Dies vorausgeschickt, um auf eine ungewöhnliche Edition aufmerksam zu machen. Die gesamten Erzählungen Cortázars mit über eintausend Seiten bringt der Suhrkamp Verlag in einem Band. Was über Jahre lustvoll in Einzelbänden auch als haptisches Erlebnis zu genießen war, türmt sich zu einem literarischen Andengebirge auf, das erst durchschritten und bezwungen werden will. Wer die Copyright-Seite aufmerksam liest, merkt gleich, daß der monströse Band nicht Suhrkamps Idee entsprungen sein konnte, sondern die des Madrider Verlags Alfaguara war, der für seine überziegelsteingroßen Sammelbände berüchtigt ist. Wie schön waren daneben die von Cortázar noch selbst eingeleiteten Taschenbuchbände seiner in Mexiko oder auch in Spanien erschienenen Ausgaben! Selbst die damals nicht sonderlich attraktiven Suhrkamp-Taschenbücher kamen Cortázars Aura der Heimlichkeit und Intimität entgegen, die uns beim Lesen seiner Erzählungen so gefangen nimmt.
Ist es denn beispielsweise vorstellbar, daß etwa das witzige Kurzprosastück "Geschichte der Cronopien und Famen", "diese grünen, borstigen feuchten Dingerchen", wie sie sein Erfinder genannt hat, sich hier integrieren lassen? Die Cronopien, boshafte Boten des Unvorhergesehen und die sich an die herrschenden Sitten anpassenden Famen - das sind hintersinnige Prosaetüden von unglaublicher Heiterkeit, Ironie und tieferer Absicht - und präsentieren sich so:
"Ein Cronopium geht durch die Wüste und begegnet einem Löwen. Es entspinnt sich folgendes Zwiegespräch: Löwe: - Ich fresse dich. Cronopium (sehr traurig, aber mit Würde): - Nun gut. Löwe: - Oho, so nicht. Vor Märtyrern bewahr mich der Himmel. Entweder weinst du nun oder kämpfst, eins von beiden. So kann ich dich jedenfalls nicht fressen. Marsch, ich warte. Du sagst nichts? Das Cronopium sagt nichts, und der Löwe weiß nicht weiter, bis ihm ein Gedanke kommt. Löwe:- Es trifft sich gut, daß ich in der linken Pfote einen Dorn habe, der mich weidlich peinigt. Zieh ihn mir heraus, und ich will dich begnadigen. Das Cronopium zieht ihm den Dorn heraus, und der Löwe knurrt, während er von dannen schreitet, mißlaunig: - Danke, Androklus."
Wer Julio Cortázar solchermaßen schätzt, für den ist dieser Band im doppelten Leibesumfang eines Jean-Paulschen Romans qua Lustprinzip kein Hindernis, dem virtuosen Erzähler erneut zu begegnen. Dafür sorgt auch Mario Vargas Llosa mit einem bewegenden Vorwort. Und in dem ersten Dutzend früher Erzählungen, die bisher noch nicht auf Deutsch veröffentlicht wurden, erkennt der Cortázar-Leser seinen Autor sofort: Die fast unmerkliche Überschreitung des Realen, die Verwandlung in einen anderen, und sei es in die Gestalt eines Vampirs oder die Verdoppelung des Ich. Die Dinge geraten phantastisch, nein sie sind es, wenn man sie nicht nimmt, wie sie sind. Eine englische Aufschrift auf einer Schachtel Star Washers veranlaßt den damals 28jährigen Erzähler,eine Gesellschaft, Die Sternputzer, zu erfinden, die die Gestirne alle so glänzend rein putzen, daß "die Nacht abgeschafft, der Himmel oh Grauen, glänzend weiß war!" Ganz schnell endet der humorvolle Ansatz im Grotesken oder Tragischen und klingt, 1942 geschrieben, schon wie eine Vorwegnahme der Folgen, die das Ozonloch heute verursacht: "Ein schreckliches Kreischen, wie Glas, das ein Auge schrammt, erhob sich plötzlich in der Luft und breitete sich aus wie eine jähe schreckliche Yggdrasil. Alle Direktoren der Gesellschaft lagen am Boden, preßten ihre Hände auf die Augenlider, und in der ganze Welt wälzten sich die Menschen auf der Erde, drängten in die Keller, ins Dunkel, stachen sich mit Fingernägeln und Klingen gegenseitig die Augen aus, um nicht sehen zu müssen, ja nicht sehen zu müssen, nur ja nicht sehen zu müssen..."
