren insgesamt rund die Hälfte ihrer Mitglieder verloren und somit Drohpotenzial eingebüßt. Von knapp zwölf Millionen im Jahr 1992 ging die Zahl auf gut 6,5 Millionen zurück. Diese Entwicklung habe vor allem eine Ursache, sagt Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft:
"Die Gewerkschaften haben das Problem, dass sie in ihrer Struktur die Beschäftigungsstruktur, die wir heute vorfinden, nicht mehr abbilden. Es sind sehr viele Arbeiter in Gewerkschaften organisiert, sehr wenige Angestellte. Auch Beamte sind stark organisiert. Aber gerade der Beschäftigtenanteil der Beamten und auch der Arbeiter ist rückläufig, während der Anteil der Angestellten steigt. Und darauf haben die Gewerkschaften noch keine Antwort gefunden. Wie organisiere ich die wachsende Gruppe der Angestellten, insbesondere im Dienstleistungsbereich?"
Dem Deutschen Gewerkschaftsbund ist das Problem durchaus bewusst. Allerdings sei es extrem schwer, in der heutigen Arbeitswelt Menschen für ein solidarisches Projekt zu gewinnen, sagt Doro Zinke, stellvertretende DGB-Vorsitzende im Bezirk Berlin-Brandenburg:
"Das Problem ist, dass die jungen Leute mit so vielen verschiedenen und verrückten Beschäftigungsformen konfrontiert werden, dass die kaum noch in Betrieben anlanden, wo es ganz normal einen Betriebsrat gibt, wo der Betriebsrat und die Jugendorganisationen von Anfang an auf die Leute zugehen und sagen: Pass mal auf, hier ist ein organisierter Betrieb und wir wollen möglichst wenig Leute, die aus der Reihe tanzen, hier ist der Aufnahmeschein. Und da gibt es auch Möglichkeiten, die Leute zu integrieren in diesen alten Strukturen. Die neuen Strukturen werden immer kleiner. Es wird immer mehr outgesourct, es gibt immer mehr Subunternehmer bis hin zu den allerletzten Selbständigen und Scheinselbständigen. Da gibt es nicht mehr diese selbstverständlichen Organisationsansätze."
Deswegen wünscht sich wohl so mancher DGB-Funktionär die guten alten Zeiten zurück, als die Mitgliederzahlen alle zehn Jahre um rund eine Million stiegen und die Welt noch in Ordnung war.
Man schreibt den 12. Oktober 1949, als sich Gewerkschafter aus ganz Deutschland in München versammeln, um den Deutschen Gewerkschaftsbund zu gründen.
"Soeben haben sich die 16 Vorsitzenden der Industriegewerkschaften und die Mitglieder des Gewerkschaftsrates zu einem Pult begeben. Ein Pult, auf dem die Gründungsurkunde des neuen Gewerkschaftsbundes aufgelegt worden ist. Als erster unterzeichnet nun Hans Böckler, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes."
Für den damals schon über 70-jährigen Hans Böckler geht ein Lebenstraum in Erfüllung: Eine einheitlich Dachorganisation für alle Gewerkschaften, die im Nachkriegsdeutschland als Ansprechpartner von Unternehmen und Politik ein deutliches Wort mitreden will.
"Heute stehen die arbeitenden Menschen ohne Rücksicht auf parteipolitische und weltanschauliche Unterschiede in echter Verbundenheit zusammen. Wir haben den ehrlichen Willen, diese Gewerkschaft so zu gestalten, dass sie allen Arbeitnehmern künftig eine echte Heimat ist."
Die Generation Hans Böcklers hatte aus den Fehlern der Weimarer Republik gelernt: Sie wussten, dass die Gewerkschaften durchaus nicht unschuldig waren am Scheitern der Demokratie. Während der Wirtschaftskrise hatten sie erbittert gegen die Unternehmer gefochten und die antidemokratische Stimmung mit angeheizt.
