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Die "Festung der Champagne"

Tief in den französischen Ardennen liegt das kleine Örtchen Rocroi versteckt. Das Städtchen ist mehrmals in die Geschichtsbücher eingegangen. Früher stand dort eine mächtige Wallanlage, ein wichtiger militärischer Stützpunkt, den auch deutsche Kriegsherren angriffen.

Von Franz Nussbaum |
    Wenn man aus den Ardennenwäldern beiderseits des Flüsschens Maas – in Frankreich heißt sie die "Meuse" – heraustritt, sind wir in einer der schönsten mitteleuropäischen Flusslandschaften. Beschaulich fließt die Maas an vor sich hindösenden Dörfern vorbei.

    1870/71 kämpfen hier Bayern und Preußen gemeinsam gegen die Franzosen. Und da schreibt der 15-jährige französische Schüler Arthur Rimbaud aus Charleville, hier ganz aus der Nähe, ein kleines Gedicht. Rimbaud beobachtet mit der lungernden Neugier eines jungen Burschen den Aufmarsch. Sein Vater kämpft als Hauptmann auf französischer Seite. Sein sensibles Gedicht heißt "Der Schläfer im Tal".

    "Ein grünes Tal, in dem ein Flüsschen munter ...
    mit silbernem Geflirr die Gräser säumt.
    Die Sonne blinkt vom stolzen Berg hinunter.
    Ein kleines Tal, das in den Strahlen träumt.

    Ein junger Krieger, barhaupt und mit offenem Munde,
    den Nacken in der blauen Kresse Bad gesetzt,
    schläft unter Wolken, auf dem Wiesengrunde
    bleich auf dem grünen Lager, das das Licht benetzt.

    Gleich einem Kinde ruht er fest.
    Der bunte Duft der Wiesen seine Nase träfe,
    die Hand auf stiller Brust er ruhen lässt,
    er hat ein rotes Loch in seiner rechten Schläfe."


    … ein Loch in seiner Schläfe. Die Parabel eines frühreifen 15-Jährigen. Eine Kugel oder ein Schrapnell hat den Kopf, das Zentrum des scheinbar Träumenden zertrümmert. Er ist "gefallen", wie man so sagt. Wäre der junge Rimbaud ein paar Monate älter und eine halbe Schulter breiter gewesen, hätte er vielleicht sein eigenes Requiem geschrieben. 1870 sterben auf beiden Kriegsseiten zusammen an einem einzigen Tag 6.000 Soldaten an dieser Maas. Rimbaud führt uns quasi in die beiden Gesichter dieser Landschaft ein. Und dabei liegt auch die Festung Rocroi, zu der wir unterwegs sind, unter bayrischem Artilleriefeuer. Zusammengefasst.

    "1870 sind schließlich die schlecht organisierten Franzosen der geballten Wucht aus Bayern und Preußen kaum gewachsen. In einem "Blitzkrieg" gerät nach wenigen Tagen der französische Kaiser Napoleon III. in Gefangenschaft, Paris wird besetzt und in Versailles ruft man siegestrunken einen deutschen Kaiser Wilhelm I. aus."

    Wir sind von der Maas abgebogen. 20 Kilometer weiter, auf einem ansteigenden Plateau sehen wir nun dieses Rocroi als höchsten Punkt. Eine ausgedünnte Landschaft. Wir sehen den Kirchturm, einige Hausdächer von Rocroi, die etwas vorwitzig über die begrünten Festungswälle hervorlugen. Die Wälle erkennt man nicht, sie sind quasi in die Landschaft hinein "implantiert". D. h., man musste vor 400 Jahren ohne die heute verfügbaren Geländeraupen von Hand damals Unmengen Erde verschieben und mit Steinen und Mauerwerk befestigen. Alle Straßen innerhalb Rocrois laufen zehn Meter unterhalb dieser Wälle sternenförmig auf dem Place d'Armes, dem Platz der Waffen zusammen. Die Bebauung besteht damals aus Kasernen, einigen Stallungen für eine Garnison, die man zur Not auf bis zu 2.000 eingepferchte Lebewesen erhöhen konnte.