Auf den unveröffentlichten Teil folgen ca. 80 Erzählungen sowie die gesamte erzählende Kurzprosa. Man erwarte nun vom Rezensenten keine griffige Formel, keine bequemen Schubfächer, um Cortázar als Geschichtenerzähler einzuordnen; er selbst hat derlei gehaßt. Es läßt sich dieser erzählerische Reichtum noch nicht einmal auf den auch vom Autor selbst einmal verwendete Begriff "phantastische" Literatur reduzieren.
"In meinem Schreiben gibt es immer ein Aufbegehren, nicht die Dinge als gegeben, als schicksalhaft zu akzeptieren; das gibt meiner Literatur einen phantastischen Zug."
Wenn wir an so unauslöschliche Geschichten wie "Omnibus", eine Höllenfahrt durch Buenos Aires, denken, oder an den Überlebensmarsch "Die Vereinigung", eine antiheroische Erzählung, die in der Zeit der Befreiung Kubas durch Castro spielt und in der der Ich-Erzähler erst im vorletzten Absatz mit "Che", das ist Che Guevara, angeredet wird, "weil niemand genau weiß, wer da erzählt" - dann müßten wir ja sagen: Cortázar war doch ein raffinierter, ein nobler Realist. Cortázar ist phantastischer und realistischer Erzähler in einem. Vielleicht ist der wirkliche Realist immer auch der phantastische Erzähler, weil er bis hinter die Erscheinungen dringt, die dann, weil die Erwartung eine andere war, komisch, grotesk, phantastisch anmuten. Wer erinnert sich nicht an Michelangelo Antonionis großen Filmklassiker "Blow-up"? Die Anregung dazu lieferte Cortázar mit seiner Erzählung "Teufelsgeifer". Der Amateurfotograph, der glaubt in einem Park eine gute Geschichte eingefangen zu haben, in dem er voyeurhaft ein seltsam ungleiches Liebespaar mit der Kamera beobachtet, begreift, als er den Film entwickelt hat, daß dahinter noch eine andere Geschichte zu erkennen ist, deren er nicht mehr habhaft wird:
"Das Photo war gemacht, viel Zeit war verstrichen, wir waren weit entfernt von einander, die Verführung war sicher begangen, die Tränen waren vergossen worden und der Rest war Vermutung und Traurigkeit. Plötzlich verkehrte sich die Ordnung, sie waren lebendig, bewegten sich, handelten und waren voller Energie, gingen ihrer Zukunft entgegen; und ich von diesem Gesichtspunkt aus Gefangener einer anderen Zeit, eines Zimmers in einem fünften Stock, ich wußte nicht, wer sie waren, diese Frau und dieser Mann und dieses Kind, ich war weiter nichts als die Linse meiner Kamera, etwas Starres, unfähig dazwischenzutreten. Sie trieben ihren grausamen Spott mit mir, indem sie angesichts meiner Machtlosigkeit handelten, indem der Junge noch einmal zu dem weißgepuderten Clown hinsah und ich begriff, daß er annehmen würde, daß der Antrag mit Geld oder Betrug verbunden sein würde und daß ich ihm nicht zurufen konnte, zu fliehen. Alles sollte ebendort, in diesem Augenblick sich entscheiden, es herrschte eine ungeheure Stille, die mit natürlicher Stille nichts zu tun hatte. Jene spannte sich, wurde bedrohlich. Ich glaube, daß ich schrie, fürchterlich schrie, und daß ich in diesen Sekunden wußte, daß ich mich zu nähern begann..."
Die Spannung wird unerträglich, desgleichen in Antonionis Film. Die besondere Art, wahrzunehmen und zu erzählen, gibt in dieser feinen Schilderung auch Hinweise auf Cortázars Poetik, auf die Dichotomie von Realität und "Surrealität". Der Fotograph, der eigentlich sein Brot als Übersetzer verdient, wird beim Betrachten seiner Bildsequenzen andere Versionen des Gesehenen; und der Erzähler wechselt, wenn er es für nötig hält, in die kommentiernde Er-Position. So ist der Erzähler Cortázar mit seinem Sprachvermögen auch ein Übersetzer der Wirklichkeit.
"Sprache hat für mich eine Klopfbewegung wie der Rhythmus des Herzens. Ohne dieses Klopfbewegung wird das Schreiben prosaisch. Sie übersetzt die Kommunikationen, die durchs Unbewußte und Unterbewußte gehen."
