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"Die Erfahrungen aus anderen Ländern sind auch nicht nur positive"

Jürgen Trittin (Bündnis 90/Grüne) ist skeptisch, was das Konzept der direkten Demokratie angeht. Sie müsse - etwa in Hamburg - verbindlich sein. Die Zukunft von Schwarz-Grün und Ole von Beust in der Hansestadt sieht Trittin entsprechend pragmatisch.

    Gudula Geuther: Herr Trittin, heute stimmen die Hamburger Bürger über die Schulreform ab. Vor allem der GAL, den Grünen, die diese Reform forciert haben, droht eine krachende Niederlage. Sollte es so kommen: Können die Grünen in Hamburg dann erhobenen Hauptes weiter regieren?

    Jürgen Trittin: Ich habe erst mal vor Ausgang der heutigen Abstimmung gar keinen Anlass, über ein Negatives nachzudenken. Wir haben eine sehr hohe Mobilisierung, wir haben nach anfänglichen Problemen in der Mobilisierung, glaube ich, den richtigen Weg eingeschlagen. In Hamburg sind nicht nur alle Parteien, auch die Gewerkschaften, auch die Arbeitgeber der Auffassung, dass wir das Schulsystem modernisieren müssen in Richtung längeren gemeinsamen Lernens. Und insofern schaue ich dem heutigen Abend eher mit Optimismus entgegen und mache mir keine Gedanken darüber.

    Geuther: Trotzdem noch mal zu dem Gedanken. Die Grünen mussten in Hamburg im Koalitionsvertrag der Elbvertiefung zustimmen, es war die GAL-Senatorin Anja Hajduk, die das Steinkohlekraftwerk in Moorburg genehmigen musste. Wie viele grundlegende Ziele kann man denn aufgeben, ohne unglaubwürdig zu werden?

    Trittin: In Moorburg sind wir von einem Gericht verurteilt worden ...

    Geuther: Aber das Ziel ist gescheitert.

    Trittin: ... hier eine Genehmigung auszusprechen. Das war keine politische Entscheidung. Ich halte sehr viel davon, Urteile von Gerichten auch zu respektieren. Das war auch kein Streit mit dem Koalitionspartner. Anja Hajduk hat diese Genehmigung dann mit einer Reihe von einschränkenden Bemerkungen ausgesprochen. Diese Einschränkungen wiederum sind Gegenstand einer Klage des Betreibers Vattenfall. Insofern ist die Auseinandersetzung um Moorburg vor Gericht verloren, aber noch lange nicht zu Ende. Und allein, weil die nicht zu Ende ist, sage ich, ist es richtig, dass Anja Hajduk als Umweltsenatorin dort ihre Politik macht. Und wie gesagt: Ich bin ganz zuversichtlich, dass wir uns in der Frage der Schulpolitik auch mit unserem, wie ich finde, überzeugenden Ansatz eines längeren gemeinsamen Lernens – Grüne würden sogar mehr wollen als die sechs Jahre, die in Hamburg vorgeschlagen worden sind – am Ende durchsetzen. Aus einem einfachen Grund: Der ganze Rest der Welt, die ganze zivilisierte Welt macht es anders als wir Deutschen – und mit einem interessanten Ergebnis. Wir haben ja heute die europaweite Vergleichbarkeit aller Bildungsabschlüsse. Bei vergleichbaren Abschlüssen haben Menschen in fast allen anderen Ländern Europas, in fast allen anderen industrialisierten Ländern, bessere Chancen, einen qualifizierten Schulabschluss, einen Hochschulabschluss, zu bekommen als in Deutschland.

    Geuther: Bevor wir noch mal zur Schule kommen: In Hamburg droht ja möglicherweise noch anderes. Es gibt Gerüchte, wonach Ole von Beust heute zurücktritt, der Hamburger Unionsbürgermeister, der für eine schwarz-grüne "Kuschelkoalition" steht. Geht Schwarz-Grün nur als Kuschelkoalition?

    Trittin: Jede Koalition beruht darauf, dass politische Konkurrenten ein Bündnis auf Zeit schmieden, in der jeder dieser Konkurrenten einen Vorteil hat. Und dieses rationale Umgehen mit Bündnissen auf Zeit zwischen politischen Konkurrenten, das ist das, was Hamburg ausmacht. Ich würde das nicht als Kuschelkoalition bezeichnen, sondern als ein sehr professionelles Umgehen miteinander.