Die Westmächte und die westdeutschen Politiker vertrauen dem DGB von Anfang an. Und so ist es für den ersten Bundestagspräsidenten, Erich Köhler, eine Ehre, auf dem Gründungskongress ein Grußwort zu sprechen:
"Die Demokratie schützt die Gewerkschaften, und die Gewerkschaften sind eine wesentliche Stütze der Demokratie. Diese These aufzustellen fühle ich mich berechtigt, angesichts der Entwicklung der letzten vier Jahre, angesichts der Tatsache, mit welcher hervorragender Diszipliniertheit die Politik seitens der Gewerkschaften geführt worden ist, in all den schwierigen Verhältnissen, die wir hinter uns haben und in denen wir heute noch leben."
Der Staat hält sich in der Bundesrepublik von Anfang an aus den Auseinandersetzungen um Löhne und Gehälter heraus. Die viel beschworene "Tarif-Autonomie" wird bis heute nicht angetastet, auch wenn immer weniger Beschäftigte tatsächlich nach Tarif bezahlt werden. So ist es nicht verwunderlich, dass die Gewerkschaften mittlerweile für einen Mindestlohn eintreten.
In der DDR wird unterdessen der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund zur Stütze des SED-Regimes. Er verwaltet die Sozialversicherung, schult Parteifunktionäre und organisiert Ferienlager. Als Interessenvertretung der Beschäftigten in den Betrieben ist er dagegen weitgehend bedeutungslos.
In der BRD hingegen reklamieren die Einzelgewerkschaften unter dem Dach des DGB mit immer größerem Selbstbewusstsein ihren Anteil an den Gewinnen der Wirtschaftswunderjahre. Die Verbundenheit mit der Sozialdemokratie versteht sich dabei für viele DGB-Funktionäre wie von selbst. Bis die SPD unter Gerhard Schröder die Agenda 2010 verabschiedet. Die Gewerkschaften protestieren seitdem offen gegen die aus ihrer Sicht neoliberalen Hartz-Gesetze.
Das geht dem DGB dann doch zu weit, auch wenn die Gewerkschaften längst eingesehen haben, dass auch vor Deutschland die Globalisierung nicht halt macht. In der Tarifpolitik geht es für sie mittlerweile häufig vor allem darum, Zugeständnisse zu machen, um weiteren Arbeitsplatzabbau zu verhindern. So unterschreibt die IG Metall das sogenannte Pforzheimer Abkommen. Abweichungen vom Flächentarifvertrag sind danach nicht nur möglich, um die Pleite eines Unternehmens abzuwenden, sondern auch, um dessen langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
In anderen Branchen, zum Beispiel in der Finanzsparte, geraten die Gewerkschaften noch stärker in die Defensive. Vor einem Jahr kündigt der Allianz-Konzern an, trotz Milliardengewinn 7.500 Stellen zu streichen und die Niederlassungen in Nordrhein-Westfalen ganz dicht zu machen. Die Betriebsräte kämpfen daraufhin auf quasi verlorenem Posten. Die Mitarbeiter, die lange Jahre ihren Arbeitsplatz als eine Art Lebensversicherung angesehen hatten, verstehen die Welt nicht mehr. Zunächst habe keiner gewusst, wie man kämpfe, sagt die Kölner Betriebsrätin Gabriele Burghardt-Berg:
"Ich selbst bin 30 Jahre bei der Allianz, und ich bin einmal sehr stolz darauf gewesen, dass man mit mir als Mitarbeiter fair umgeht, dass Leistung und Gegenleistung zählt, dass wir insgesamt in einem Unternehmen arbeiten, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Das ist wohl vorbei."
Nach monatelangen Verhandlungen kann aber dann wenigstens der Standort Köln gesichert werden. Auch wenn der Stellenabbau nicht mehr zu verhindern ist, merken die Beschäftigten, dass sie ohne Gewerkschaften noch einen viel schlechteren Stand gehabt hätten. Und so können sich die Verdi-Funktionäre über zahlreiche neue Mitgliedsanträge freuen. Er habe seit dem vergangenen Jahr einen viel besseren Stand, sagt Rainer Klein, Verdi-Sekretär in Köln:
"Alleine, wie man begrüßt wird, auf der letzten Betriebsversammlung. Früher gab es höflichen Applaus, wenn der Verdi-Vertreter vorgestellt wurde. Inzwischen gibt es starken Applaus, nach dem Motto: gut dass ihr da seid. Und daran arbeiten wir natürlich, weil es ist ein Vertrauensvorschuss."
