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"Die EU hat sich um die Ukraine einfach nicht gekümmert"

Bettina Klein: Herr Rahr, mit welchen Entwicklungen rechnen Sie jetzt in der Ukraine? Ist es möglich, dass es auch dort zu so etwas wie einer Rosenrevolution kommt wie vor einem Jahr in Georgien?

Moderation: Bettina Klein |
    Alexander Rahr: Das ist durchaus möglich. Die Frage ist, wie lange harren die Demonstranten in Kiew aus, wird es in anderen Städten der Ukraine zu vergleichbaren Demonstrationen kommen, wie wird sich der Osten der Ukraine verhalten? Man darf nicht vergessen, dass dort die Bevölkerung zu über 90 Prozent - und das, denke ich, ist realistisch - für Janukowitsch gestimmt. Werden beide, Janukowitsch und Juschtschenko, sich nicht doch an einen Tisch setzen können? Eine Rosenrevolution wie in Georgien ist deshalb nicht ganz möglich, weil die Hälfte der Ukrainer, wie gesagt, Juschtschenko nicht unterstützt. Was ich mir vorstellen könnte, ist, dass durch eine Art Vermittlung des Westens, durch ein Stillhalten von Russland und durch eine sehr gut ausgewogene Politik des jetzigen Präsidenten Kutschma Janukowitsch und Juschtschenko eines machen: sich zusammensetzen und daran gehen, die politischen Reformen des ukrainischen Systems anzusprechen und vielleicht auch einen Vertrag zu unterschreiben, um diese Reformen dann durchzuführen.

    Klein: Aber entscheidende Frage ist natürlich auch, welche Rolle Russland, welche Rolle der russische Präsident Vladimir Putin spielen wird. Das US-Außenministerium hat sich offenbar sehr viel klarer positioniert als die Europäer. Es hat den russischen Botschafter einbestellt und gefragt, wie Putin eigentlich dazu kommt, so Einfluss zu nehmen und dem von ihm bevorzugten Kandidaten zum Wahlsieg zu gratulieren. Müsste sich Europa daran ein Beispiel nehmen?

    Rahr: Wissen Sie, Putin hat ja auch zurückgerudert. Es stimmt, dass er sich in den Wahlkampf eingemischt hat. Ich denke aber, dass die amerikanische nicht in dieser Art und Weise, aber doch auch stark im ukrainischen Wahlkampf auf der anderen Seite eingemischt hat. Die Ukraine ist leider Gottes bedauerlicherweise zu einem geopolitischen Objekt zwischen Russland und den USA geworden. Die Europäische Union unterstützt hier eher die Amerikaner auf dieser Linie. Ich glaube, die Europäische Union hat sich um die Ukraine einfach nicht gekümmert. Wenn wir uns in den letzten Jahren und vor allen Dingen Monaten intensiver um die Ukraine gekümmert hätten, hätten wir mehr Einfluss. Wir würden Juschtschenko viel besser kennen und würden auch möglicherweise als Vermittler viel stärker in diesen Konflikt eintreten können. Aber das tun wir nicht. Kein europäisches Land hat sich in der Tat so eng mit der Ukraine beschäftigt. Wir haben alle nach Russland geschaut. Präsident Putin hat sich in der Tat in den Wahlkampf eingemischt, hat aber jetzt eher auf die Bremse getreten, versucht aus dieser Situation wieder herauszukommen, sagt, dass das Ergebnis noch nicht hundertprozentig feststeht. Er ist natürlich in der Gefahr, einen Gesichtsverlust zu erleiden, wenn es nun feststehen würde, dass die Wahlen in der Tat so gefälscht sind, dass Janukowitsch die Wahl nicht antreten kann.

    Klein: Das ist in der Tat die Frage, denn gestern noch hat er die Wahlbeobachter der OSZE sogar verdächtigt, sie würden ihre Arbeit nicht richtig machen. Also das könnte relativ peinlich für Putin ausgehen.

    Rahr: Es könnte für ihn peinlich ausgehen, weil er sich eben so engagiert hat in der Ukraine. Für ihn ist die historische Chance zum Greifen nahe, die Ukraine, Weißrussland und andere Sowjetrepubliken näher an Russland zu führen. Das ist seine erklärte Politik, das ist seine erklärte Absicht, und er sieht diese große Chance bekommen, dass eben die Europäische Union sich erweitert hat und sich sozusagen von den Territorien der alten Sowjetunion losgelöst hat und gesagt hat, wir wollen uns nicht weiter erweitern, das, was in der Ukraine, Moldawien, Weißrussland passiert, das wissen wir nicht, das ist die direkte Nachbarschaft, aber das sind keine Beitrittskandidaten für die Europäische Union. Das war ein gutes Signal für Russland, hier zu agieren. Auf der anderen Seite orientiert sich Putin selber nach Europa. So gesehen, ist der große Konflikt noch gar nicht entstanden. Er könnte entstehen, wenn wir weiterhin uns um die Ukraine so schlagen, wie wir das jetzt tun. Aber ich hoffe, dass Herr Putin genug Weitsicht hat und auch vom Westen her beeinflusst werden kann, hier in der Ukrainefrage doch, sage ich mal, die Konzilianz zu zeigen.

    Klein: Wir stehen in der Tat kurz vor einem EU-Russland-Gipfel, bei dem Putin möglicherweise auch weiterhin Ansprüche in Bezug auf das Verhältnis zum Westen geltend machen wird. Da stellt sich die Frage nach den Lehren, die die EU aus dem Geschehen in der Ukraine und auch aus Putins Machtansprüchen ziehen sollte.

    Rahr: Sicherlich wird es auch über Ukraine einige Sachen zu klären geben. Aber die russische Position ist inzwischen eine ganz andere als noch vor wenigen Jahren. Russland verbittet sich jegliche Einmischungsversuche des Westens in innere Angelegenheiten. Die OSZE soll nach Russland am besten abgeschafft werden. Übrigens haben die Ukraine, Kasachstan und andere prosowjetische Staaten einen gemeinsamen Brief unterschrieben, damit die OSZE möglicherweise ganz aus dem postsowjetischen Territorium abzieht. Man sieht in der OSZE eigentlich nur noch ein Instrument des Westens, auf demokratische Defizite in diesen Ländern hinzuweisen, ohne dass es dort um Sicherheitspolitik und die größeren Dinge geht. Mit der EU hat Russland immer noch diese vier Räume nicht aufgebaut. Das ist unsere Priorität. Wir müssen eine neue Vision für das Wider-Europe entwickeln und sehen, was man tun kann, um dieses neu erstarkte Russland, aber auch Russland, das weniger demokratisch ist als vor wenigen Jahren und ein immer schwierigerer Partner ist, auf der anderen Seite ein Partner, von dem wir abhängiger werden in Fragen Energie, an Europa anzubinden, ohne Russland zu verlieren.

    Klein: Vielen Dank für das Gespräch.