Archiv


"Die Erfindung der bürgerlichen Familie"

"Schöner. Wohnen. Damals": Die Leitkultur bürgerlicher Familien steht im Zentrum einer Ausstellung in Baden-Baden. Das Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts beschäftigt sich anhand von Gemälde, Gerätschaften und Möbel mit der Idee der Kleinfamilie.

Von Christian Gampert |
    Kann man die Sozialgeschichte eines ganzen Jahrhunderts mit wenigen Objekten erzählen? Man kann, und man kann doch nicht. Natürlich ist Baden-Baden nicht in der Lage, mit den großen Technikmuseen zu konkurrieren oder mit dem Hygienemuseum in Dresden. Aber zur Entstehung der bürgerlichen Familie vermag dieses kleine Haus allemal etwas beizutragen, was für den Sonntagsausflug auch heutiger Kleinfamilien taugt.

    Gleich anfangs machen ein merkwürdiger Hochzeitsschrank in Eiche und ein Webstuhl auf den Klassenunterschied aufmerksam: hier das Bürgertum als neue gesellschaftliche Elite, dort arme Proleten und Heimarbeiter, die Tag und Nacht schuften müssen. Während die Bürger die Kindheit erfinden, ein neues Reservat innerhalb eines sich erst bildenden Menschenlebens, haben Arbeiterkinder selbstredend mitzumalochen.

    Im Sinne einer Zeitreise wird nun berichtet, wie die industrielle Revolution auch den familiären Alltag veränderte. Dabei ist die szenisch nachgebaute Bauernküche mit offenem Feuer, die um 1800 das Zentrum des Hauses war, in ihrer rußigen Derbheit fast noch eindrücklicher als der saubere städtische Bürgerhaushalt mit gusseisernem Herd, der gegen Ende des Jahrhunderts bereits mit allerlei Gerät aufwarten konnte. Viele dieser frühen Haushaltsgeräte wurden direkt aus landwirtschaftlichen Hilfsmitteln entwickelt: 1899 brachte die Firma Miele eine Waschmaschine auf den Markt, die von der Milchzentrifuge abstammte: Drehbare Rührflügel wurden von außen mit einer Kurbel bewegt. Und der Wäschekessel, in dem die Schmutzwäsche vorgeweicht wurde, konnte im Prinzip auch für das Brühen von Würsten benutzt werden.

    Allerlei Ratgeberbücher machten sich anheischig, nun auch den bürgerlichen Gefühlshaushalt zu beeinflussen. Die Ausstellung zeigt vor allem die Ideen der Henriette Davidis, die ab 1850 den jungen Bürgermädchen das Notwendige beibrachte, von der Eheanbahnung bis zur Organisation des Waschtags. Im Gegensatz zur Arbeiterklasse verfügten die immerhin über eine Mitgift, die in langen Inventarlisten minutiös festgehalten wurde. Eduard Walthers "Anschauungsunterricht für die Jugend", erschienen 1890, zeigt in Schaubildern vorbildhaftes Geschehen in einer Bürgerstube: Vater liest Zeitung, Mutter näht, Großvater liest Märchen vor, und Töchterchen spielt Klavier. Familienzeitschriften wie die "Gartenlaube" stützten das bürgerliche Wertesystem mit Bildungstipps und Haushaltskalendern.

    Breite Aufmerksamkeit widmet die Ausstellung der Hygiene, und dort vor allem der Mundwasserfirma Odol. Nachdem man bis ins 18.Jahrhundert das Baden als gesundheitsschädlich ansah, wegen übler Miasmen, spülte man Ende des 19. mit Begeisterung sogar die Zähne. Die Anzeigen in der Zeitschrift "Jugend" zeigen, dass die Zielgruppe vor allem aus humanistisch Gebildeten bestand. "Lebtest du doch heute, Helena!", dichtet ein unbekannter Werbetexter, "ich säh dich auf dem Marmorsessel thronend, wie du dir lächelnd ins Krystallglas gössest, was deinen Zähnen Perlenglanz verleiht: Odol!" Oder, noch besser: "Mächtig mit heilsamer Kraft des Mundes unsaubere Geister, schädlich Bacillengezücht allzeit vernichtet – Odol!"

    Nach der Betrachtung von Zinkbadewannen und Waschbrettern dürfen wir dann hoch in die gute Stube, wo jede Menge Uhren die Zeit einteilen und das Bürgertum in Porträts und Interieurs sich selbst feiert. Für die Kinder gibt es nicht nur die Puppenstube als Modell des richtigen Lebens, sondern, wahrscheinlich unter Aufsicht der Gouvernante, Hochräder und Laufautos, letztere sind unmittelbare Vorgänger der Seifenkiste und des Bobbycars.

    Wem das alles zu tümelnd-populär und zu plastisch ist, der muss eben Émile Zola lesen oder Gerhart Hauptmann. Das neue Selbstbewusstsein nach Gründung des Deutschen Reichs wird von der Ausstellung allerdings sehr kritisch inszeniert: ein düsteres Wohnzimmer in Eiche und mit dem üblichen Stilmix – und natürlich mit Bismarckbüste. Den Dienstmädchen dagegen ist eine schmale Kammer zugeteilt – und sie ist leer.