Der Erhalt von Arbeitsplätzen statt Lohnerhöhungen - nicht nur in der Versicherungsbranche werden sich die Gewerkschaften nach Einschätzung des Experten Hagen Lesch künftig auf Schadensbegrenzung beschränken müssen. Deswegen sollten sie dringend lernen, ihre Verhandlungserfolge, und seien sie noch so klein, anders zu verkaufen:
"Ich würde es an Gewerkschaftsstelle ganz anders machen. Ich würde es viel offensiver angehen und als Erfolg verkaufen, und wenn man das kann, dann besteht auch die Chance, über innerbetriebliche Bündnisse wieder gewerkschaftliche Milieus zu schaffen, die dann auch möglicherweise dazu führen, dass wieder mehr Leute beitreten. Denn es ist ja immer eine gewisse kritische Masse notwendig, damit man überhaupt einer kollektiven Organisation beitritt. Und gerade durch diese Bündnisse haben die Gewerkschaften die Chance, diese heterogenen Belegschaften ein Stück weit zu einen und homogen zu machen, dass sie sich quasi alle wieder von der Gewerkschaft vertreten lassen."
Daran wird sich auch vorerst nichts ändern. Denn das Arbeitsgericht Nürnberg hat heute morgen den geplanten Streik der Lokführer verboten. Dagegen hat ihre Gewerkschaft, die GDL, umgehend Widerspruch eingelegt. Denn sie möchte nur zu gern für einen eigenen Tarifvertrag streiken dürfen.
Was es bedeutet, wenn die Mitarbeiter der Bahn in den Ausstand treten, haben die Fahrgäste erst vor einem Monat beim jüngsten Warnstreik zu spüren bekommen.
"Ich wollte nach Jena, ich habe da eine Verhandlung. Die wird jetzt wohl ausfallen müssen."
"Ich komme jetzt zu spät zur Arbeit. Ich muss bis um neun Uhr nach Neuss und muss noch zweieinhalb Stunden hier rumstehen."
"Nach Freiburg. Das ist extrem blöd, weil ich die Kinder zu Hause habe und um elf zu Hause sein muss. Da weiß ich nicht was ich mache. Aber jetzt hier rumtoben, hat ja auch keinen Sinn."
Die Angst der Fahrgäste vor stundenlangen Verspätungen ist der Trumpf der GDL. Und so hält Manfred Schell an seiner Forderung nach rund 30 Prozent mehr Lohn fest. Der Chef der kleinen Lokführer-Gewerkschaft mit nur 12.000 Mitgliedern, gibt sich kompromisslos:
"Das tragfähige Angebot bedingt als allererstes einen eigenständigen Tarifvertrag. Über alles andere können wir verhandeln, aber diese Forderung nach eigenständigem Tarifvertrag ist nicht verhandelbar."
Sven Schmitte ist ICE-Lokführer. Er hat zwar gerade Urlaub, will aber trotzdem seine Kollegen unterstützen, wenn es denn zum Streik kommt. Sven Schmitte ist unzufrieden. Für die Verantwortung, die er zu tragen habe, verdiene er einfach lächerlich wenig, sagt der 28jährige:
"Wenn ich dann sehe, dass ich im Schnitt im Jahr ohne das Weihnachtsgeld wirklich auf 1.500 Euro, teilweise darunter liege ... Wenn ich dann Urlaub habe, liege ich bei 1.300 Netto bei Steuerklasse 1, dann finde ich, dass man da unzufrieden sein kann, weil ich 365 Tage im Jahr flexibel einsetzbar bin und das auch freiwillig mache, komme an jedem Wochenende, wenn es sein muss. Teilweise ist nur ein Wochenende im Monat komplett frei, bin 24 Stunden einsetzbar, fange teilweise um drei Uhr oder um 2.30 Uhr an, muss um ein Uhr morgens aufstehen, finde ich, dass die Flexibilität da doch sehr hoch ist."
Die Lokführer bestehen auf ihrer Sonderrolle. Sie wollen sich nicht mit dem Tarifabschluss, der seit einem Monat eigentlich für alle Beschäftigten der Deutschen Bahn gelten sollte, abfinden. Diesen hatten die beiden anderen Bahngewerkschaften Transnet und GDBA zusammen ausgehandelt. Er sieht eine Lohnerhöhung von 4,5 Prozent und eine Einmalzahlung in Höhe von 600 Euro vor.
