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Die Faszination der Kälte

Im interdisziplinären Forschungsprojekt "Eis und Schnee" an der schwedischen Luleå Tekniska Universitet wird Schnee im Labor gebogen, ohne dass er bricht. Oder man versucht herauszufinden, wie Menschen in Städten am Polarkreis möglichst gut im Winter leben können.

Von Simonetta Dibbern | 23.02.2013
    Dicke Stiefel, wattierter Anorak, Wollmütze und Handschuhe. Die Professorin ist dick eingepackt, wenn sie mit dem Fahrrad zur Uni fährt. Das tut sie jeden Tag, von der Innenstadt sind es immerhin fünf Kilometer.

    Auch ihr Fahrrad ist schneetauglich: Winterreifen mit Spikes – das haben hier die meisten Alljahrfahrradfahrer. Und davon gibt es eine ganze Menge in Luleå.

    "Man kann vorn und hinten welche haben, ich hab sie nur vorn, das reicht."

    Kristina Nilsson hat das Rad abgestellt. Ende 50 ist sie. Blaue Augen, ein frischer Teint, die Wangen sind gerötet von der Kälte.

    "Man muss morgens natürlich aufs Thermometer gucken und sich dementsprechend anziehen. Auf dem Fahrrad wird mir immer warm, nur wenn man still steht, dann friert man beinahe fest. Bei Minus 20 muss man sich schon sehr warm anziehen.

    Und wenn es so kalt ist, dann wasche ich morgens mein Gesicht nicht, jedenfalls nicht mit Wasser, sonst wird es noch kälter. So bleibt der natürliche Schutzfilm erhalten. Das ist eine gute alte Weisheit von unseren Vorfahren – ein paar Spritzer um die Augen, um wach zu werden, das genügt."

    Auf dem Weg in ihr Arbeitszimmer nimmt sie die Mütze ab: Die weißen Haare trägt sie kurz, sehr kurz. Und Perlenohrstecker. Kristina Nilsson ist Architektin und Städteplanerin. Seit vier Jahren leitet sie den Bereich Architektur und nachhaltige Entwicklung im urbanen Raum. Und erforscht unter anderem, wie Menschen in Städten am Polarkreis möglichst gut und gesund leben können.

    "Wir nennen es das Wintergefühl. Oder auch: den Winter zelebrieren. Dabei geht es darum, möglichst viel draußen sein zu können. In der Stadtplanung sprechen wir von weißen und von grünen Flächen, die stehen für Winter und für Sommer.

    Und wenn wir versuchen, die Struktur einer Stadt zu verbessern, dann müssen wir beides bedenken. Denn es hängt zusammen. Unser Ziel ist zum Beispiel, dass du möglichst mit demselben Fahrzeug unterwegs sein kannst. Und dass Du trotzdem im Winter deinen Schlitten nicht tragen musst. "

    Möglichst viel freie Zeit im Freien zu verbringen ist vielen Menschen in Schweden wichtig. Und die Stadt Luleå tut eine Menge dafür, nicht nur die unterschiedlichen Wünsche nach winterlichen Freizeitaktivitäten zu erfüllen. Sondern auch, neue Ideen zu entwickeln. Und, ganz praktisch: zu überlegen, wie Autofahrer, Fahrradfahrer und Fußgänger sicher durch die Stadt kommen. Wenn die Tage kurz sind. Und Zebrastreifen oder Fahrradwege von Schnee verdeckt.

    "Das ist die eher technische Seite. Wie man die Fahrradwege verbessern kann, sodass man mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren kann und nicht auf das Auto angewiesen ist oder auf den Bus. Denn die tägliche Bewegung, am besten an der frischen Luft, soll ja viel gesünder sein als einmal der Woche ins Fitnessstudio zu gehen. Über solch alltäglichen Dinge machen wir uns Gedanken.

    Auch über die Sicherheit: damit wir auch ältere Menschen nach draußen locken können. Viele haben Angst auszurutschen. Also müssen die Fußwege und die Straßen in gutem Zustand sein, damit sie sich trauen, rauszugehen."

