Den Grund für das aktuellen Scheitern der Flüchtlingspolitik in Europa sieht der SPD-Politiker vor allem im Verhalten einzelner Staaten, die sich rigoros weigerten Flüchtlinge aufzunehmen. Im EU-Parlament habe es große Mehrheiten für eine EU-weite Regelung in der Flüchtlingsfrage gegeben. Als Teil dieser Regelungen nannte Schulz unter anderem eine Einwanderungsregelung für die EU, aber auch eine Ausweitung des temporären Schutzes für Bürgerkriegsflüchtlinge und des Asylrechts für politisch Verfolgte.
Doch bei vielen nationalen Regierungen gehe Egoismus vor Gemeinschaftsgeist. Besonders empört äußerte sich Schulz über reichere Staaten wie etwa Großbritannien, Irland, Dänemark oder Finnland, die ihre Grenzen vor den Flüchtlingen schließen. Die Regierungschefs müssten sich auf ihrem nächsten Gipfel überlegen, was für einer Union sie wollen: eine der Solidarität oder eine, in der das Motto "alle gegen alle" gelte.
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: In der Ägäis kommt es zu einer Schießerei mit Schleppern, bei der ein 17jähriger getötet wird. In Ungarn wird ein fünfter Verdächtiger festgenommen nach der LKW-Tragödie in Österreich. Zugleich gibt die Regierung in Budapest bekannt, dass die Stacheldraht-Barriere an der Grenze zu Serbien fertiggestellt ist. Im Mittelmeer ertrinken in drei Tagen vermutlich mehr als 600 Menschen aus Afrika. Die Slowakei und Polen weigern sich nach wie vor beharrlich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Tausende ziehen derzeit wieder durch Mazedonien, durch Serbien, um anschließend in die Europäische Union zu gelangen. Ausgangspunkt war Griechenland.
Immer mehr Flüchtlinge, immer mehr Restriktionen zahlreicher Mitgliedsländer. Wie solidarisch ist die Europäische Union? Unser Thema nun mit SPD-Politiker Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments. Wir erreichen ihn in Berlin. Guten Morgen!
Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Müller.
Müller: Herr Schulz, Sie waren schon oft enttäuscht von Europa. Wussten Sie, dass es noch schlimmer werden kann?
Schulz: Ich kann auf Ihre Frage ja nicht mit Enttäuschung antworten, sondern mit dem Hinweis darauf, dass das, was wir jetzt gerade erleben, das Europa ist, das diejenigen propagieren, die sagen, wir brauchen weniger Kompetenzen für die Europäische Union und mehr Kompetenzen für die nationalen Staaten. Das ist ja eine Parole, die in den letzten Jahren immer populärer geworden ist: weniger Brüssel und mehr nationale Hauptstadt. Und das ist genau das, was wir gerade erleben. Wir haben es mit einem globalen Problem zu tun. Ban Ki-moon hat gestern oder vorgestern zurecht darauf hingewiesen, dass das nicht nur ein europäisches, sondern ein globales Problem ist, die Migrationsfragen. Darauf können Sie nicht mit nationalen Lösungen antworten. Deshalb: Wir brauchen eine europäische und eine europäisierte Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, und die genau haben wir nicht, sondern wir haben eine nationale, zersplittert in 28 Länder, und damit werden wir das Problem nicht lösen.
Müller: Immer ist der nationale Egoismus schuld?
Schulz: Wir erleben gerade nationalen Egoismus in reinster Form. 'Florian, Du guter Mann, verschon mein Haus, zünd' andere an. Das ist, glaube ich, die Haltung, die einige, übrigens auch sehr reiche Mitgliedsländer der Europäischen Union einnehmen. Wir erleben die Priorität von Egoismus vor dem Gemeinschaftsgeist. Und man muss ja sehen: Die Zahlen sind dramatisch. Ich habe dem Bericht, den Sie gerade gesendet haben, ja nichts hinzuzufügen. Wir sehen die Bilder jeden Tag, aber wir sehen auch, wie einzelne Mitgliedsländer der EU schlicht und ergreifend mit Hinweis auf den nächsten Wahltag sagen, nein, machen wir nicht, wir haben bald Wahlen und wir wollen dieses Problem hier nicht im Lande haben, guckt wie ihr klarkommt. Der österreichische Bundeskanzler hat vor ein paar Tagen darauf hingewiesen, dass man dann irgendwann die gleichen Verfahren noch mal bei der Verteilung von Geldern aus dem EU-Haushalt anwenden müsste. Da hat er nicht ganz Unrecht.
Müller: Es gibt die ärmeren, es gibt die reicheren Staaten. Sie haben es gerade angesprochen, Martin Schulz. Sie sind ja immer bekannt auch für klare Worte, für eine klare Fixierung. Welche Reichen ärgern Sie?
