Sandra Schulz: Einerseits sind da die Umfragen. Danach stehen die Chancen etwa fifty-fifty mit einer leichten Tendenz zu einer Mehrheit, die für einen Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union stimmen würde. Andererseits lagen die Meinungsforscher zuletzt bei der Wahl in Großbritannien auch gründlich daneben. Einerseits ist da ein David Cameron, der einen Brexit wohl vermeiden will.
Andererseits muss er dafür von der Europäischen Union ganz erhebliche Zugeständnisse bekommen. Neben der Flüchtlingsfrage ist das heute das Hauptthema und morgen auch des EU-Gipfels in Brüssel. Dabei gibt es, aller Differenzen zum Trotz, auch Gemeinsamkeiten zwischen London und Berlin.
Klar ist, derzeit holpert es ganz mächtig in Europa, und als Wirtschaftsbündnisse waren die europäischen Gemeinschaften ja mal gegründet worden. War Europa denn überhaupt jemals mehr als ein Wirtschaftsbündnis, fragen gerade jetzt in Zeiten der Krise die Zweifler. Immer wieder hat es bei der politischen Integration Rückschläge gegeben. Diese Krisenzeiten, die sehen viele als einen einzigen Rückschlag. Und wenn das alles nichts hilft, dann gehen wir back to the roots und sprechen über die Wirtschaft.
Am Telefon begrüße ich Christian Odendahl, Chefvolkswirt des Centre for European Reform in London. Guten Morgen.
Christian Odendahl: Guten Morgen.
Schulz: Herr Odendahl, kann sich Großbritannien wirtschaftlich den Brexit überhaupt leisten?
Odendahl: In Großbritannien werden sicherlich nicht die Lichter ausgehen, wenn es zum Brexit kommt, aber die britische Wirtschaft würde Schaden nehmen. Das steht außer Frage. Und die Vorteile aus einer neu gewonnenen Freiheit gäbe es auch kaum.
Die Kernfrage ist aber - und das weiß, ehrlich gesagt, auch niemand -, was kommt eigentlich nach einem Austrittsvotum. Die wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien hängen maßgeblich davon ab, wie das Arrangement nach einem Brexit zwischen Großbritannien und der EU aussähe.
Die Kernfrage ist aber - und das weiß, ehrlich gesagt, auch niemand -, was kommt eigentlich nach einem Austrittsvotum. Die wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien hängen maßgeblich davon ab, wie das Arrangement nach einem Brexit zwischen Großbritannien und der EU aussähe.
Schulz: Sie sagen gerade, die Freiheiten, die wären mit wahrscheinlich nicht so vielen Vorteilen verbunden. Aber was ist denn mit dem Finanzplatz London? Würde der nicht viel freier?
Odendahl: Der Finanzplatz London ist natürlich, historisch gewachsen, sehr, sehr stark. Das ist auch schwer zu schlagen nach einem Austritt aus der EU. Allerdings ist ein Teil des Finanzplatzes London schon auf den gemeinsamen Markt und den Zugang zum europäischen Markt angewiesen. Das heißt, nicht alle Geschäfte würden in Großbritannien verbleiben.
Was die Regulierung angeht, den Finanzplatz London anders zu regulieren, natürlich mag man den Eindruck haben, dass die Briten eine etwas leichtere Regulierung haben als Europa. Nur ist das seit der Krise eigentlich nicht mehr so. Eigentlich ist es eher so, dass die Briten ihre Banken strenger regulieren, und bei den Konflikten um Bankregulierung in der EU ging es zuletzt eigentlich eher darum, dass die Briten gerne über die Regulierung der Europäer hinausgehen wollen und deshalb eigene Freiheiten in der Richtung haben möchten.
Schulz: Welche Branchen würden denn am meisten leiden unter einem Brexit?
Odendahl: Diejenigen, die am meisten vom EU-Handel abhängig sind. Denn Großbritannien profitiert natürlich wie jedes andere EU-Land auch vom freien Zugang zu anderen EU-Märkten. Jedes zweite Exportgut aus Großbritannien landet in der EU. Diesen Zugang zu verlieren, wäre für britische Exporteure, die sehr viel in den EU-Markt exportieren, natürlich teuer, da es die Kosten im Handel mit der EU nach oben treibt.
Schulz: Heißt umgekehrt aber, dass David Cameron, wenn er jetzt für den Verbleib Großbritanniens werben wollte, eigentlich viel stärker, als er es bisher getan hat, auch die wirtschaftliche Karte spielen kann.
!Odendahl:!! Zunächst mal muss man sagen, dass David Cameron auf jeden Fall für einen Verbleib in der EU sich einsetzen wird. Das steht außer Frage. Das war auch eigentlich immer klar. Er musste natürlich zeigen, dass er eine offene Verhandlung führen möchte, und insofern konnte er das nicht zu laut sagen, aber das war eigentlich politisch immer klar. Und er wird die wirtschaftliche Karte spielen, das ist sicher, denn die wirtschaftlichen Nachteile - da sind sich Ökonomen eigentlich weitgehend einig - überwiegen die kleinen Vorteile, die Großbritannien vielleicht außerhalb der EU hätte.