    Geuther: Dann noch mal zurück zur Schule in Hamburg. Alle Fraktionen in der Bürgerschaft haben sich ausgesprochen für die Reform, nach Lesart der Grünen zumindest, weil sie langfristig nötig ist, und – wieder grüne Lesart: Eltern haben kurzfristig für ihre Kinder, für den Moment, möglicherweise verständliche Sorgen. Ist das eigentlich ein gutes, ist das ein geeignetes Thema für direkte Demokratie?

    Trittin: Direkte Demokratie, so wie die Grünen sie in Hamburg ja durchgesetzt haben – wir haben bewusst gesagt, wir wollen, dass die Menschen über die Fragen, die ihnen wichtig sind, selber entscheiden können. Und was ist Menschen mehr wichtig als die Zukunft der eigenen Kinder, was ist Menschen mehr wichtig als ein vernünftiges Schulsystem? Und die Beteiligung an der Abstimmung, so wie sie sich jetzt abzeichnet, zeigt ja auch, dass da ein hohes Interesse ist. Insofern muss man sich entscheiden: Entweder ist man für mehr direkte Demokratie, dann muss das auch für solche existenziellen Fragen gelten, oder man ist nicht dafür. Aber so'n bisschen direkte Demokratie kann es nicht geben.

    Geuther: Sind Sie dafür?

    Trittin: Ich habe als Grüner immer mit einer gewissen Skepsis drauf geschaut, warum eine Partei, die sich dem aktiven Schutz von Minderheiten verpflichtet fühlt, ein solches Instrument für Mehrheiten da macht. Die Erfahrungen aus anderen Ländern sind auch nicht nur positive. Aber wenn man diesen Weg geht der direkten Demokratie, dann muss man das auch entsprechend respektieren und dann muss das auch verbindlich sein. Das ist die Lage in Hamburg, und ich bin ganz zuversichtlich, dass wir damit gut klar kommen.

    Geuther: Jetzt waren wir eben schon bei der Halbwertzeit von Regierungen in Hamburg. Der Blick auf Nordrhein-Westfalen: Wie lange geben Sie der Minderheitsregierung?

    Trittin: Nun, jedenfalls länger als der bisherigen Minderheitsregierung. Ich verstehe die Aufregung über eine Minderheitsregierung nicht. Wir haben eine Situation gehabt, dass gewählt worden ist. Die bisherige Regierung ist abgewählt worden. Die hat geschäftsführend als Minderheitsregierung weiter regiert. Die hatten für diese Minderheitsregierung zehn Mandate weniger als die jetzige Minderheitsregierung. Wenn jetzt die demokratische Legitimität von Frau Kraft und Frau Löhrmann infrage gestellt wird, dann sage ich: Wo kommt dann eigentlich die demokratische Legitimität von – wie hießen sie noch – Herrn Rüttgers und Herrn Pinkwart her? Die war nun deutlich niedriger. Da ist eine Regierung gewählt worden, nach dem man bei dem Versuch, dem sehr ernsten Versuch - das kann ich jedenfalls für uns Grüne sagen, wir haben sehr ernsthaft mit der Linken darüber verhandelt, ob wir eine gemeinsame Regierung bilden wollen. Und die haben gesagt: Wir machen keine Regierung, die – beispielsweise – Stellen im Straßenbau nicht wiederbesetzt, weil sie die Stellen in den Justizvollzug verlagern will, das machen wir nicht mit. Ich finde, das ist albern, so kann man ein Land nicht regieren. Und deswegen sind diese Verhandlungen gescheitert. Wir haben uns – und die nordrhein-westfälischen Grünen, wer die kennt, weiß, was die da an Überwindung auch mitzuliefern haben. Wir haben uns ernsthaft hingesetzt und haben mit der FDP darüber verhandelt, ob es eine Mehrheitsbildung geben könnte und sind dann auf das Gleiche wie bei der Linkspartei gestoßen, nämlich auf nordrhein-westfälische Fundamentalisten, die sich jeder Verantwortung verweigert haben. Und dann war eine Mehrheitsbildung politisch nicht möglich. Und dafür gibt es Regelungen in der Verfassung, und jetzt haben wir dort eine Regierung, und die wird daran gehen, die Studiengebühren abzuschaffen, sie wird den Städten und Gemeinden wieder erlauben, neue Stadtwerke zu gründen, sie wird einen Altschuldenfonds aufnehmen, sie wird sich an eine Veränderung der von CDU und FDP ja zerstörten Bildungslandschaft Nordrhein-Westfalens machen. Und da muss man sehen, welche der Parteien und Fraktionen das mittragen. Also ich bin sehr gespannt, ob die Haltung von Herrn Laumann – "wir machen jetzt hier Fundamental-Opposition und wir verhalten uns im Grunde genommen so wie die Grünen, als sie sich gegründet haben" – ob das die Christdemokraten lange durchhalten.

