Archiv


Die Frauen von Wesenberg oder Der Aufstand der Bürger

Historische Romane, so eine weit verbreitete Ansicht, sind Fluchtlektüren. Wer sich literarisch in die Antike, ins sagenumwobene Mittelalter oder andere entfernte Epochen entführen läßt, der macht es sich bequem: Weil er nichts von unserer Zeit und ihren Problemen wissen will. Sagt man, und manchmal zu recht. Wenn ein Autor die Flucht ergreift und seine Sujets von weit her holt, dann deshalb, weil ihm oft gar nichts anderes übrig bleibt. So liegt der Fall des Esten Jaan Kross.

Martin Ebel |
    Der ist Bürger eines kleinen Landes, das in unserem Jahrhundert von Hitlerdeutschland und von Stalins Reich drangsaliert wurde. Kross saß unter beiden Regimes im Gefängnis; als er wieder schreiben durfte, war ihm klar, daß er sich besser von aktuellen Themen fernhielt - beziehungsweise sie so behandeln mußte, daß Zensur und Gedankenpolizei nichts daran auszusetzen hätten. Der Griff zu Stoffen der nationalen Geschichte war ein naheliegender Ausweg. Das Ergebnis ist indessen alles andere als eine Verlegenheitslösung.

    Der Roman "Die Frauen von Wesenberg", 1982 im estnischen Original und 1997 in deutscher Übersetzung erschienen, versetzt den Leser ins 18. Jahrhundert. Kross will allerdings nicht lediglich erzählen, "wie es eigentlich gewesen" ist, einen Abschnitt estnischer Geschichte literarisch abbilden, sondern zeigen, wie sich Geschichte überhaupt vollzieht.

    Held des Romans - und zugleich sein Ich-Erzähler - ist Berend Falck, ein junger Este aus einfachen Verhältnissen, dem ein vermögender Onkel ein Studium finanziert hat. Seine Bildung ermöglicht Berend einen begrenzten gesellschaftlichen Aufstieg. Er wird Hofmeister - wir würden heute sagen: Hauslehrer - bei Gertrud von Tiesenhausen, der Gutsherrin von Wesenberg. Diese zieht ihn bald auch zu heikleren Aufgaben heran. Sie befindet sich nämlich in einem Rechtsstreit mit einigen "Subjekten", die sie als ihre leibeigenen Bauern ansieht, die sich selbst aber als freie Bürger von Wesenberg begreifen. Beide Seiten verfechten ihre Ansprüche mit Urkunden und Dokumenten, und - psychologisch äußerst reizvoll - beide bedienen sich des so aufgeweckten wie beredten, im Lateinischen wie im Juristischen so versierten Berend Falck.

    Berend spielt ein doppeltes, ein gefährliches Spiel. Im Auftrag seiner Herrin sucht er den Grafen Sievers auf, der am Zarenhof einigen Einfluß hat und dem Streitfall die entscheidende Wende geben könnte. Eigentlich aber will der Angestellte der Tiesenhausen Graf Sievers überzeugen, daß diese unrecht hat, daß vielmehr der Standpunkt der Stadtbürger obsiegen muß. Im Zusammentreffen der beiden erreicht der Roman seinen dramaturgischen Höhepunkt. Berend ist ein Held von einigem Format, aber neben Sievers schrumpft er auf ein Mittelmaß, das an den Hans Castorp aus Thomas Manns "Zauberberg" erinnert.

    Graf Sievers ist ein Aufsteiger, wie er in keinem Buche steht und jede amerikanische Tellerwäscher-Legende alt aussehen läßt. Geboren als Leibeigener hat er Karriere gemacht durch die Kunst, exzellenten Kaffee zuzubereiten - und durch seine Liebesdienste. Erst bei der Gräfin Tiesenhausen, später bei der Zarin Elisabeth höchstselbst. Die macht ihn zum Kammerherrn, durch Adoption zum Grafen und vielfachen Grundbesitzer - und schickt ihn, als ein neuer Galan winkt, in Pension. Von dort aus und immer noch mächtig, wirft Sievers tiefe, illusionslose Blicke auf das Streben und Treiben der Menschen, so auch auf den jungen Bittsteller, der da vor ihm steht. Ist er ein Zyniker? So muß es Berend erscheinen. Denn die Gewährung seiner Bitte, zugunsten der Stadt bei der Zarin zu intervenieren, macht Sievers vom Ausgang eines Pferderennens abhängig. Nun weiß der alte Hofmann, der alle Höhen und Tiefen des Lebens ausgeschritten hat, daß er mit all seiner Macht den Fall gerade mal in der Schwebe halten kann. Das tut er auch. Erst nach seinem Tode siegt die Gutsbesitzerpartei: Wesenberg bekommt alle Rechte und Privilegien aberkannt, wird eine "tote Stadt", ganz der Willkür der Tiesenhausens unterworfen.