    Und nun denken wir uns in die Schlacht von Rocroi vor 370 Jahren ein. Es ist Mitte Mai 1643. Zur Erinnerung, es tobt in Deutschland noch der 30-jährige Krieg. Parallel gibt es zwischen Frankreich und Spanien einen 25-jährigen Krieg. Und es zündelt ein 100-jähriger Bürger- und Befreiungskrieg in den heutigen Niederlanden und Belgien gegen Spanien und gegen Habsburg. Eine undurchsichtige Gemengelage. Dr. Wolf Steinsieck, Romanist und Frankreichkenner:

    "Und somit marschieren sie im Mai 1643 von den spanischen Niederlanden kommend, in Richtung Charleville Mézières, sprich Rocroi, das ja nur wenige Kilometer entfernt liegt. Aufseiten der Franzosen sind 17.000 Mann, zwölf französische Regimenter, zwei schweizer Regimenter und ein schottisches Regiment. Auf der Seite der Spanier sind fünf spanische Tercios, die aus Leuten bestehen, die unterschiedlich bewaffnet sind."

    "Ja, Sie zeigen mir hier ein Bild"

    "Ja, das sind Pikeniere. Pikeniere, die haben diese langen Lanzen hier. Dann gibt es Schützen, und dann gibt es mit Haudegen Bewaffnete. Die sind alle in einer Einheit und sind so schlagkräftig, dass sie für ca. 100 Jahre als unbesiegbar galten. Und wir haben drei italienische Tercios noch dabei."

    "Der Trick war, dass man mit den Lanzen oder Spießen die angreifende Kavallerie, diesen vom Leibe halten konnte. Ein Militärfachmann hat mir gesagt, das Nachladen dauert zwei bis drei Minuten. In der Zeit waren die absolut wehrlos."

    "Genau so war es. Dazu kamen dann noch wallonische Regimenter, fünf deutsche Regimenter waren noch auf der spanischen Seite mit dabei."

    Und es gibt eine Quelle, die sagt, auch der deutsche Reitergeneral Jan von Werth sei auf spanischer Seite mit dabei. Wir lesen über von Werth.

    "1591 wahrscheinlich in der Nähe von Neuss als Bauernkind geboren. Ältester von acht Geschwistern. Keinerlei Schulbildung, verdingt sich von Werth als Knecht auf fremden Höfen. Lässt sich mit 28 Jahren zu den Soldaten werben. Wechselt in spanische- oder kurkölnische- oder bayrische- und auch kaiserliche Dienste. Immer auf der katholischen Seite. Immer Kavallerist, also Reiter mit Brustharnisch und Pistole. Macht schnell Karriere, auch als Analphabet wird er Offizier, Rittmeister, nach zwölf Jahren ist er schon Heerführer, Obrist, 1634 General. Gegen Frankreich ficht er in 30 Schlachten, immer erfolgreich. Wird der personifizierte "Franzosenschreck". 1637 verletzt ihn eine Kugel schwerst im Gesicht. 2 Jahre später, mit 48 Jahren gerät er in Gefangenschaft und wird an die Franzosen ausgeliefert."

    Seine Gefangenschaft dauert vier Jahre. Ist aber nicht an Kerker, Ketten und fettfreie Wassersuppe gebunden. Man serviert dem General feinste französische Küche. Er bekommt in Paris auch Ausgang auf "Ehrenwort", wird aber sicher von den französischen "Schlapphüten" unauffällig observiert. Kardinal Richelieu lässt ihm unterbreiten, er möge in französische Dienste wechseln, die ja auch katholisch wären. 1642 (ein Jahr vor Rocroi) kommt Jan von Werth im Austausch gegen einen schwedischen General frei. Er lässt sich anschließend als befreiter Haudegen u.a. auch in Köln und auf Jahrmärkten und Umzügen feiern.

