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Die Frage nach globaler Verantwortung

Die amerikanische Philosophin Judith Butler ist ein akademischer Star. Ihre Theorien beeinflussen auch hierzulande die Forschung und die Lehrpläne, und bei ihren Vorträgen sind die Hörsäle überfüllt. Ihre Kritiker wiederum bezeichnen sie als abgehoben, weltfremd und weichgespült. In ihrem neuen Band mit zwei Essays und einem Interview namens "Krieg und Affekt" befasst sie sich einmal mehr mit der amerikanischen Militärpolitik im Irak und Afghanistan.

Von Sabine Peters |
    Die von zahlreichen Philosophen betriebene "Dekonstruktion des Subjekts" ist nicht, wie manchmal sehr schlicht behauptet wird, mit der "Abschaffung" des Subjekts in eins zu setzen. Im übrigen muss "Dekonstruktion" auch keine folgenlose geistige Übung bleiben. Das zeigen die Bücher der amerikanischen Philosophin Judith Butler, die derzeit als Professorin für Rhetorik und vergleichende Literaturwissenschaft arbeitet. Butler betreibt eine provokative Kritik an gängigen Subjekt- und Identitätskategorien: Ob es um das "Unbehagen der Geschlechter" im Rahmen der gender studies geht oder um ethische Theorien, deren moralisches Subjekt die eigene latente Gewalttätigkeit verkennt. Die Demontage eines einheitlichen, souveränen Ich dient Butler dazu, den Begriff "Mensch" zu erweitern, ihn umfassender und damit möglicherweise "menschlicher" zu formulieren. Soeben ist ein neuer Band mit zwei Essays und einem Interview erschienen, "Krieg und Affekt" heißt er.

    Das Buch schreibt Themen fort, die schon in Butlers Textsammlung "Gefährdetes Leben" auftauchten; auch jetzt geht es noch einmal um die amerikanische Militärpolitik im Irak und Afghanistan, allgemeiner gesagt um die Frage nach globaler Verantwortung. Butlers Interventionen sind getragen von der Grundannahme: Kein Mensch lebt als unabhängiges, autonomes Subjekt; vielmehr sind wir in fundamentalem Maße von anderen abhängig. Insofern gibt es die Verantwortung gegenüber einem verletzbaren, universalen menschlichen "Wir", die nicht durch die Grenzen beispielsweise einer nationalen Gemeinschaft beschränkt ist. Der etwas trivial klingende Appell, menschliches Leben zu achten, dem man abstrakt so leicht zustimmt, wird zum Ausgangspunkt für die konkrete, unbequeme Rückfrage: Gibt es eine neutrale, objektive, universale Wahrnehmung "des" Lebens und "des" Menschen?

    Unsere Wahrnehmungen und Affekte, so Butler, werden von sozial und kulturell unterschiedlichen Interpretationen und Deutungsmustern bestimmt, die keinesfalls neutral sind. Empathie, die Einfühlung in einen anderen, hängt meist davon ab, inwiefern wir den anderen als ähnlich wahrnehmen - wenn wir ihn denn überhaupt zu sehen bekommen. An diesem Punkt setzt Butlers Kritik der selektiven Betrachtungsweise der amerikanischen Mainstream-Medien ein, ihre Kritik am sogenannten "eingebetteten Journalismus", beispielsweise während des Irakkrieges. Viele Medien übernähmen die Sichtweise des Militärs; die Perspektive der Kameras sei gewissermaßen mit derjenigen der Bomber identisch. Der Feind tauche nicht als "Leben", sondern als "Lebensgefahr" auf, gesichts- und namenlos. Daher lösten Tod und Tod nicht dieselben Gefühle wie Trauer oder Empörung aus. Butler fasst einmal mehr bekannte Argumente gegen die Politik der Bush-Administration zusammen: Das nationale Subjekt USA sei durch die von der Psychoanalyse beschriebenen Mechanismen von Abwehr und Verschiebung strukturiert. Indem man das mit dem 11. September 2001 beschädigte Selbstbewusstsein durch kriegerische Aktionen wiederherstellen wolle, werde die eigene Verletzbarkeit negiert. Im Namen der amerikanischen Souveränität würden die eigenen weit gezogenen Grenzen verteidigt, andere hingegen unter Missachtung des Völkerrechts überschritten. Die Suizidattentate lösten, zurecht, Empörung aus, staatlich sanktionierte Gewalt dagegen nicht. Potenziellen oder tatsächlichen Attentätern werde ihr Menschsein quasi abgesprochen, indem man sie in rechtsfreien Räumen wie Guantanamo inhaftiere. Schließlich werde die universelle Idee der Menschenrechte sowie internationales Recht permanent unterlaufen mit dem Argument, man selbst bringe etwa der irakischen oder afghanischen Bevölkerung Freiheit und Selbstbestimmung.

    Butler besteht dagegen auf einer Praxis, die sie "kulturelle Übersetzung" nennt. Die amerikanische Kultur solle ihre partikulare Perspektive von Freiheit nicht anderen aufzwingen, sondern sich klar darüber werden, dass "Universales" wie das Recht auf persönliche Freiheit unablässig und überall artikuliert und interpretiert werde.

    Judith Butler ist ein akademischer Star, ihre Theorien beeinflussen auch hierzulande die Forschung und die Lehrpläne; bei ihren Vorträgen sind die Hörsäle überfüllt. Als kritische Intellektuelle, die mit ihrer Ethik der Verletzbarkeit und Abhängigkeit in tagespolitische Debatten eingreift, setzt sie sich natürlich auch einigen Vorwürfen aus: Innerhalb wie außerhalb der Universitäten gilt sie teilweise als idealistische, abgehobene, weltfremde und weichgespülte "Allesversteherin". Dem ist entgegenzuhalten: Butlers Plädoyer für ein gleichermaßen "gültiges" Leben ist nicht mit Indifferenz zu verwechseln.

    Das neue, übrigens gut lesbare Buch entwickelt keine neue Theorie, und wird daher für Kenner nicht zu Butlers philosophischen Hauptwerken zählen. Aber der Band zeigt exemplarisch ihre differenzierte Argumentationsweise, die sich nicht auf Schlagworte verengen lässt. So schlüssig ihre soziologisch und psychoanalytisch motivierte Diskussion der Politik Bushs ist, könnte man fragen, ob die Texte nach den Wahlen nicht mittlerweile Schnee von gestern sind. Die ontologischen, ethischen und erkenntnistheoretischen Fragen, die hier aufgeworfen werden, bleiben aber selbstverständlich auch unter der Regierung von Obama virulent. Und schließlich gelten Butlers philosophische Ansätze nicht nur im Kontext amerikanischer Politik, sondern lassen sich auch auf das westliche Verhältnis zum Islam, auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, auf den Umgang der EU mit Migranten oder auch auf die hiesige Gesundheitspolitik beziehen: Welches Leben ist "uns" tatsächlich wie viel wert? Der von Butler anvisierte Verzicht auf die Setzung eines souveränen, autonomen Subjekts könnte realpolitisch weitreichende Folgen haben. Mit der Öffnung des Menschenbilds würden Räume geöffnet, in denen gesellschaftliche Veränderungen denkbar und umsetzbar wären.

    Judith Butler: Krieg und Affekt. Aus dem Amerikanischen von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker. Diaphanes-Verlag, 99 Seiten, 8,00 Euro