Das reicht den Lokführern der GDL aber nicht aus. Sie fühlen sich unverstanden und ausgegrenzt. Bei den Tarifverhandlungen für die Bahnbeschäftigten seien sie stets in der Minderheit gewesen. Ihre speziellen Forderungen würden deshalb nie berücksichtigt, bemängelt Lokführer Sven Schmitte.
"Da sind wir im Tarifgespräch immer die Minderheit, und der Großteil der Bahn versteht gar nicht, was wir für Probleme haben. Da werden wir im Prinzip immer überstimmt und ziehen immer den Kürzeren."
Bereits vor vier Jahren hatten die Lokführer versucht, sich von den beiden anderen Gewerkschaften, Transnet und GDBA, abzugrenzen. Auch damals wurde den Lokführern ein Streik gerichtlich untersagt, und sie gaben klein bei. Diesmal allerdings wollen sie sich nicht mit der Einstweiligen Verfügung nicht abspeisen lassen. Ihr Ziel bleibt ein eigener Tarifvertrag.
Ein Kurs, der vor allem beim Deutschen Gewerkschaftsbund auf Kritik stößt. Denn dessen acht Mitgliedsgewerkschaften halten nichts von Einzeltarifverträgen für bestimmte Berufsgruppen. Sie haben den Anspruch, im Namen aller Beschäftigten eines Unternehmens mit dem Arbeitgeber zu verhandeln. Ihr Ziel: Ein Tarifvertrag für alle, betont Rainer Bischoff, DGB-Vorsitzender der Region Niederrhein:
"Wir haben das Prinzip, dass eine Gewerkschaft für einen Betrieb zuständig ist, und zwar für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dieses Betriebes. Das ist ein ganz wichtiger Bestandteil unserer Geschichte, weil das auch die Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus war, dass wir keine Richtungsgewerkschaften wollten, sondern eine Einheitsgewerkschaft. Das kann bis dahin gehen, dass Beamte, Angestellte und auch Arbeiter alle in einer Gewerkschaft organisiert sind. Und dieses Prinzip wird natürlich durch die Frage der GDL oder auch der Piloten von Cockpit nachdrücklich verletzt. Das heißt, es stört uns sehr."
Die Lokführer sind nicht die Einzigen, die nichts von Einheitsgewerkschaften halten. Zuerst gelang es der Pilotenvereinigung Cockpit, einen eigenen Tarifvertrag zu erstreiken. Deutliche Gehaltserhöhungen waren die Folge. Seitdem tritt Cockpit gegenüber den Luftfahrtunternehmen selbstbewusst auf und verleiht den Interessen seiner Mitglieder notfalls mit Warnstreiks Nachdruck, wie jüngst bei Air Berlin.
Im vergangenen Jahr sind dann die Klinikärzte dem Beispiel gefolgt. Zuvor hatte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bereits einen Tarifvertrag für alle Klinikangestellten ausgehandelt, mit moderaten Lohnsteigerungen. Zuwenig, sagte der Marburger Bund und entschloss sich zum Alleingang. Die Ärzte erstritten sich bei den klammen kommunalen Krankenhäusern einen eigenen Tarifvertrag. Beim Gehalt wurde deutlich draufgelegt. Ein längst überfälliges Zugeständnis, meint Armin Ehl, der Geschäftsführer des Marburger Bundes:
"Die Ärzte werden in den Krankenhäusern, mit Ausnahme der Chefärzte, - ich sage jetzt mal ein pathetisches Wort - gedemütigt. Sie müssen sehr viel arbeiten, sie bekamen sehr kurz befristete Verträge. Das wurde übrigens sehr stark deutlich auf einem Plakat, das bei den Demonstrationen mitgeführt wurde, da stand drauf: Das ist kein Ärztestreik, das ist ein Sklavenaufstand."