    Zurück nach Rocroi. Ist von Werth im Mai 1643 auf spanischer Seite mit dabei? Es gibt nur eine Quelle, die so etwas andeutet. Es gibt keine Quelle, die Jan von Werth offiziell unter den Heerführern auf der spanischen Seite aufführt. Es könnten aber einige seiner Kavallerie Regimenter als kurkölnische Söldner "ohne" den Franzosenschreck auf spanischer Seite mitfechten? Und damit kommen wir schon in das Schlachtengetümmel von Rocroi. Wir lesen:

    "Die Spanier sind bei Beginn der Schlacht mit ihrer Infanterie und auch mit 18 Kanonen den Franzosen um 20 Prozent überlegen. Die spanisch-niederländische Kavallerie ist dagegen wegen der teuren Pferde und der leeren spanischen Kassen nicht gleichwertig. Auch die seit vielen Jahren unbesiegte spanische Spezialtruppe "Tercios" sind aus finanziellen Gründen im Kern zu einem Viertel mit wenig qualifizierten Soldaten aufgefüllt."

    Vielleicht ist diese Kassenlage auch der Grund, weswegen von Werth nicht persönlich als Führer dabei ist? Nur die Franzosen können sich die besten und teuersten Söldner auf dem Soldateska-Markt leisten, mehrere Regimenter Schweizer. Ich habe hier ein Schlachtenbild über Rocroi in Kopie dabei. Da fliegen Karrenräder und gebrochene Deichseln durch die Luft, ein Volltreffer der Artillerie. Rauchschwaden. Verletzte Rösser wälzen sich am Boden, die Reiter liegen daneben oder darunter. Andere sprengen elegant mit ihren Pferden über die Sterbenden hinweg. Wieder andere fechten oder fliehen und wenden sich schon ab. Auf spanischer Seite führt ein schon älterer Herzog Franzisco de Melo. Und die Franzosen führt ein blutjunger Herzog an.

    "Kommandierender der französischen Armee war Louis II. de Bourbon-Condè, und der ist zu dem Zeitpunkt vor allen Dingen erst 22 Jahre alt. Später bekannt als Le Grande Condé, einer der berühmtesten Heerführer des 17. Jahrhunderts."

    "Sie zeigen mir wieder ein Bild. Nun muss man ja sagen, bei der Schlacht waren keine Hofberichterstatter dabei, die gepinselt haben. Und es war an sich ja auch immer so, dass nur die Sieger interessiert waren an Sieges-, an Jubelbildern. So wie der Kerl hier auf einem weißen Ross, ein Zuckerjüngelchen würde man sagen. Wie kommt denn ein 22-Jähriger mit den alten Generalen klar. Die müssen doch gesagt haben, wat will denn dieser Jungspund, der kann uns doch nicht sagen, was wir zu machen haben."

    "Da geht es nun nicht um die Erfahrung von 40-, 50-jährigen Generalfeldmarschällen. Und zwar hatte er sich den schnellen Einsatz der leichten Kavallerie von Gustav-Adolph abgeschaut. Die reiben den linken Flügel der Spanier auf. Auf der anderen Seite des Flügels da hat Melo die Oberhand. Und als Le Condé dies merkt, verlässt er die Mitte, umgeht das Feld und greift den Melo von hinten an. Das ist also ein unglaublicher taktischer Zug, den man nur dann durchführen kann, wenn man sehr sehr schnell mit den Pferden ist."

    Und bei schnellen Pferden und franzosen-schreckenden Führungspersönlichkeiten sind die Spanier ja nun etwas schwach auf der Brust. Nachmittags beginnen die Franzosen die Schlacht, weil sie verhindern wollen, dass berittene Kräfte der Spanier im Anmarsch noch eingreifen können. Als es abends dunkel wird, dämmert dem spanischen Befehlshaber de Melo, die Schweizer Söldner haben seine unbesiegbaren "Tercios" auseinandergenommen, der französische Jungspund hat ihn mit einem gewagten Manöver der Kavallerie von hinten aufgerollt. Das ist auch als Finale in einem farbigen spanisch-französischen Historienfilm von 2006 zu sehen. Titel: Alatriste.