    Geuther: Dazu können wir gleich noch mal kommen. Aber erst einmal: Die Frage war ja, wie lange hält die Regierung? Und Sie sagen: Zumindest länger als die bisherige. Das wäre ja nicht lange.

    Trittin: Ich habe das nur gesagt, weil diese Frage, ob es eine Minderheitsregierung gibt in Nordrhein-Westfalen – ja. Es gab entweder eine Minderheit mit zehn Stimmen weniger oder eine Minderheitsregierung mit zehn Stimmen mehr.

    Geuther: Aber Ihre Prognose?

    Trittin: Wenn die entsprechenden politischen Projekte dieser Koalition Mehrheiten im Parlament finden, wird diese Regierung regieren. Und wenn sich die linken Fundamentalisten mit den Fundis Laumann zusammenfinden und Herrn Papke, so heißt der Fraktionsvorsitzende dort, verbünden und alles blockieren, dann werden die irgendwann vor den Wähler treten müssen, dann gibt's Neuwahlen. Aber das wird ein spannender politischer Prozess. Und so gut, wie die Sozialdemokratin Hannelore Kraft und die Grüne Silvia Löhrmann bisher dieses gemanagt haben, glaube ich, dass das sehr spannend wird und dass die Oppositionsparteien zur Linken wie zur Rechten noch ganz große Probleme kriegen.

    Geuther: Erklären Sie mir noch mal die Konstruktion. Es ist nicht die zuvor ausgeschlossene Tolerierung durch die Linke, weil ... ?

    Trittin: Weil es kein Tolerierungsabkommen gibt mit der Linken. Die Tolerierung beruht auf einem Abkommen – die Tolerierung nach dem skandinavischen Modell ist relativ einfach. Die kleine Partei, die toleriert, bekommt drei Projekte, die ausverhandelt werden. Dafür sorgt sie in jedem einzelnen Fall für eine Mehrheit für die Minderheitsregierung. Diese Zusage hat die Linkspartei nicht gemacht, macht sie auch nicht. Und insofern ist es eben keine Tolerierung, sondern eine Minderheitsregierung . . .

    Geuther: . . . also eine schlecht vorbereitete Tolerierung . . .

    Trittin: . . . nein, es gibt auch keinen festen Partner, anders als bei einer Tolerierung. Wir machen ein Angebot an alle Parteien und wir praktizieren das, was in der nordrhein-westfälischen Verfassung vorgesehen ist.

    Geuther: Und dass das auch CDU und FDP mitmachen, glauben Sie im ernst?

    Trittin: Es wird Fragen geben, wo ich das sehr spannend finde, ob sie sich dem verweigern. Und deswegen bin ich ganz optimistisch, dass die lauten Verkündungen, nie und nimmer würden sie mit dem jemals stimmen, nicht durchgehalten werden.

    Geuther: Dann lassen wir uns mal auf die Konstruktion ein und sagen, wie Frau Löhrmann das formuliert: Das ist eine Regierung der Einladung, es ist eine neue Kultur der Demokratie. Wenn das so klappen sollte, was folgt daraus? Wird daraus dann ein Zwang zur gemäßigten Allparteienregierung, einer Art informeller, ganz großer Kuschelkoalition?

    Trittin: Nun, man muss sich entscheiden. Entweder kritisiert man die Minderheitsregierung, weil sie jetzt eine verkappte rot-rot-grüne Regierung ist, oder man kritisiert sie, weil sie eigentlich eine Allparteienregierung ist . . .