Jeder, der einmal ein paar Erzählungen von Cortázar gelesen hat, wird rasch merken, daß er ein Spiel mit dem Leser treibt: den Leser zum Komplizen zu machen, ist intergaler Bestandteil seines Erzählens. Wenn er z.B. in einer der frühen, bislang hier unbekannten Geschichten "Ferner Spiegel" auf den ersten Seiten scheinbar biographische Fakten für das gesicherte Selbstporträt eines Lehrers liefert - bevor ihm und uns dann alles Gesicherte entgleitet: "Es ist mir bewußt, daß mein Bericht bisher noch nach Tagebuch aussieht, eine elegante Art, künftigen Biographen 'comptes rendus' an die Hand zu geben, doch war es vielleicht nötig, damit sich der hypothetische Leser, geradeso wie ich, über das sonderbare Gefühl des Eingesperrtseins wundert, das mich am Nachmittag des 15. Juni überkam."
Und jetzt beginnen erst die unheimlichen Verwirrungen, nämlich die, daß der Erzähler doch seine Wohnung verläßt, eine andere aufsucht - ist es eine andere? - denn er stellt dort fest, daß er in der fremden Wohnung "hier zu Hause" ist. Er wird widerlegt und bestätigt. Und der Leser reibt sich leicht die Augen. Man kommt, auf schöne Weise getäuscht, nicht dahinter, wo Ich und Ort eins sind. "Die Obsession der Verdopplung habe ich seit meiner Kindheit, denn ich habe den Eindruck, daß viele Menschen an dieser Verdopplung teilnehmen, deren sie sich bewußt oder nicht bewußt sind."
Ein Thema seit der Romantik, dem Cortázar seine Einzigartigkeit gibt; und diese liegt ja schon in den verzwickten Lebensumständen des Argentiniers in Paris begründet. Verdopplung und Spiel mit dem Leser - wir finden sie in einer ebenso trivialen wie verzaubernden Liebesgeschichte, einer Fernfahrergeschichte, die schlicht: "Geschichten, die ich mir erzähle" heißt. Der Ich-Erzähler liegt im Bett, neben ihm seine Frau Niágara, die, von der Arbeit müde, schon schläft, und unterhält sich mit dem Erfinden von Geschichten. Der Reiz dieser Erzählung, die ihren Stoff einer kitschigen telenovela entliehen haben könnte, ist die vielfache Brechung, Spiegelung und Verdoppelung, in der die Beziehung des Fernfahrers zu dem zarten Mädchen Dilia entsteht. Cortázar läßt seine Schöpfung immer durch eine wie authentisch wirkende Situation als real bekräftigen, zum Beispiel so:
"Mag sein, wenn Niágara dagewesen wäre, in ihrem Schlafe leise murmelnd und schnaubend, daß ich Dilia dann nicht mitgenommen hätte, daß ich sie und den Fernlaster und die Geschichte dadurch ausgelöscht hätte, daß ich einfach die Augen geöffnet und zu Niágara gesagt hätte: 'Seltsam, eben war ich drauf und dran, mit einer Frau zu schlafen, und die war Dilia'; worauf Niágara vielleicht die Augen geöffnet hätte, mir einen Kuß auf die Wange gegeben und mich einen Spinner genannt hätte, oder Freud ins Spiel gebracht oder mich gefragt hätte, ob ich schon mal mit Dilia habe schlafen wollen, um von mir die Wahrheit zu hören, oder daß in diesem tristen Leben, obgleich dann wieder Freud und so. Aber da ich mich allein fühlte in der Geschichte, so allein, wie er nun einmal war, ein Fernfahrer mitten in der Nacht über die Sierra, konnte ich einfach nicht vorbeifahren: ich bremste langsam, öffnete die Tür und ließ Dilia einsteigen, die müde und schläfrig gerade nur ein 'Danke' hauchte und ihre Reisetasche vor den Füßen, sich's auf dem Sitz bequem machte."