Die Kritik von Verdi, der Marburger Bund spalte die Belegschaft, prallte an dessen Vorsitzendem, Frank Ulrich Montgomery, ab. Geschickt verkaufte er das Anliegen der Ärzte nicht zuletzt gegenüber den Medien und gab keinen Deut nach, bis die Kliniken aus Angst vor Millionenverlusten einknickten. Man bereue den Bruch mit Verdi nicht, allein sei der Marburger Bund einfach erfolgreicher, sagt Armin Ehl:
"Wir waren ja nicht mit Verdi verheiratet, sondern wir haben aus ganz praktischen Erwägungen heraus über viele Jahre die Verhandlungsvollmacht in Sachen Tarife an die DAG, später dann an Verdi abgetreten. Aber auch da hat man festgestellt, dass in den vergangenen zehn Jahren für die oberen Vergütungsgruppen, und dazu gehören nun mal die Ärztinnen und Ärzte auch, zu realen Einkommensverlusten kam, während untere Vergütungsgruppen reale Einkommenszuwächse zu verzeichnen hatten. Das war für uns nicht erträglich."
Ähnlich argumentieren nun auch die Lokführer. Dass künftig noch mehr Berufsgruppen dem Beispiel von Cockpit folgen, steht nach Einschätzung des Tarifexperten beim Institut der deutschen Wirtschaft, Hagen Lesch, allerdings nicht zu befürchten.
"Das ist der Machtfaktor. Sie brauchen nur das Beispiel zu nehmen: Den Piloten können Sie nicht beliebig ersetzen, den Lokführer auch nicht. Wenn sie im Einzelhandel die Kassiererinnen zu einem Berufsverband zusammenschließen und für die höhere Gehälter durchsetzen wollten, dann kann notfalls auch der Filialleiter sich mal an die Kasse setzen, um den Kunden zu bedienen. Da gibt erst einfach die Möglichkeit über Zeitarbeit oder Ähnliches ... Die Berufsgruppe ist zahlreich vorhanden, man kann sie austauschen, während das bei den Lokführern, Ärzten oder Piloten halt nicht geht."
Den übrigen Gewerkschaften bleibt dagegen nur zähes Ringen um moderate Tariferhöhungen. Allerdings variiert auch bei den acht Mitgliedsorganisationen des DGB die Verhandlungsmacht. So sind zum Beispiel in der Metallbranche sehr viel mehr Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert als im Einzelhandel. Dementsprechend habe die IG Metall eine bessere Position als die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, erläutert Heiner Dribbusch, Tarifexperte bei der gewerkschaftsnahen Böckler-Stifung:
"Der Einzelhandel ist eine Branche, in der es seit zehn Jahren keine einzige Tarifrunde gegeben hat, wo es ganz klar die Unternehmerseite ist, die sich, wie in diesem Jahr auch, nachhaltig Verhandlungslösungen verweigert und darauf setzt, dass es Gewerkschaften, im Einzelhandel ist es Verdi, sehr schwer fällt, in einer Einzelhandelslandschaft, die sich durch viele, viele Kleinbetriebe und eine große Zersplitterung der Beschäftigten auszeichnet, nachhaltig wirtschaftlichen Druck durch einen Streik zu erzeugen."
Hinzu kommt, dass für immer weniger Beschäftigte ein Tarifvertrag gilt. Gerade mal in jedem zweiten Unternehmen werden die Mitarbeiter noch nach Tarif bezahlt. Ein weiteres Problem: Die Gewerkschaften haben in den vergangenen 15 Jahren insgesamt rund die Hälfte ihrer Mitglieder verloren und somit Drohpotenzial eingebüßt. Von knapp zwölf Millionen im Jahr 1992 ging die Zahl auf gut 6,5 Millionen zurück. Diese Entwicklung habe vor allem eine Ursache, sagt Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft:
"Die Gewerkschaften haben das Problem, dass sie in ihrer Struktur die Beschäftigungsstruktur, die wir heute vorfinden, nicht mehr abbilden. Es sind sehr viele Arbeiter in Gewerkschaften organisiert, sehr wenige Angestellte. Auch Beamte sind stark organisiert. Aber gerade der Beschäftigtenanteil der Beamten und auch der Arbeiter ist rückläufig, während der Anteil der Angestellten steigt. Und darauf haben die Gewerkschaften noch keine Antwort gefunden. Wie organisiere ich die wachsende Gruppe der Angestellten, insbesondere im Dienstleistungsbereich?"
