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Die exzentrische Dichterin

Artikel, Betrachtungen, offene Briefe und Porträts aus dem weniger bekannten Prosawerk von Else Lasker-Schüler hat die Germanistin Heidrun Loeper zusammengetragen. Die kuriosen, anrührenden und irritierenden Stücke bieten so manchem Leser wohl einen neuen Blick auf die Dichterin.

Von Wolfram Schütte |
    Etwas Ähnliches wie die erst kürzlich von Günther Rühle entdeckten und wiederveröffentlichten journalistischen "Briefe aus der Reichshauptstadt” von dem berühmten Theaterkritiker Alfred Kerr darf man sich von den ”Berliner Ansichten und Porträts” Else Lasker-Schülers nicht erwarten. Was die Germanistin Heidrun Loeper in 30 Beispielen unter dem vielversprechenden Titel "Die kreisende Weltfabrik” in einem mit zahlreichen zeitgenössischen Illustrationen versehenen Band des Transit -Verlags versammelt hat, sind Artikel, Betrachtungen, Offene Briefe und Porträts aus dem weniger bekannten Prosawerk der 1869 in Wuppertal-Elberfeld geborenen und 1945 in der Emigration in Jerusalem gestorbenen Lyrikerin, die schon in Deutschland, nicht nur durch ihre "Hebräischen Balladen” eine starke Beziehung zum Judentum, seiner Religion und den biblischen Mythen besaß.

    Neben den von der Herausgeberin kundig kommentierten und entschlüsselten Texten Else Lasker-Schülers entwirft Heidrun Loeper einen gewissermaßen lokalpatriotisch über die Ufer eines bloßen Nachworts getretenen Strom von biografischen Informationen zum Berliner Aufenthalt und den Wohnungswechseln der exzentrischen Dichterin. Wenn es aber um die Liebschaften der Lyrikerin geht, bleibt sie im Allgemeinen.

    Als 25-Jährige war die Dichterin 1894 mit ihrem ersten Ehemann, dem literarisch interessierten Hautarzt Berthold Lasker, der ein Jahr lang in Elberfeld praktiziert hatte, nach Berlin gekommen, wo ihr Mann geboren war und studiert hatte. Fünf Jahre zuvor war ihr Sohn Paul geboren worden, den ihr Mann, der nicht Pauls Vater war, als seinen Sohn anerkannt hatte. 1899 erschien der erste Gedichtband der Lyrikerin, vier Jahre später trennte sie sich von Lasker, 1910 heiratet sie den Musiker und Verleger des "Sturm”, Herward Walden. Schon zwei Jahre später wird auch diese Ehe geschieden.

    So leidenschaftlich ihre erotischen Freibeutereien immer waren - zum Beispiel mit dem jungen Gottfried Benn -, so sprunghaft-eigenwillig war auch ihre Prosa. Sie ähnelt eher der Fantastik ihrer Lyrik als je auch nur von Ferne dem Journalismus. Nicht wenige der hier dargebotenen Texte sind in Waldens "Sturm”, diesem Zentralorgan des Expressionismus, erschienen; andere in den angesehensten bürgerlichen Zeitungen der "kreisenden Weltfabrik” Berlin, über die sie schreibt: ”Tempo: auf Rollen laufen die Einwohner, entnerven oder verstehen sich zu entorganisieren, vermögen maschinell zu werden.” Und weiter geht es mit ihrer expressionistischen Metaphorik und sprachlicher Verknappung: "Glühender bewillkommnet man hier den menschgebliebenen Menschen, der sich die Räder wieder von den Schuhen abschnallen kann; seine Prüfung, die die Großstadt ihm auferlegt. Besteht er sie, bleibt er lebendig.”

    Über die Lebendigkeit der Autorin, die in ihren Berliner Jahren während der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erst zu der großen Dichterin wird, als die wir sie kennen, kann man sich als zeitgenössischer Leser ihrer Berichte vom Kurfürstendamm, dem Zirkus Busch, dem neopathetischen Cabaret oder dem Café des Westens nicht beklagen.

    Auch nicht über ihre sowohl skizzenhaften als auch rätselhaften Porträts von zum Beispiel den miteinander verfeindeten Alfred Kerr oder Karl Kraus, mit denen die immer großzügige Fördererin junger Talente befreundet war. Jedoch subjektiver bis über die Grenze eines empirischen Verständnisses hinaus hat keine und keiner in ihrer literarischen Gegenwart die Prosa über den Alltag des Lebens erweitert. Möglich, dass Else Lasker-Schülers Doppelbegabung - sie konnte auch malen und zeichnen - sie zu den hier erlesbaren Zeugnissen ihrer ”poetischen Sendung” verführt hat. Zumindest ist das Selbstbewusstsein, das in diesen glitzernden Bruchstücken ihrer großen Konfession als Dichterin noch nicht angekränkelt ist von den Einschüchterungen der selbstskeptischen Moderne. Ganz "ungeniert” gilt bei ihr: was mich angeht, geht auch Dich an, Du mein Leser.

    Das offenbart sich am Anrührendsten in ihrem tieftraurigen Nachruf auf ihren über alles geliebten und bewunderten Sohn, einen Maler, der mit nur 28 Jahren an Tuberkulose gestorben ist. Das "mea res est tua res” tritt einem aber auch in den drei Offenen Briefen entgegen, die sie über einen Berliner Cafébesitzer, an einen deutschen Finanzminister und den Feuilletonchef der "Neuen Zürcher Zeitung” adressierte und in deutschen Tageszeitungen publiziert hat. Im ersten Fall macht sie öffentlich, dass man sie aus dem Literaten-"Café des Westens” wegen zu geringem Verzehr hinausgeworfen hatte, im zweiten bittet sie um Hilfe gegen ihre sie übervorteilende Verleger und den NZZ-Redaktor Eduard Korrodi ersucht sie öffentlich um Intervention beim Schweizer Bundesrat, damit sie als Deutsche wieder die Schweiz besuchen darf, was nach dem Ersten Weltkrieg so leicht nicht mehr erlaubt war.

    Die "kreisende” Prosa-Erregung der Else Lasker-Schüler gebiert zahlreiche kuriose, erstaunliche, anrührende und irritierende Lesestücke der einzigartigen Dichterin, die wir hier als streitbaren "Prinz Jussuf von Theben” kennen lernen.

    Else Lasker-Schüler: "Die kreisende Weltfabrik. Berliner Ansichten und Porträts."
    Herausgegeben und mit einem Nachwort von Heidrun Loeper.
    Transit-Verlag, Berlin 2012
    127 Seiten, zahlr. Abb. ,14.80 Euro