    Expertin für nachhaltige Stadtentwicklung im subpolaren Raum. Ein Traumjob für Kristina Nilsson. Ursprünglich ist sie aus dem Süden, nach Luleå ist sie zum Architekturstudium gekommen, in den 70er-Jahren. Hat dann 15 Jahre lang als Planerin in der Stahlindustrie gearbeitet. Anschließend als Landschaftsarchitektin in Uppsala. Bis die Uni sie rief. Bei ihren aktuellen Forschungsprojekten steht der Mensch im Mittelpunkt. Und die Natur.

    "Unser Ziel überall in Schweden ist es, die Städte umweltfreundlicher zu gestalten. Was zum Beispiel heißt, dass die Häuser enger gebaut werden, sodass die urbanen Zonen verdichtet werden. Doch in einer Gegend mit viel Schnee darf die Bebauung nicht so dicht sein, denn man muss genug Platz haben, um den Schnee wegzuräumen, Platz, der ansonsten nicht benutzt wird: Hinterhöfe, Brachflächen. Wir versuchen zu berechnen, wie viele solcher Zwischenräume benötigt werden und möglich sind. Denn es ist teuer, den Schnee zu entsorgen."

    Das Telefon klingelt, eine Kollegin will sich mit Kristina Nilsson verabreden. Zwischen Telefon und Computer liegen drei Jonglierbälle, in blau, gelb, rot – es ist gut, Bälle im Büro zu haben, sagt Kristina Nilsson später, das macht den Kopf frei.

    "Wenn man eine neue Stadt plant, dann kann man all das berücksichtigen und zum Beispiel eben überlegen, wie dicht die Bebauung sein sollte. Oder auch, wie die Straßen verlaufen sollten, in Bezug zum vorherrschenden Wind. Man kann die Straßen und auch die Gebäude ja so planen, dass der Wind nicht permanent hindurchfegen kann. Also eine Stadt wintertauglich machen."

    Kristina Nilsson schiebt sich die rote Lesebrille ins weiße Haar. Ihre Forschungen und Erkenntnisse entwickelt sie am Computer. Doch die praktischen Erfahrungen macht sie am liebsten selber. Draußen in der Kälte.

    "Ich bin zurückgekommen, weil ich den Schnee mag und den Winter. Und obwohl ich hier weder geboren noch aufgewachsen bin, war es, als ob ich nach Hause komme. Und höchstwahrscheinlich werde ich meine Karriere auch hier beenden."

    Doch jetzt geht Kristina Nilsson erstmal einen Kaffee trinken, mit der Kollegin, die vorhin angerufen hatte.

    Im selben Gebäude, ein Stockwerk tiefer, ist das Schneelabor. Wie der Fachbereich Architektur und Stadtplanung ist es Teil eines interdisziplinären Forschungsprojekts an der LTU: Schnee und Eis. Eine Holztreppe führt hinunter, zu dem Arbeitsplatz von Nina Lintzen. Eine Art Werkstatt mit Regalen, einem aufgespannten Winterreifen. Und ein begehbarer Kühlschrank.

    Drin ist es kalt. Die junge Frau trägt einen weißen Anorak und eine rote Pudelmütze. Keine Handschuhe. Ein Tisch, eine Werkbank, in der Ecke eine graue Plane. Darunter: ein Eis-, nein: ein Schneeblock.

    "Das ist Schnee aus Jukkasjärvi, Schnee von dem Eishotel, das sie dort jedes Jahr bauen. Daraus nehmen wir Proben und untersuchen sie unter verschiedenen Aspekten: wie viel Druck sie aushalten, wie weit man sie biegen kann und unter welchen Bedingungen.

    Dieses ist künstlicher Schnee, der ist zum Bauen besser als Naturschnee, er ist stabiler, auch bei Wetterwechsel. Sie haben ihn in Jukkasjärvi hergestellt, mit Wasser aus dem Fluß Torne, das durch riesige Schneemaschinen gejagt und dann in verschiedene Formen gebracht wird."