Die Liebesnacht, die sich die beiden leisten, ist vorüber. Eine andere Seite wird aufgeschlagen: Der Erzähler erfährt von Dilia, in deren Wohnung mit Mann und Kind sie sich befinden - man ist seit schon Jahren befreundet-, daß sie mit einem Fernfahrer geschlafen habe, er solle es ruhig Alfonso erzählen. Der sei auf seine Art eh schon davon überzeugt, glaube es aber nicht. Und nun der Schluß der Geschichte, um etwas von der raffinierten Technik der Erzählung zu begreifen, die in ihrer Simultaneität einer wilden Kamerafahrt gleicht, bei der die wechselnden Ebenen dazu- oder ausgeblendet werden:
" So war's, weder würde ich etwas sagen, noch würde sie verstehen, warum sie mir das sagte, warum mir, der ich sie nichts gefragt hatte, der ihr nur gesagt hatte, was sie auf dieser Seite der Geschichte nicht verstehen konnte. Ich fühlte meine Augen als Finger, die ihre Wangen, ihren Hals hinunterglitten, nach den Brüsten suchend, die die schwarze Bluse nachformte, so wie meine Hände sie die ganze Nacht, die ganze Geschichte lang nachgeformt hatten. Das Verlangen war ein geduckter Sprung, das absolute Recht, mich ihr zu nähern, ihre Brüste unter der Bluse zu suchen und Dilia das erste Mal zu umarmen. Sie drehte sich wieder um, und ich sah, wie sie sich erneut bückte, aber jetzt ganz leicht, ohne die Last des Schweigens; flink zog sie die Windeln hervor, der Geruch eines Babys, das Pipi und Kaka gemacht hat, drang zu mir zusammen mit dem Gemurmel Dilias, die das Kind beruhigte, damit es nicht weine, ich sah ihre Hände, die nach Watte suchten und sie zwischen die angehobenen Beine des Babys legten, ich sah ihre Hände das Baby säubern, anstatt zu mir zu kommen, wie sie zu mir gekommen waren in der Dunkelheit dieses Lastwagens, der mich in den Geschichten, die ich mir erzähle, so dienlich gewesen war."
Mit diesem Ende, einer Art realistischer Wende der Geschichte, bekommt sie erst ihre Irrealität und gleichzeitig erlebt der Leser die Entstehung der Geschichte in der Geschichte. Cortázar liebt Geschichten, die ihren Entstehungsprozeß zum Thema haben wie "Text in einem Notizbuch", "Manuskriptfund in einer Jackentasche", "Tagebuch für eine Erzählung". Es sind besonders raffinierte Erzälungen als Ablenkungsmanöver, um den Leser unmerklich in den Erzählprozeß zu verwickeln. Und wie in der Fernfahrergeschichte, die im Bett erzählt wird, sucht Cortázar oft eine intime Umgebung als scheinbar gesicherten Rahmen; doch rasch gerät der Leser seiner Vexierspiele in einen schönen Irrgarten. So spielen viele Geschichten wie schon in dem frühen berühmten Band "Bestiarium" in der vertrauten Umgebung der Familie. Aber da wird ein Haus von offenbar dunklen Mächten nach und nach besetzt, so daß Bruder und Schwester sich schließlich genötigt sehen, es zu verlassen, ohne die Ursachen zu erforschen. Im "Brief an ein Fräulein in Paris" spuckt der Briefschreiber von dem Augenblick an, da er in die Wohnung des Fräuleins gezogen ist, Kaninchen, die die Wohnung langsam zerstören. Es ist das spielerische Element, das den eigentlichen Reiz so vieler Erzählungen ausmacht. Humor und Spiel sind von Anfang an in Cortázars Schreiben eine Konstante,was paradox erscheint, denn fröhlich sind diese Erzählungen ja nicht gerade. Er hat einmal erklärt, was er unter Spiel in der Literatur versteht: "Das Spiel ist für mich ein Ritual, eine Zeremonie. Die Literatur ist in diesem Sinne mein Spielfeld. Ich spiele beim Schreiben, aber ich spiele seriös. Und dieses Spiel kann ein Todesspiel sein."
Zu diesem Spiel gehört, daß man nicht immer hinter Cortázars Geheimnisse kommt. Zum Beispiel wählt er im Gegensatz zu Jorge Luis Borges keine geheimnisvollen Titel, sondern Titel, die wenig aussagen, ja teilweise wie etwa "Alle lieben Glenda" trivial sind. Und was mag schon eine Geschichte mit dem Titel "Man beschuldige niemanden" bieten? Vier Seiten, die nichts anderes zu schildern scheinen, als daß ein Mann versucht, einen blauen Pullover anzuziehen - ein grandioses erzählerisches Kabinettstück, Allegorie auf die Fremdheit zu sich selbs, als müsse man erst eine Verwandlung durchmachen, um befreit zu sich zu kommen. "Ich bin nicht ich. Ich." läßt Cortázar eine seiner Figuren einmal sagen. Von Anfang an begegnen wir darum dem wunderbaren Spiel der Verdopplung:vom Vampir im Körper der Lady Vanda in der frühen, hier erstmals veröffentlichten Geschichte, "Der Sohn des Vampirs", bis zur berühmt gewordenen Erzählung "Axolotl", in der der Ich-Erzähler, der täglich im Zoo den Axolotl betrachtet, diesem gleicht, ja schließlich dieser Axolotl ist. Magie, Zauberei? Was heißen kann, daß, wer Julio Cortázars Erzählungen liest, an den wundersamsten Verwandlungen teilnimmt.