    Geuther: . . . das war eine Frage . . .

    Trittin: . . . nein, sie ist beides nicht. Sie ist erst mal eine rot-grüne Minderheitsregierung, und sie muss für jeden gesetzgeberischen Akt eine Mehrheit im Landtag haben. Sie kann im Bundesrat völlig unbefangen davon agieren. Und sie kann im Rahmen des vorgegebenen Haushaltes die Ausgaben tätigen, zu der der Landtag sie ermächtigt hat. Also: Sie regiert. Und sie regiert als rot-grüne, nicht als Allparteien, nicht als Rot-Rot-Grün.

    Geuther: Wäre das ein Modell für den Bund, auch ohne das Zuckerl Bundesrat, das es hier in Nordrhein-Westfalen noch zusätzlich gibt?

    Trittin: Ich halte nicht viel davon, solche Situationen unter anderen verfassungsrechtlichen Regelungen - im deutschen Bundestag brauchen Sie nicht nur für die Wahl bestimmte Mehrheiten, auch für viele andere Entscheidungen bedarf es der Mehrheit des deutschen Bundestages. Das heißt, die Konstruktion im Bundestag ist eine gänzlich andere als die im nordrhein-westfälischen Landtag. Deswegen kann man das schlecht übertragen. Ich füge ein weiteres hinzu. Wir haben im deutschen Bundestag zum Teil Fragen zu entscheiden, von denen auch diejenigen, die dann jeweils die Mehrheit stellen – ich kenne es aus beiden Situationen, in der Mehrheit zu sein, an der Regierung zu sein wie in der Opposition zu sein –, wo jede Regierung sagt, das sind Fragen, die können wir eigentlich nicht alleine entscheiden. Das hat sehr viel zu beispielsweise mit der Frage, soll man UN-Mandaten vor der Küste des Libanon folgen und Soldaten zur Beendigung des Krieges zwischen Israel und dem Libanon entsenden, um mal eine vergleichsweise einfache, aber nichtsdestotrotz wichtige Frage an dieser Stelle zu nennen. Das sind Dinge, wo Sie in der Regel nach Mehrheiten über das eigene Lager hinaus suchen und streben, und man auch gut beraten ist, die zu haben. Und das sind die Fragen, die in einem Bundestag entschieden werden, die nicht in einem Landtag zur Entscheidung anstehen. Und auch daher stellt sich die Frage einer sogenannten Minderheitsregierung im Bund, glaube ich, deutlich anders als auf Landesebene.

    Geuther: Das betrifft ja auch die Linkspartei. Jetzt ist die Bundespräsidentenwahl schon eine ganze Weile her, aber dieses Verhältnis zur Linkspartei prägt sie immer noch. Da haben Sie ihr ohne Absprache Herrn Gauck vorgesetzt, einen Kandidaten, der weithin konservative, oft unionsnahe Positionen vertritt, auch völlig unabhängig von den Positionen zur DDR, und dann allen Ernstes die Linke dafür gescholten, dass sie ihn nicht wählt.

    Trittin: Ich habe sie nicht gescholten, dass sie ihn nicht wählt, ich habe sie dafür gescholten, dass sie stattdessen Herrn Wulff gewählt haben. Das ist die Situation. Und das verstehe ich für einen Linken nicht. Wenn man als Linker vor der Frage steht, wie man jemanden mit der politischen Biografie und der Herkunft von Herrn Wulff, der jetzt unser Präsident ist, deswegen drücke ich mich so bewusst zurückhaltend aus – er ist auch mein Präsident – oder einen demokratischen Aufklärer zu wählen, der ein unabhängiger Kopf ist, der nicht parteigebunden ist, dann fällt mir die Wahl doch nicht schwer. Der Linkspartei ist sie extrem schwer gefallen und sie hat sich dann fast geschlossen für Herrn Wulff entschieden.

    Geuther: Und das war ja auch so eine Art Erpressungssituation, zumindest . . .