Schulz: Schauen Sie sich die Länder in der EU an, die Flüchtlinge aufnehmen. Wir haben, wenn ich das richtig sehe, die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Malta und Schweden und Griechenland. Das sind die Länder, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen. Fast alle anderen Länder, vorwiegend mittel- und osteuropäische Länder, stark die baltischen Staaten, aber auch Großbritannien und Irland, aber auch Finnland sagen nein, haben wir nichts mit zu tun. Der dänische Ministerpräsident war in der vergangenen Woche in Berlin und hat ziemlich klar gesagt, dass sein Land eine völlig nur auf dänische Interessen zugeschnittene Einwanderungspolitik machen will. Also das hat ja keinen Sinn, jetzt zu sagen, dieses Land oder jenes Land. Fakt ist: 50 Prozent, glaube ich, gehen in vier Länder, 90 Prozent aller Flüchtlinge kommen in insgesamt neun Länder. Bei 28 kann man rechnen. Die überwiegende Mehrzahl von Ländern der EU nimmt gerade mal zehn Prozent der Flüchtlinge auf. Das geht so nicht.
Man muss auch zu Ihrem Bericht, den Sie gesendet haben, klar sagen: Die Kommission hat vor wenigen Wochen Vorschläge unterbreitet, die auf einem europäischen Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs dazu geführt haben, dass es 40.000 Flüchtlinge sein sollten. Da haben 28 Regierungschefs eine halbe Nacht drüber verhandelt. 40.000 Flüchtlinge, die verteilt werden sollten nach einem neuen Schlüssel, der dann als Modell hätte reichen können. Von diesen 40.000 sind nach meinem Kenntnisstand nicht mal 35.000 bis heute unter diesen Ländern verteilt worden. Das ist, mal mit einem Wort gesagt, eine Schande.
Schulz: In Sachen Asyl hat sich in der EU in 20 Jahren nichts geändert
Müller: Sie sagen, es bringt nichts, den schwarzen Peter zu benennen. Sie haben es ja doch jetzt direkt oder indirekt auch getan. Ist das nicht vielleicht das Problem, dass wir nicht ehrlich redlich, nicht offen, nicht transparent, nicht kritisch genug untereinander mit den Mitgliedsländern umgehen, dass eine Kanzlerin nicht in der Lage ist zu sagen, ihr seid in diesem Spiel nicht zuverlässig, ihr lasst uns im Stich?
Schulz: Ich weiß nicht, wer das sagen muss. Ich habe es als Präsident des Europäischen Parlaments im Auftrag meiner Institution praktisch auf jedem EU-Gipfel - ich eröffne die ja in der Regel mit meiner Rede - den Regierungschefs in dieser Form gesagt. Ich habe vor 20 Jahren als Abgeordneter des Europaparlaments in diesem Bereich gearbeitet: Außengrenzensicherung, Migration, Asyl, Einwanderung, Freizügigkeit. Meine Reden, die ich vor 20 Jahren in diesem Bereich gehalten habe, mit der Forderung nach einem Einwanderungsrecht für Europa, der Anerkennung, wir sind ein Einwanderungskontinent, deshalb brauchen wir auch Einwanderungsregeln so wie alle anderen großen Einwanderungsgebiete der Welt, die USA, Australien, Kanada, Neuseeland - da haben Sie nicht das Recht einzuwandern, aber die Chance, legal hinzukommen; da gibt es Gesetze; warum haben wir die in Europa nicht. Wir brauchen eine Ausweitung des sogenannten temporären Schutzes, also des Schutzes für Bürgerkriegsflüchtlinge oder Flüchtlinge, die vor Umweltkatastrophen fliehen und irgendwann wieder zurück wollen in ihre Heimat. Und dann am Ende als dritter Schritt politisches Asyl. Politisch heute bei uns geschützte Demokraten aus solchen Regionen sind die demokratischen Regierungen der Zukunft in diesen Ländern, und das ist übrigens das, was wir auch brauchen: Demokratie und Stabilität in den Herkunftsländern. Ich könnte meine Reden von 1995, wenn ich ein anderes Datum draufdrucken würde, auch heute so halten. In 20 Jahren hat sich nichts geändert und es hat sich deshalb nichts geändert, weil die Mitgliedsländer der EU sich zum Teil systematisch weigern, Kompetenzen für diese Fragen auf die Europäische Union abzugeben. Ich wiederhole, was ich am Anfang gesagt habe: Nationaler Egoismus, der teilweise übrigens vor der Realität blind ist, ist die Ursache dafür.
Müller: Herr Schulz, wie wäre es denn, den Mitgliedsländern, die nicht kooperieren, die sich nicht an die Vereinbarungen halten, einmal die Rote Karte zu zeigen und in irgendeiner Form zu sanktionieren, klar zu machen, dass Europa keine Einbahnstraße ist, dass es nicht nur um den Vorteil geht, dass es nicht nur um das positive Geld geht, sondern dass man auch Leistung und Entgegenkommen zeigen muss?