    Nina Lintzen ist Anfang 30. Sie hat Maschinenbau studiert, als Ingenieurin gearbeitet, jetzt will sie ihren Doktor machen. Im Schneelabor untersucht sie dafür die Eigenschaften von Schnee. Erforscht mithilfe von Maschinen und Mikroskopen seine Dichte, Beschaffenheit und damit sein Potenzial als Baumaterial, nicht nur für das Eishotel in Jukkasjärvi, das seit über 20 Jahren Winter für Winter neu gebaut wird und Tausende Touristen anzieht. Die junge Frau nimmt eine Kreissäge, schlägt die Plane zurück und sägt mit geübtem Griff einen Schneeziegel aus dem Block heraus.

    Es ist kein Zufall, dass Nina Lintzen im Schneelabor gelandet ist: sie ist eine der besten Skiläuferinnen Schwedens, große Distanzen sind ihre Spezialität, mindestens 42, höchstens 90 Kilometer. Außerdem betreibt sie eine eigene Skischule, zusammen mit ihrem Bruder. Und demnächst ist sie Ingenieurin mit Doktortitel. Bis es soweit ist, muss sie allerdings noch viele Messreihen durchführen.

    "Wir haben zum Beispiel versucht, den Schnee zu biegen, das nenne ich den Balkentest. Wenn man es ganz langsam macht und unter hohem Druck, dann kann man einen halbrunden Balken herstellen, ohne dass er bricht. Schnee ist ein ganz außerordentliches Material, wenn man weiß, wie man damit umgehen muss. Und dann bleibt er auch sehr stabil. Ich finde es immer wieder faszinierend, was man mit Schnee alles machen kann."

    Sie spannt den eisigen Quader, den sie gerade aus dem Block herausgesägt hat, in eine Art Schraubstock und presst ihn zusammen. Der zusammengepresste Ziegel hat äußerlich keinerlei Ähnlichkeit mit einer Schneeflocke.

    "Es gibt ein internationales Klassifizierungssystem für Schnee, wie grob der Schnee ist, wie groß die einzelnen Kristalle und wie dicht sie aneinandergefügt sind.

    Schnee kann ganz unterschiedlich sein, es hängt auch von der Wolkenbildung ab, welcher Art Schnee dann tatsächlich auf der Erde ankommt. Das ist immer anders, ich finde es sehr interessant – denn das hat ja auch Einfluss aufs Skifahren und solche Sachen."

    Meistens arbeitet sie alleine. Und in der dunklen Jahreszeit kommt sie oft am Abend zum Arbeiten in die Uni, damit sie die wenigen hellen Stunden des Tages nutzen kann, um zu trainieren. Sie kann sich ihre Arbeitszeit frei einteilen, sonst wäre es im Winter gar nicht möglich, alles zu verbinden: den Job. Das Training. Die Wettkämpfe. Nina Lintzen schnappt sich ihren Rucksack – sie will noch eine letzte Trainingseinheit absolvieren, bevor es dunkel wird, oben, auf dem Olmberget.

    Draußen auf dem Campus hat jemand entlang des Hauptweges kleine Fackeln angezündet, denn es dämmert bereits, obwohl es erst Nachmittag ist. Es riecht nach Holzfeuer.

    "Im Sommer arbeite ich auch hier im Schneelabor. Ich habe also das Ganze Jahr mit Schnee zu tun. Aber das macht mir gar nichts aus, im Gegenteil.
    Ich mag den Schnee. Den Sommer mag ich auch, es ist schön, wenn es warm ist und man nicht soviel anziehen muss. Aber wenn ich mich entscheiden müsste zwischen immer Sommer oder immer Winter: Ich würde den Winter nehmen. Heyhey!"
    Die Eisskulptur im Stadtpark von Luleå - ein Buntspecht
    Die Eisskulptur im Stadtpark von Luleå - ein Buntspecht. (Simonetta Dibbern)