    Trittin: Das hat mich, ehrlich gesagt, verwundert. Es nützt ja nichts, mit einem Rot-Grünen Konservative davon zu überzeugen, dass sie vielleicht den Kandidaten mittragen sollten. Das war ein Angebot, das man sie vorher nicht fragen durfte, denn sie hätten nur nein sagen können – logisch. Nur, dass sie am Ende an der Frage Christian Wulff oder Joachim Gauck sich für Christian Wulff entscheiden würden, das muss ich als jemand, dem – glaube ich – linke Gedanken nicht ganz fremd sind, doch mit großer Verwunderung zur Kenntnis nehmen.

    Geuther: Gleichzeitig war das natürlich eine Art Erpressungssituation. Das zumindest sagt der Politikwissenschaftler Franz Walter. Er wirft vor allem der SPD vor, sie habe die Linkspartei erpresst, so behandelt wie die Grünen vor 10, 20 Jahren, als ungeliebten, nicht für voll genommenen Partner und sagt, es sei schlimm, dass die Grünen da bedenkenlos mitspielen.

    Trittin: Ich dachte immer, der Franz Walter sei Politologe, und jetzt entpuppt er sich als Pädagoge. Nur Politik hat mit Pädagogik gar nichts zu tun. Die SPD ist nicht der Vormund der Linkspartei, hat sie nicht zu erziehen. Und die Linkspartei muss sich zu den realen Verhältnissen einfach verhalten. Und in dieser Auswahl hat die Linkspartei niemanden erpresst, sondern sie haben sich entschieden.

    Geuther: Wie geht es denn weiter mit möglichem Rot-Rot-Grün, mit einer linken Alternative. Steffi Lemke, Ihre Bundesgeschäftsführerin, sagt, 24 Monate vor der nächsten Wahl, das heißt in einem Jahr, muss die Entscheidung der drei Parteien stehen, ob man das will oder nicht. Wird das so kommen?

    Trittin: Ich bin, was den Entwicklungsprozess der Linkspartei angeht, ob sie sich selber dafür entscheidet – ich bin nicht dazu da, sie zu bewerten oder Stöckchen hinzuhalten – ob sie sich selber dafür entscheidet, dieses Land regieren zu wollen. Was heißt das? Wenn man dieses Land regieren will, will man es ja nicht um seiner selbst regieren, sondern man will es regieren, um es im Sinne der eigenen Vorstellung zu verändern. Das hieße in der Logik der Linkspartei – das wollen andere auch, die Grünen auch – zum Beispiel für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Dann muss man sich auf diesen Regierungswillen vorbereiten. Das setzt bestimmte Entscheidungen voraus. Das wissen diejenigen in der Linkspartei, die das wollen, auch. Das ist gar nicht unstrittig dort. Man kann keine andere Sozial- und Wirtschaftspolitik machen, ohne diese heute europäisch zu begründen. Sie brauchen ein positives Verhältnis zur Europäischen Union. Diese Entscheidung aber herbeizuführen und den Mut zu haben, für diesen Inhalt, für die eigenen Inhalte innerhalb der Linkspartei zu streiten, die hat, glaube ich, in den letzten Wochen erhebliche Rückschläge erlitten.

    Geuther: Das heißt, so, wie es jetzt ist, wollen sie nicht?

    Trittin: Nein, Sie müssen einfach feststellen, dass die Bundesebene wollte, dass in Nordrhein-Westfalen ernsthaft verhandelt wird über eine Beteiligung an der Regierung, dass man dort regieren wolle, also die eigenen Inhalte umsetzen wolle, und die Basis der Linkspartei in Nordrhein-Westfalen hat das verweigert. Und ich nehme auch zur Kenntnis, dass die Linkspartei sich in der Präsidentschaftswahl so verhalten hat wie sie sich nun verhalten hat. Es war auch für sie eine riesige Chance. Die Unterstützung eines unbequemen, für sie quälerisch unbequemen Menschen wie Joachim Gauck hätte viele von den Vorwürfen über ihre angebliche demokratische Zuverlässigkeit – ich sage bewusst angeblich, weil ich viele gute Demokraten in der Linkspartei kenne – einfach vom Tisch gewischt. Sie hat diese Chance nicht genutzt. Und das heißt für mich, diejenigen, die dieses Land durch Mitwirkung verändern wollen, haben innerhalb der Linkspartei zur Zeit nicht den Mut, diese Auseinandersetzung zu suchen. Das stimmt mich nicht fröhlich, weil das die Option, die man als Ökologe und an sozialer Gerechtigkeit interessierter Politiker in diesem Lande hat, nicht erhöht. Nur, ich bin auch Realist und stelle fest, dass der Mut zur Umsetzung der eigenen Politik bei der Linken zur Zeit nicht so richtig ausgeprägt ist.