Schulz: Ich glaube, dass es an der Zeit ist, darüber so zu diskutieren. Das deutet sich ja auch an. Ich habe eben noch mal darauf hingewiesen, was Werner Faymann, der österreichische Bundeskanzler, vor wenigen Tagen gesagt hat. Es gibt einige der Länder, die bei solchen Fragen systematisch sagen, wir wollen kein Europa, das sind Dinge, die wir national regeln müssen, die das vom Grundsatz und auch ideologisch sagen, zum Beispiel die Regierung Großbritanniens, die klipp und klar sagt, nein, wir beteiligen uns an bestimmten europäischen Prozessen in dieser Form nicht, und es gibt andere Regierungen, die bei allen europäischen Prozessen immer dabei sind, aber sich bei dem nicht beteiligen wollen, bei diesem dramatischen Problem, und das wird man sicher irgendwann diskutieren müssen, ob es diese Art - das ist ja auch so ein populäres Wort - des "Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten", wo jeder dann sagt, nein, was gut ist, da mache ich mit, was mir nicht gefällt, da mache ich nicht mit, ob man das auf Dauer durchhalten kann.
"Es sind nationale Egoismen innerhalb der EU, die dieses Problem schaffen"
Müller: Sie treffen die Abgeordnetenkollegen ja nahezu täglich, wöchentlich aus diesen Ländern, über die wir reden. Wenn wir mal die Polen nehmen, die Slowaken, die Tschechen, die Balten. Die Slowaken nehmen nur Christen auf; 14 waren es im vergangenen Jahr, auch eine interessante Zahl. Die Polen sagen, wir sind kulturell noch nicht so weit. Dann sagen Sie okay, das ist das Problem des nationalen Egoismus. Sind denn Ihre Kollegen im Europäischen Parlament, die aus Polen, aus der Slowakei kommen, sind die anders, sind die "besser"?
Schulz: Die Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Parlaments - wir haben uns über fast alle Fraktionsgrenzen hinweg mit breiten Mehrheiten für die Forderungen, die ich eben definiert habe ausgesprochen, mit breiten Mehrheiten - Das liegt nicht an den Gemeinschaftsinstitutionen der EU. Wirklich! Das muss man jetzt mal deutlich sagen. Die Kommission hätte vielleicht ein bisschen aktiver sein müssen während der Sommerpause. Aber es ist nicht die Kommission. Juncker hat sich verprügeln lassen müssen für seine Vorschläge. Er hat angekündigt, ich komme jetzt im Herbst mit konkreten, rechtlich bindenden Vorschlägen, wie man die Flüchtlingsquoten einführen kann. Dann müssen sich die Mitgliedsstaaten darauf verständigen, ob sie das europäisieren wollen, ob sie die Kompetenzen in Form von europäischem Recht schaffen wollen, und dann bin ich mal gespannt, wie das dann ausgeht.
Die Gemeinschaftsinstitutionen, sowohl das Europaparlament in breiter Mehrheit als auch die Kommission, haben seit Jahren die Vorschläge auf den Tisch gelegt. Und ich muss noch mal sagen: Es sind Regierungen der Mitgliedsstaaten, die in ihrer Mehrheit sagen, das wollen wir nicht. Deshalb ist es nicht "die EU". Das muss man mal deutlich sagen. Es sind nationale Egoismen innerhalb der EU, die dieses Problem schaffen.
Müller: Was denken Sie, wenn Sie jetzt Donald Tusk treffen? Er hat als polnischer Ministerpräsident auch das Wort Flüchtlinge nicht buchstabieren wollen. Jetzt ist er auf einmal ein geläuterter Europäer, der wohnt jetzt bei Ihnen in der Nähe da in Brüssel und trägt das alles mit. Das heißt, im Grunde müssten die nationalen Regierung einfach mal ein paar Monate in Brüssel dabei sein, dann könnte man das Problem lösen?
Schulz: Die nationalen Regierungen sind ja ständig in Brüssel. Die Regierungschefs der EU, der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs, also die sogenannten Gipfel, über die sie ja auch regelmäßig berichten, da werden die Entscheidungen getroffen und der Vorsitzende dieses Organs ist Donald Tusk, der ja ein Kollege von mir ist als Präsident einer Institution. Was der Kollege Tusk für richtig hält, will ich nicht im Deutschlandfunk kommentieren. Das muss er für sich selbst entscheiden. Auch die Frage, wie er die Regierungschefs anspricht und zusammenholt. Nur der nächste Gipfel kommt und eines kann ich für mich und für meine Kollegen im Europaparlament sagen: Das zentrale Thema dieses nächsten Gipfels wird sein, was ist das eigentlich für eine Union, in der wir leben wollen, eine der Solidarität oder eine, alle gegen alle.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments. Danke, dass Sie Ihre Nacht für uns verkürzt haben.
Schulz: Na ja, so spät ist es ja nicht.
Müller: Grüße nach Berlin.
Schulz: Danke Ihnen.
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