    Das klingt deprimierend, nach dem "gräßlichen Fatalismus der Geschichte, von dem der junge Georg Büchner sich einst "zernichtet" fühlte. Aber Jaan Kross ist kein Fatalist. Seine Geschichtsphilosophie ist viel heller, als es das Handlungsgerüst vermuten läßt. Die Stadt Wesenberg und ihre Niederlage: Das ist gewiß ein deprimierender Fall, hinter dem viele enttäuschte, geknechtete, auch ganz wörtlich geprügelte Menschen stehen. Aber dieser Fall ist auch ein Fenster, durch das man auf die Kräfte der Veränderung blicken kann. Und die Veränderung wird ebenfalls getragen durch Personen; sie sind Objekte, aber eben auch Subjekte der Geschichte. Sievers steht für die Möglichkeit, sich aus eigener Kraft - und durch die Gunst der Umstände - über alle Beschränkungen zu erheben. Und Berend, sein Bewunderer und Günstling, tut es ihm nach - bescheidener und weniger erfolgreich, aber immerhin. Auch sein Schicksal ist ein Beleg für die historische Chance des Individuums.

    Denn ein Motiv für seinen Einsatz zugunsten der Städter haben wir noch nicht genannt: Es ist die Liebe zur Schusterstochter Maade. Eine ganz außergewöhnliche Person ist dieses Mädchen - das von Vermeer entliehene Motiv auf dem Schutzumschlag des Buches soll das wohl andeuten. Maade ist einerseits folgsame Tochter, die sich mit dem ungeliebten Kaufmann Rosenmark verheiraten läßt (auch er ein Aufsteiger, aber ein unangenehmer). Andererseits folgt sie nicht nur den Eltern, sondern auch ihren Gefühlen: Sie gibt sich ihnen, gibt sich Berend hin - und sprengt ihre Ehe. Am Ende des Romans sehen wir die beiden mit einem gemeinsamen Sohn auf einer Poststation sitzen, ungeduldig auf die Weiterfahrt wartend, wissend, daß es für sie, für diese skandalöse ehebrecherische Beziehung keinen Platz gibt - geographisch nicht, soziologisch auch nicht, höchstens im Sinne einer höheren Moral: der des Herzens.

    Dieses Paar ist eines jener Fenster in die Zukunft, die Jaan Kross in seinem Roman aufstößt, der so wunderbar elastisch und elegant geschrieben ist, der so wenig Worte macht und der deshalb das Wort "Menschenrechte" an einer Stelle ganz bewußt, ganz schwergewichtig gesetzt hat.

    Gestalten wie Berend, das lernen wir aus diesem wunderbaren historischen Roman, sind und bleiben Rädchen im Getriebe der Geschichte. Und dieses Getriebe dreht sich nicht nur um sich selbst, sondern bewegt sich auch voran. Wohin, das ist eine ganz andere Frage. Aber damit es sich überhaupt bewegt, bedarf es Menschen wie Sievers oder Berend Falck: Außenseiter, Doppelspieler; ausgestattet mit einem Bewußtsein für das andere, und mit dem Mut, dieses andere auch verwirklichen zu wollen. Das Humane an den Romanen von Jaan Kross ist dabei, daß er seine Gestalten nicht an den ‘objektiven Widersprüchen’ zerbrechen läßt wie Schillers Helden. Es gibt immer einen Ausweg - mindestens einen Fluchtweg. Darin ähneln die Figuren ihrem Autor: Auch wer flieht oder sich verstellt, hält stand - auf seine Weise.