Dem Deutschen Gewerkschaftsbund ist das Problem durchaus bewusst. Allerdings sei es extrem schwer, in der heutigen Arbeitswelt Menschen für ein solidarisches Projekt zu gewinnen, sagt Doro Zinke, stellvertretende DGB-Vorsitzende im Bezirk Berlin-Brandenburg:
"Das Problem ist, dass die jungen Leute mit so vielen verschiedenen und verrückten Beschäftigungsformen konfrontiert werden, dass die kaum noch in Betrieben anlanden, wo es ganz normal einen Betriebsrat gibt, wo der Betriebsrat und die Jugendorganisationen von Anfang an auf die Leute zugehen und sagen: Pass mal auf, hier ist ein organisierter Betrieb und wir wollen möglichst wenig Leute, die aus der Reihe tanzen, hier ist der Aufnahmeschein. Und da gibt es auch Möglichkeiten, die Leute zu integrieren in diesen alten Strukturen. Die neuen Strukturen werden immer kleiner. Es wird immer mehr outgesourct, es gibt immer mehr Subunternehmer bis hin zu den allerletzten Selbständigen und Scheinselbständigen. Da gibt es nicht mehr diese selbstverständlichen Organisationsansätze."
Deswegen wünscht sich wohl so mancher DGB-Funktionär die guten alten Zeiten zurück, als die Mitgliederzahlen alle zehn Jahre um rund eine Million stiegen und die Welt noch in Ordnung war.
Man schreibt den 12. Oktober 1949, als sich Gewerkschafter aus ganz Deutschland in München versammeln, um den Deutschen Gewerkschaftsbund zu gründen.
"Soeben haben sich die 16 Vorsitzenden der Industriegewerkschaften und die Mitglieder des Gewerkschaftsrates zu einem Pult begeben. Ein Pult, auf dem die Gründungsurkunde des neuen Gewerkschaftsbundes aufgelegt worden ist. Als erster unterzeichnet nun Hans Böckler, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes."
Für den damals schon über 70-jährigen Hans Böckler geht ein Lebenstraum in Erfüllung: Eine einheitlich Dachorganisation für alle Gewerkschaften, die im Nachkriegsdeutschland als Ansprechpartner von Unternehmen und Politik ein deutliches Wort mitreden will.
"Heute stehen die arbeitenden Menschen ohne Rücksicht auf parteipolitische und weltanschauliche Unterschiede in echter Verbundenheit zusammen. Wir haben den ehrlichen Willen, diese Gewerkschaft so zu gestalten, dass sie allen Arbeitnehmern künftig eine echte Heimat ist."
Die Generation Hans Böcklers hatte aus den Fehlern der Weimarer Republik gelernt: Sie wussten, dass die Gewerkschaften durchaus nicht unschuldig waren am Scheitern der Demokratie. Während der Wirtschaftskrise hatten sie erbittert gegen die Unternehmer gefochten und die antidemokratische Stimmung mit angeheizt.
Die Westmächte und die westdeutschen Politiker vertrauen dem DGB von Anfang an. Und so ist es für den ersten Bundestagspräsidenten, Erich Köhler, eine Ehre, auf dem Gründungskongress ein Grußwort zu sprechen:
"Die Demokratie schützt die Gewerkschaften, und die Gewerkschaften sind eine wesentliche Stütze der Demokratie. Diese These aufzustellen fühle ich mich berechtigt, angesichts der Entwicklung der letzten vier Jahre, angesichts der Tatsache, mit welcher hervorragender Diszipliniertheit die Politik seitens der Gewerkschaften geführt worden ist, in all den schwierigen Verhältnissen, die wir hinter uns haben und in denen wir heute noch leben."
Der Staat hält sich in der Bundesrepublik von Anfang an aus den Auseinandersetzungen um Löhne und Gehälter heraus. Die viel beschworene "Tarif-Autonomie" wird bis heute nicht angetastet, auch wenn immer weniger Beschäftigte tatsächlich nach Tarif bezahlt werden. So ist es nicht verwunderlich, dass die Gewerkschaften mittlerweile für einen Mindestlohn eintreten.
In der DDR wird unterdessen der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund zur Stütze des SED-Regimes. Er verwaltet die Sozialversicherung, schult Parteifunktionäre und organisiert Ferienlager. Als Interessenvertretung der Beschäftigten in den Betrieben ist er dagegen weitgehend bedeutungslos.