    Geuther: Sie hören das Interview der Woche mit dem Bündnisgrünen Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin. Herr Trittin, die Grünen sind so breit koalitionsbereit wie nie und sprechen auch breite Wählergruppen an wie nie. Mehrmals lagen sie nach Umfragen in den vergangenen Woche bei 18 Prozent. Ich weiß, Sie sprechen von grüner Eigenständigkeit und nicht von Beliebigkeit. Aber geht damit nicht doch ein wenig klare Kante verloren?

    Trittin: Ich habe dieser Tage zum Beispiel über die Frage des Sparens und der Haushalte viel zu sprechen. Wir Grünen schlagen vor, dass wir zum Abbau der immensen Altschulden, die Bund, Länder und Gemeinden haben und die wir abbauen müssen, es eine faire und gerechte Beteiligung derjenigen gibt, die bisher steuerlich nicht hinreichend daran teilgehabt haben. Wir schlagen vor eine Vermögensabgabe für Besitzer von großen Privatvermögen – eine Million aufwärts –, die dazu beitragen soll, die immensen Altschulden abzubauen. Was ist daran fehlende klare Kante? Wir sind der Auffassung, dass wir ökologisch schädliche Subventionen endlich abbauen müssen. Das heißt bei uns im Programmdeutsch, wir wollen das Privileg für schwere Dienstwagen kappen. Man kann das auch ein bisschen einfacher sagen. Es sollen nur noch Dienstwagen steuerlich absetzbar sein, wenn nicht mehr als fünf, sechs Liter verbraucht werden. Mit anderen Worten: Kein Absetzen von Dienstwagen oberhalb der Golf-Klasse.

    Geuther: Aber Sie wollen mal die Innenstädte sperren zum Beispiel, jetzt setzen Sie auf das Elektroauto, das auch Strom braucht.

    Trittin: Natürlich braucht ein Elektroauto Strom. Und ich sage Ihnen nur, diese Beispiele zeigen Ihnen alle, dass uns der Mut überhaupt nicht verloren gegangen ist, weil über diese Diskussion, kein Dienstwagen mehr höher als ein Golf zu haben, in einem Land, wo sich der soziale Aufstieg an dem Fahrzeug vor der Haustür bemisst, das ist Statussymbol, das bringt uns übrigens eine Milliarde Euro, da kann ich nur sagen, was ist daran nicht klare Kante?

    Geuther: Sie waren mal mutiger.

    Trittin: Nein, wieso? Was ist daran mutiger, zu sagen, wir wollen ein emissionsfreies Auto? Es gibt nichts Mutigeres. Wenn Sie einen Wagen haben, der komplett mit erneuerbarem Strom fährt, haben Sie null CO2, außer dem CO2, das Sie für die Produktion des Autos haben wollten, und haben damit übrigens möglicherweise sogar noch eine bessere Ökobilanz, als wenn Sie Innenstädte sperren und den gesamten anfallenden Verkehr dann mit Dieselbussen erledigen würden. Das könnte ich Ihnen vielleicht sogar vorrechnen.

    Geuther: In Nordrhein-Westfalen spricht der Koalitionsvertrag brav von der Energiewende. Er erwähnt die Kraft-Wärme-Kopplung, aber Kohlekraftwerke können weiter gebaut werden. Das war mal ein grünes Tabu, und Datteln, das E.ON-Steinkohlekraftwerk zu verhindern, die Hoffnung hat im Wahlkampf eine große Rolle gespielt.

    Trittin: Wir haben in Nordrhein-Westfalen festgelegt, dass der Landesraumordnungsplan aufgehoben wird in dem Aufstellungsprozess. Damit entfällt die Rechtsgrundlage für den nachträglich erlassenen Bebauungsplan für das Kraftwerk. Und damit gilt das Urteil des Oberverwaltungsgerichts, dass das ein Schwarzbau ist. Wir haben bewusst dort festgehalten, dass hier niemand schlechter gestellt wird, der mal einen Antrag gestellt hat, der sich auf Recht und Gesetz verlassen hat, das gehört sich im Rechtsstaat so, aber auch niemand nachträglich, weil er rechtswidrig gebaut hat, durch nachträgliche Rechtsänderung besser gestellt wird. Das ist ein sehr anständiges Ergebnis.

