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Die Ernstfälle des Daseins

Auf den ersten Blick erinnert das Duo aus Kommissar Kovacs und Psychoanalytiker Horn in Paulus Hochgatterers neuem Roman "Das Matratzenhaus" an das Personal eines typischen Fernsehkrimis. Doch der kriminalistische Handlungsfaden ist nur einer unter anderen.

    In Furth am See geht das Leben seinen Gang. Das heißt, es hastet, verrennt sich, erlahmt, strauchelt oder gerät auf Abwege. Junge Frauen traktieren mit Rasierklingen ihre Körper, Schulkinder werden von einer geheimnisvollen Erscheinung grün und blau geschlagen. Ein junger Mann stürzt von einem Baugerüst zu Tode, doch nicht einmal der gewöhnlich gut informierte Drogendealer weiß, ob es sich um Mord handeln könnte. Eine Kindergärtnerin vegetiert nach einem Arbeitsunfall neben ihrem verbitterten Mann als Schwerstbehinderte dahin. Ungeniert verkehrt ein Benediktinerpater mit seiner Geliebten, ohne dass sich jemand daran stört. Andererseits ahnt auch keiner, dass irgendwo in der Stadt Kinderschänder am Werk sind.

    Und Kovacs ist ständig unterwegs, wie man das von Kriminalkommissaren kennt. Er macht sich Sorgen und fürchtet sich ein wenig vor dem Besuch seiner ihm durch Scheidung entfremdeten Tochter.

    "Ob es am Tatort irgendeinen Hinweis auf Fremdverschulden gegeben habe, fragte er. So gut wie nichts, antwortete Mauritz. So gut wie sei Kacke, sagte Kovacs, und Mauritz darauf, also, es habe keinen Hinweis gegeben, keine Spuren einer körperlichen Auseinandersetzung, nicht die Fußabdrücke einer zweiten Person. "Hat man genau geschaut?", fragte Kovacs."


    Im Fernsehen werde den Kommissaren von Angehörigen eines Mordopfers immer Kaffee angeboten, sagt einmal die Mutter des abgestürzten Mannes zu Kommissar Kovacs. Doch das ist längst nicht der einzige Punkt, an dem Paulus Hochgatterers Roman "Das Matratzenhaus" an die zahllosen Krimiserien der TV-Sender erinnert.

    Das beginnt schon bei der Figur des Kommissars, dem man hier beim Arbeiten und Leben zusieht. Er ist geschieden wie fast alle seine Fernsehkollegen, wie diese laboriert auch er an einer Teilzeitbeziehung und auch bei ihm spielen die Privatangelegenheiten eine ebenso große Rolle wie der Job. Vor allem aber hat Hochgatterer so viele Themen, Vorfälle und Handlungselemente in seinen Roman hineingepackt oder zumindest angerissen, als wollte er mit allen Fernsehkrimis gleichzeitig wetteifern.

    Da aber solche Mengen an Lebensstoff von einem Kommissar alleine gar nicht bewältigt werden können, hat ihm Hochgatterer noch einen zweiten Spezialisten für die Schadensfälle des Lebens an die Seite gestellt: nämlich einen Psychiater. Ebenfalls keine ganz neue Idee, die dem Autor aber persönlich naheliegt, da er selbst diesen Beruf in Wien ausübt. Während Kommissar Kovacs also die Probleme in Furth am See mit polizeilichen Mitteln angeht, setzt sich Raffael Horn damit in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses auseinander.

    " Etwas Schwarzes schlägt ein Kind, dachte Horn, darum geht es. Manche Dinge merke ich mir. Auf dem Weg zu seinem Zimmer sah er die Polizistin mehrmals von der Seite an. An der Tür blieb er stehen. "Wer stellt die Fragen?" "Sie", sagte sie, "hier ist Ihr Reich."

    Er begann wie immer, wenn er es mit Kindern zu tun hatte. Er erzählte von den Aufgaben eines Psychiaters, davon, dass gewisse Dinge wirklich waren und andere nicht, und dass ein Mensch das üblicherweise auseinanderhalten konnte ... "

    Kommissar Kovacs und Psychiater Horn wurden schon in Hochgatterers Roman "Die Süße des Lebens" von den Ernstfällen des Daseins auf Trab gehalten. Trotzdem gehören die Romane, deren Helden sie sind, nicht eindeutig zum Kriminalgenre. Ebenso gut lassen sie sich als Gesellschaftsromane ansehen, in denen der kriminalistische Handlungsfaden nur einer unter anderen ist. Ganz abgesehen davon, dass es in "Das Matratzenhaus" neben den Erzählperspektiven von Kommissar und Psychiater noch eine dritte gibt. Sie gehört zu einem jungen Mädchen, das gleichsam aus dem Inneren des geheimnisvollen Unheils berichtet, was den Roman noch um einen Anflug von Schauergeschichte bereichert.

    All diese Zutaten machen Hochgatterers Roman zu einer abwechslungsreichen Lektüre. Er bietet die Spannungsmomente eines Krimis, er entrollt ein lebendiges soziales Panorama und er blättert die psychische Krankenakte einer Kleinstadt auf. Allerdings ist Hochgatterer vor allem ein emsiger Erzähler, der jedoch stilistisch und handlungstechnisch wenig Glanz entwickelt. Dramaturgisch kommt die rasche Folge aneinandergereihter Szenen und knapp angerissener Figurenporträts dem schlichten Bauprinzip einer Stoffsammlung gefährlich nahe. Eindringlichere Bilder, Gedanken oder Profile sind kaum zu entdecken.

    Doch trotz des Verzichts auf die Mittel der raffinierteren Kunst gelingt es Hochgatter mit seiner fortgesetzten Chronik von Verbrechen und Krankheit in Furth am See, den geneigten Lesern einige Schauer über den Rücken zu jagen.

    Paulus Hochgatterer: Das Matratzenhaus. Roman. Deuticke im Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010. 294 Seiten, 19,90 Euro.