"Die EU hat durch einen Brexit eigentlich nichts zu gewinnen, aber einiges zu verlieren"
Schulz: Sie haben es schon gesagt: Was nach dem Brexit käme, das ist nicht so ganz klar, ob es vielleicht Freihandelsverabredungen gäbe oder ob die Verbindung komplett abgeschnitten würde. Wenn wir mal bei letztem Szenario bleiben, so - ich gebe es offen zu - unwahrscheinlich das vielleicht auch ist. Was hieße so ein Schritt denn umgekehrt für die Europäische Union?
Odendahl: Für die Europäische Union? Die würde natürlich ebenfalls wirtschaftlich Schaden nehmen. Zum einen fehlt dem gemeinsamen europäischen Markt dann eines seiner größten Mitglieder. Auch für EU-Exporteure wäre es dann natürlich schwieriger, nach Großbritannien zu exportieren.
Die EU hätte weniger Gewicht, außenpolitisch, auch handelspolitisch. Und die Briten waren keineswegs schlechte Europäer. Die EU-Osterweiterung als eine der großen Erfolgsgeschichten der EU war ein Kernanliegen der Briten. Und auch die Fortentwicklung des gemeinsamen Marktes in Dienstleistungen, was noch ein großes Thema sein wird die nächsten Jahre, würde ebenfalls mit Großbritannien eine treibende Kraft verlieren. Das heißt, die EU hat durch einen Brexit eigentlich nichts zu gewinnen, aber einiges zu verlieren.
"Das Beste, auf das beide Seiten tatsächlich hoffen können, ist ein weitreichendes Freihandelsabkommen"
Schulz: Und wenn wir über das Szenario sprechen mit Freihandelsverabredungen. Das täte Europa dann nicht ganz so weh?
Odendahl: Richtig. Der zentrale Punkt, was die Szenarien nach einem Brexit angeht, ist der Zugang zum gemeinsamen Markt. Je größer dieser Zugang für die Briten sein soll, je mehr werden sich die Briten allerdings an EU-Programmen beteiligen müssen.
Norwegen zum Beispiel ist kein EU-Mitglied, hat aber Zugang zum gemeinsamen Markt und muss daher auch ins EU-Budget einzahlen zum Beispiel, oder die Freizügigkeit von Arbeitnehmern akzeptieren. Das heißt, wenn die Briten vollständigen Zugang zum gemeinsamen Markt erhalten wollen, dann würden sie ein ähnliches Arrangement akzeptieren müssen. Das ist natürlich politisch unhaltbar.
Norwegen bekommt EU-Entscheidungen per Fax. Das heißt, politisch kommt diese Variante eigentlich nicht in Frage, dass Großbritannien sich weiterhin sehr vielen EU-Programmen und Regulierungen unterwerfen muss, aber nichts mehr zu sagen hat.
Das heißt, das Beste, auf das beide Seiten tatsächlich hoffen können, ist ein weitreichendes Freihandelsabkommen, dass zumindest im Handel die Hürden nicht allzu hoch sind.
Schulz: Jetzt sind wir aber in dem hypothetischen Fall eines Brexit. Wenn wir noch mal versuchen, den Schritt zurückzumachen und über die Ausgangslage sprechen. Wem würde denn dieser Schritt mehr weh tun, Großbritannien oder der Europäischen Union?
Odendahl: Der Schritt würde sicherlich Großbritannien wirtschaftlich weher tun, denn Großbritannien ist sehr viel abhängiger von einem sehr viel größeren Markt. Großbritannien ist zwar ein Teil, ein großer Teil des gemeinsamen Marktes, aber verglichen zum Rest der EU natürlich eher ein kleiner.
"Es sind rein politische Verhandlungen"
Schulz: Dann sind das in Brüssel auch rein politische Verhandlungen?
Odendahl: Das sind rein politische Verhandlungen, auf jeden Fall. Das Referendum schon von vornherein hat vor allen Dingen innenpolitische Gründe. David Cameron sah sich gezwungen, ein Referendum anzukündigen, um seine zunehmend europakritische Partei zu beruhigen, und zudem in einer Zeit, in dem die Umfragen seiner Partei im Keller waren. Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, dass er alleine würde regieren müssen sozusagen und dieses Referendum dann auch in die Tat umsetzen, war zum damaligen Zeitpunkt der Ankündigung extrem klein. Und die Hoffnung, dass er mit den Verhandlungen die EU ein Stück weit in britische Richtung steuern kann, war, um dann mit einem positiven Referendum diese innenpolitischen Konflikte zu begraben.
Es ist ein gefährliches politisches Spiel, gerade weil die wirtschaftlichen und außenpolitischen Folgen so gravierend sind.
Schulz: Und ein spannendes. - Vielen Dank an Christian Odendahl, Chefvolkswirt des Centre for European Reform in London, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke Ihnen ganz herzlich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.