    Auf beiden Seiten sollen 11.000 gefallen sein, die Spanier vermissen und verlieren 7.500 Soldaten. Ein brutaler Blutzoll für einen halbtägigen Krieg. Der Sieg über das unbesiegbare Spanien ist in Paris am Hofe des französischen Königs eine Jubelmeldung. Wir lesen zusammengefasst:

    "Obwohl der Hof Trauer trägt. 5 Tage vor Rocroi ist der regierungsschwache Ludwig XIII. an einer Lungenentzündung gestorben. Sein Nachfolger ist König Ludwig XIV. (…) ein verspieltes Knäblein von grade 5 Jahren. Wehe dem Land, dessen König in solch kriegerischen Zeiten ein Kind ist. Die Königsmutter ist "Anna von Österreich". Sie ist die nach Frankreich verheiratete Tochter des spanischen Königs Philipp II.. Eine Spanierin!"

    Eine waschechte Spanierin! Liebe Sonntagsspaziergänger klicken Sie doch bitte "Anna von Österreich" im Internet an und lesen sie, wie sie als Regentin und gleichzeitig Spanierin für die nächsten zehn Jahre den kleinen Ludwig zu einem sonnigen "Roi de soleil" aufbaut. Und wenn Sie mehr über diese spanische Niederlage und den Anfang vom Ende der Spanier in den Niederlanden erfahren wollen, dann blättern wir jetzt unseren Friedrich Schiller auf. Schiller verfasst knapp 150 Jahre nach diesem Gemetzel von Rocroi "Die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von Spanien". Zitat:

    "Friedrich Schiller schreibt an den vier Bänden in Jena, Weimar, Bauerbach, Leipzig und Rudolstadt. Daraufhin vermittelt Goethe (...). Und Herzog Karl August von Weimar bietet dem 27-jährigen Schiller an der Universität in Jena eine Professur an. Keine Professur für revolutionäre Theaterstücke wie "Die Räuber" oder für erbauliche Dichtkunst wie "Freude schöner Götterfunken". Schiller bekommt 1788 eine unbesoldete Professur für Geschichte. Schiller war berühmt als Dichter, aber nicht als Historiker. Aber er ist nun "fest" -für umsonst- (…) fest an einer Alma Mater angestellt."

    Weniger als Harz IV für eine Professur. Und mit seinen vier Bänden vom Abfall der vereinigten Niederlande unter dem Arm beginnt der rothaarige Feuerkopf seine Vorlesungen. Und wenn Sie, liebe Sonntags-Mit-Spaziergänger sich Schiller unter "Abfall der Niederlande" anklicken, dann finden sie etwas von seiner feurigen Begeisterung für diesen Geschichtsstoff, in dem Rocroi nur eine winzige Nebenrolle spielt. So wie Schiller in Nussbaums Erzählungen über Rocroi leider auch nur eine Nebenrolle erhält.

    Rocroi, die wichtige Festung der Champagne. Diese Feste sollte den direkten Durchmarsch auf Paris verhindern. Und so kommen wir noch einmal kurz auf den Reitergeneral Johann von Werth zurück. Sieben Jahre vor der Schlacht von Rocroi, in dem Jahr, wo man Werth das halbe Gesicht wegschießt, da steht er tollkühn mit seinen wilden Reitern schon fast vor Paris. Da muss von Werth abbrechen, weil seinen spanischen Auftraggebern das Geld ausgeht. "Pech, nix in de Täsch", sagt der Rheinländer. Und im November 1643, also ein halbes Jahr nach der Schlacht von Rocroi, da erwischt von Werth die Franzosen im Winterquartier in Tuttlingen an der oberen Donau. Er übertölpelt sie im winterlichen Schneetreiben quasi in der Unterhose. Sie lassen alles an Kanonen und Pulver und Vorräten zurück, und etwa 6.000 Gefallene und Gefangene.