In der BRD hingegen reklamieren die Einzelgewerkschaften unter dem Dach des DGB mit immer größerem Selbstbewusstsein ihren Anteil an den Gewinnen der Wirtschaftswunderjahre. Die Verbundenheit mit der Sozialdemokratie versteht sich dabei für viele DGB-Funktionäre wie von selbst. Bis die SPD unter Gerhard Schröder die Agenda 2010 verabschiedet. Die Gewerkschaften protestieren seitdem offen gegen die aus ihrer Sicht neoliberalen Hartz-Gesetze.
Das geht dem DGB dann doch zu weit, auch wenn die Gewerkschaften längst eingesehen haben, dass auch vor Deutschland die Globalisierung nicht halt macht. In der Tarifpolitik geht es für sie mittlerweile häufig vor allem darum, Zugeständnisse zu machen, um weiteren Arbeitsplatzabbau zu verhindern. So unterschreibt die IG Metall das sogenannte Pforzheimer Abkommen. Abweichungen vom Flächentarifvertrag sind danach nicht nur möglich, um die Pleite eines Unternehmens abzuwenden, sondern auch, um dessen langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern.
In anderen Branchen, zum Beispiel in der Finanzsparte, geraten die Gewerkschaften noch stärker in die Defensive. Vor einem Jahr kündigt der Allianz-Konzern an, trotz Milliardengewinn 7.500 Stellen zu streichen und die Niederlassungen in Nordrhein-Westfalen ganz dicht zu machen. Die Betriebsräte kämpfen daraufhin auf quasi verlorenem Posten. Die Mitarbeiter, die lange Jahre ihren Arbeitsplatz als eine Art Lebensversicherung angesehen hatten, verstehen die Welt nicht mehr. Zunächst habe keiner gewusst, wie man kämpfe, sagt die Kölner Betriebsrätin Gabriele Burghardt-Berg:
"Ich selbst bin 30 Jahre bei der Allianz, und ich bin einmal sehr stolz darauf gewesen, dass man mit mir als Mitarbeiter fair umgeht, dass Leistung und Gegenleistung zählt, dass wir insgesamt in einem Unternehmen arbeiten, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Das ist wohl vorbei."
Nach monatelangen Verhandlungen kann aber dann wenigstens der Standort Köln gesichert werden. Auch wenn der Stellenabbau nicht mehr zu verhindern ist, merken die Beschäftigten, dass sie ohne Gewerkschaften noch einen viel schlechteren Stand gehabt hätten. Und so können sich die Verdi-Funktionäre über zahlreiche neue Mitgliedsanträge freuen. Er habe seit dem vergangenen Jahr einen viel besseren Stand, sagt Rainer Klein, Verdi-Sekretär in Köln:
"Alleine, wie man begrüßt wird, auf der letzten Betriebsversammlung. Früher gab es höflichen Applaus, wenn der Verdi-Vertreter vorgestellt wurde. Inzwischen gibt es starken Applaus, nach dem Motto: gut dass ihr da seid. Und daran arbeiten wir natürlich, weil es ist ein Vertrauensvorschuss."
Der Erhalt von Arbeitsplätzen statt Lohnerhöhungen - nicht nur in der Versicherungsbranche werden sich die Gewerkschaften nach Einschätzung des Experten Hagen Lesch künftig auf Schadensbegrenzung beschränken müssen. Deswegen sollten sie dringend lernen, ihre Verhandlungserfolge, und seien sie noch so klein, anders zu verkaufen:
"Ich würde es an Gewerkschaftsstelle ganz anders machen. Ich würde es viel offensiver angehen und als Erfolg verkaufen, und wenn man das kann, dann besteht auch die Chance, über innerbetriebliche Bündnisse wieder gewerkschaftliche Milieus zu schaffen, die dann auch möglicherweise dazu führen, dass wieder mehr Leute beitreten. Denn es ist ja immer eine gewisse kritische Masse notwendig, damit man überhaupt einer kollektiven Organisation beitritt. Und gerade durch diese Bündnisse haben die Gewerkschaften die Chance, diese heterogenen Belegschaften ein Stück weit zu einen und homogen zu machen, dass sie sich quasi alle wieder von der Gewerkschaft vertreten lassen."