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Die Erfindung der Tageszeitung
Ein unbekannter Pionier aus Leipzig

Buchdruck, Verbrennungsmotor, Computer – die Namen der Köpfe hinter diesen Erfindungen aus Deutschland kennen die meisten bis heute. Timotheus Ritzsch ist dagegen eher unbekannt. Dabei hat er vor genau 370 Jahren einen Grundstein für die Medienwelt gelegt - er erfand die Tageszeitung.

Von Michael Borgers |
Mehrere Tageszeitungen liegen verstreut auf einem Tisch. Zu sehen sind u.a. die Eßlinger Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Heute erscheinen in Deutschland über 300 Tageszeitungen mit rund 1450 lokalen Ausgaben. (Marijan Murat/dpa)
Das gedruckte Wort wurde Timotheus Ritzsch quasi in die Wiege gelegt. Sein Vater war Dichter und Buchdrucker. Von ihm übernahm er – nach dessen Tod – die Druckerei. Und sollte wenige Jahre später, am 1. Juli 1650, die "Einkommenden Zeitungen" herausgeben, die heute als erste Tageszeitung der Welt gelten. Und das las sich damals so:
"Wien vom 6. Juli: Nachdem am nächst verschienen Donnerstag zwischen 11 und 12 Uhr vormittags Herr Obrist Kanffte so mit zweien Postillionen und einem Nürnbergischen Trompeter unversehens an hero kommen durch die ganze Stadt, so sonsten bei Leibesstraffe verboten mit männigliches Verwunderung blassen lassen und alsbald zu ihrer Kaiserlichen Majästät nach der Burg geritte."

"Ein probates Mittel zum Machterhalt"

Der Bericht erzählt, wie Schweden, europäische Großmacht und ein Sieger des Dreißigjährigen Krieges, wieder besetzte Gebiete verlässt, darunter auch Leipzig. Zuvor aber hatten die Besatzer dort noch Timotheus Ritzsch erlaubt, eine tägliche Zeitung zu machen. Keine Selbstverständlichkeit, wie Historikerin Stephanie Jakobs betont:
"Auch damals galt schon Kontrolle über die Information und deren Streuung, deren Verbreitung, war eben auch im 17. Jahrhundert schon ein gutes, ein probates Mittel zum Machterhalt."
Einzelne Seiten historischer Zeitungen liegen in einer Glasvitrine.
Wenige Jahre älter als die erste Tageszeitung: Eine gerahmte Ausgabe der "Wochentliche Ordinari Zeitung" aus dem Jahr 1629. (picture alliance/Oliver Dietze/dpa)
Jakobs leitet das Deutsche Buch- und Schriftmuseum der Nationalbibliothek, das über eine große Sammlung europäischer Zeitungsgeschichte verfügt. Die einzigen noch erhaltenen Exemplare der "Einkommenden" allerdings befinden sich nicht dort, sondern in der Königlichen Bibliothek Stockholm.
"Leider haben wir in Leipzig damals im 17. Jahrhundert nicht so viel Weitsicht an den Tag gelegt wie die Schweden mit ihrer sehr frühen Sammlung von Tageszeitungen."

Von Kaffeehausgesprächen zur Massenpresse

Die Leipziger Sammlung beginnt erst im frühen 18. Jahrhundert, mit einer Zeitung, die schon nicht mehr von Verleger Timotheus Ritzsch gemacht wurde. Die aber, mit wechselnden Namen, mehr als 200 Jahre Bestand haben sollte. Eine Zeit, in der Leipzig weiterhin großen Einfluss auf die Entwicklung der Presse hatte, erinnert Stephanie Jakobs:
"Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass auf der in Leipzig 1914 abgehaltenen Weltausstellung des Buches, der übrigens ersten und letzten Weltausstellung, die sich dem Thema Buch widmet, der Zeitung ein großer, ein festlich ausgestatteter Pavillon gewidmet war."
Ein Titelblatt der "Berliner Illustrirte Zeitung" zu den Olympischen Spielen 1936. Auf dem Titelblatt ist eine Zeichnung zu sehen: eine Frau setzt einem Mann einen Kranz auf.
Die erste Ausgabe der "Berliner Illustrirte Zeitung"
1892 erschien die erste Ausgabe der "Berliner Illustrirte Zeitung", die erste deutsche Massenzeitung. Ihr Erfolgsrezept war die Mischung aus Politik und Prominentenklatsch, Hochkultur und Heimatgeschichten.
Und seitdem? Die Medienwelt hat sich sehr verändert, stellt der Leipziger Medienwissenschaftler Uwe Krüger fest:
"Wir haben einen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Wir hatten einen ersten Strukturwandel von einer bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich im persönlichen Gespräch zwischen Gebildeten und wohlhabenden Bürgern in Salons, in Kaffeehäusern konstituiert, hin zu einer Massenpresse, der klassischen massenmedialen Welt, die wir vom Ende des 20. Jahrhunderts kennen."
Eine Welt, in der Leipzig mit der Volkszeitung zwar nur noch eine Tageszeitung hat, in der es aber zahlreiche andere Redaktionen gibt, die um die Gunst der Leserinnen und User werben.

Sinkende Reichweite und Vielfalt an Sprechern

Uwe Krüger erforscht am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Uni Leipzig, warum Menschen welchen Medien trauen und welche Rolle soziale Netzwerke dabei spielen. Dass dort heutzutage jede und jeder Inhalte verbreiten kann, hat für ihn vor allem eine Kehrseite:
"Der Preis dieser gestiegenen Teilnahmemöglichkeiten besteht in einer tendenziell sinkenden Reichweite jedes einzelnen Mediums. Das heißt, es gibt eine wahnsinnige Vielfalt an Sprechern, aber die Frage ist jetzt: Wer ist hier eigentlich noch meinungsführend? Wer kann eine Agenda setzen? Wer kann bestimmen, über was geredet wird, so dass man politische Probleme auch noch lösen kann?"
Eine Folge dieser Entwicklung, die der Wissenschaftler beobachtet: "Viele Leute haben auch das Gefühl, die etablierten Medien sind gar nicht ihre Medien, sondern manipulieren sie, belügen sie. Und die traditionellen Medien, die Journalisten haben das Gefühl: Ja, die Leute sind total irrational, sind total abgedreht."

Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Tageszeitung

Stephanie Jakobs vom Buch- und Schriftmuseum geht aber davon aus, dass am Ende weiterhin die Idee eines Mediums bestehen wird, das das Bedürfnis nach regelmäßigen und verlässlichen Neuigkeiten befriedigt.
"Ganz egal ob gedruckt auf Papier oder einen Klick weit entfernt im Netz, da steht es Schwarz auf Weiß, das hat Autorität. Das ist meines Erachtens die große gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Tageszeitung." Eine Idee, die die Welt auch Timotheus Ritzsch, dem ersten Tageszeitungsverleger vor 370 Jahren aus Leipzig, zu verdanken hat.