    Geuther: Jetzt sagen Sie, Sie haben immer noch ebenso viel grünes Profil. Aber vielleicht können Sie sich auf die Frage einlassen: Brauchen Sie das überhaupt noch so sehr? Als die große Koalition sich ständig gestritten hat, da waren die Grünen hinter dem Streit medial weniger sichtbar. Jetzt scheint es so als könnte Ihnen das egal sein. So lange Sie keine größeren Fehler machen, kommt Ihnen jeder Streit zugute.

    Trittin: Wir sind mit etwas über sieben Prozent in die große Koalition rein gegangen und mit über 10,6 Prozent aus der großen Koalition raus. Also offensichtlich scheinen wir durchaus sichtbar zu sein, sonst hätten wir uns nicht um fast 50 Prozent gesteigert während der großen Koalition.

    Geuther: Aber vielleicht der lachende Dritte.

    Trittin: Das ist die Lage, und wir sind heute, glaube ich, von den Oppositionsparteien in der Wahrnehmung nicht die kleinste, obwohl wir das objektiv so sind, sondern gelten in hohem Maße als diejenigen, die erstens durchaus radikale Antworten haben, aber diese seriös durchzubuchstabieren in der Lage sind. Radikalität um ihrer Selbstzweck, die sich selber erläuft, ist eben keine Radikalität, weil sie nie Wirklichkeit wird.

    Geuther: So viel zur Opposition. Und noch zur Regierung die Frage nach der Halbwertzeit: Wie lange hält die Regierung mit Bundeskanzlerin Merkel?

    Trittin: Ich glaube, wenn Sie unter den Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU und FDP jetzt mal eine Umfrage machen würden: "Wann wollen Sie eigentlich, dass gewählt wird?", dann hören Sie eher 2015 als 2013, so viel Angst haben die vor den Wählerinnen und Wählern. Der Hintergrund ist relativ einfach. Die sind mit einer politischen Programmatik in die Mehrheit gekommen, die die Mehrheit der Bevölkerung nicht will. Die Menschen wollen keine Privatisierung der Gesundheitsversorgung, sondern eine solidarische Bürgerversicherung. Die Menschen wollen nicht ein ständiges Deregulieren von Standards, sondern die wollen so etwas wie einen gesetzlichen Mindestlohn. Die Menschen wollen nicht, dass Hoteliers steuerlich entlastet werden und den Hartz IV-Empfängern die Kindergelderhöhung vorenthalten wird, den Eltern, die in Arbeitslosengeld II sind, das Elterngeld gestrichen wird. Man muss sich das mal reintun. Die Veränderung beim Elterngeld, das bringt 600 Millionen Euro. Davon werden allein 450 Millionen Euro von Menschen, die weniger als 1200 Euro Haushaltseinkommen haben, aufgebracht. Alle über 2700 Euro tragen zu dieser Sparmaßnahme überhaupt nichts bei. Vermögende, Menschen, die hohe Einkommen haben, haben überhaupt keine Beitrag zur Bewältigung dieser Krise zu leisten. Das ist völlig aus der Zeit gefallen. Und deswegen wird diese Regierung sich sehr, sehr schwer tun, ohne weitere Krisenerschütterung über diese Legislaturperiode heraus zu kommen. Das wird sich im nächsten Frühjahr, im März und im April, bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt zeigen.

    Geuther: Und wer ist derweil Ihr Lieblingsansprechpartner bei der Union?

    Trittin: Ich brauche bei der Union keine Lieblingsansprechpartner. Zurzeit ist es so, die Union regiert mit der FDP zusammen. Sie machen schlechte Politik. Und die Grünen bekämpfen sie mit demokratischen und friedlichen Mitteln zu Wasser, zu Lande und in der Luft.

    Geuther: Das lassen wir jetzt mal so stehen, Herr Trittin. Danke für das Gespräch.