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Jakob Augstein: „Strömung“
Die Freiheit als hohles Versprechen

Als Kolumnist und Journalist hat Jakob Augstein sich mit seiner rhetorischen Gewandtheit einen Namen gemacht. Nun hat der * rechtliche Sohn des „Spiegel“-Gründers seinen Debütroman geschrieben. "Strömung" ist, nicht nur sprachlich, ein erstaunlich unoriginelles, nah am Klischee wandelndes Buch.

Von Christoph Schröder |
Jakob Augstein: "Strömung"
Jakob Augsteins Debütroman ein auch sprachlich erstaunlich unoriginelles Buch (Foto: Mathias Bothor, Buchcover: Aufbau Verlag)
Franz Xaver Misslinger ist ein Erfolgsmensch. Was ihm in seinen Augen dabei im Wege steht, ist sein Name, weswegen er jede seiner Reden mit dem Satz einleitet, das Scheitern höre bei ihm mit dem Namen auf. Misslinger ist ein mitreißender Redner; unter anderem diese Fähigkeit hat ihn nach oben getragen. Vom schleswig-holsteinischen Land stammend, trat er als Jugendlicher in jene Partei ein, die sich die Freiheit als Leitprinzip auf die Fahnen geschrieben hat. Der omnipotente Parteivorsitzende und ehemalige Vizekanzler Walter Schergen gehörte früh zu Misslingers Förderern. Nun ist Schergen in die Jahre gekommen, und Misslinger formuliert gegenüber der grauen Eminenz unmissverständlich seine Ansprüc
„Ich bin im Bundestag. Ich war Landesvorsitzender. Ich bin Mitglied im Bundesvorstand. Ich bin Generalsekretär. Wir stehen jetzt so gut da wie seit fünf Jahren nicht. Das ist vor allem mein Werk. Ich will den Vorsitz.“
„Strömung“ ist kein Schlüsselroman. Zwar hat man bei Augsteins Protagonisten immer wieder Bilder von Christian Lindner vor Augen. Doch die äußeren Lebensdaten – Biografie, Geburtsjahr, Herkunft – unterscheiden sich bei allen Figuren von möglichen realen Vorbildern.

Frei von humorvoller oder satirischer Schärfe

Das Problem des Romans liegt in erster Linie in der merkwürdigen Halbdistanz, in der Augstein seinen nicht eben sympathischen Protagonisten begleitet. Augstein geht es offenbar darum, den Typus eines Machtmenschen vorzuführen, dessen Überzeugungen selten über floskelhafte Wendungen hinausreichen. Was Misslinger antreibt, ist ein schwammiger Freiheitsbegriff. Misslingers politischer Aufstieg nahm in den Nullerjahren Fahrt auf; in einer Epoche, die die Erzählstimme in „Strömung“ als den Beginn eines Paradigmenwechsels charakterisiert. In Misslinger, so insinuiert es der Roman, ist die neoliberale Saat der Entsolidarisierung auf einem Nährboden der Gewissenlosigkeit aufgegangen:
„Man war bereit, sich auf das neue Jahrhundert zu stürzen und das alte so schnell wie möglich über Bord zu werfen. Da draußen brach ja gerade eine neue Welt los, Misslinger spürte das und war fest entschlossen, Teil dieser großen Bewegung zu sein. Da war eine große Rücksichtslosigkeit, die gefiel ihm, für die fühlte er sich wie geschaffen.“
Entfesselung, Aufbruchsstimmung, ein Markt der sich selbst reguliert: Die Euphorie, die Misslinger antreibt, ist längst historisch. Wer aber spricht hier eigentlich aus welcher Position? Oder anders gefragt: Was möchte Jakob Augstein mit der Inszenierung einer nahe am Klischee wandelnden Figur kenntlich machen, was nicht in den vergangenen zwei Jahrzehnten schon längst kenntlich geworden wäre? Als boshafte Karikatur taugt Misslinger nicht, weil sein Erfinder ihn, vor allem gegen Ende des Romans, geradezu empathisch umhüllt. Noch dazu ist der Roman nahezu frei von humorvoller oder gar satirischer Schärfe.
Auch als Porträt eines alternden Mannes, der spürt, wie ihm im entscheidenden Augenblick die Macht entgleitet, wäre „Strömung“ misslungen, weil Augstein seinem Protagonisten keine Kontur zu verleihen vermag und ihm stattdessen eine Ansammlung floskelhafter rhetorischer Versatzstücke in den Mund legt.

Reproduktion von Phrasengedresche

Das geschieht vor allem in Gesprächen über Politik, und zwar ganz gleich, mit wem sie geführt werden. Nur ein Beispiel: Wenn Misslinger mit seiner 16-jährigen Tochter Luise über den Klimawandel diskutiert, klingt das so:
„Jetzt sollen alle Lebensentwürfe, die nicht in den linken Gutmenschenkram passen, mit der Verbotskeule eingebremst werden. Na danke!“
Welcher Erkenntnisgewinn soll durch die bloße Reproduktion derart öden Phrasengedresches erzielt werden? Zu keinem Zeitpunkt wächst „Strömung“ über das Niveau seines mediokren Halbhelden hinaus.
Der Haupthandlungsstrang spielt im Oktober 2016, wenige Wochen vor der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten. Gemeinsam mit seiner 16-jährigen Tochter Luise reist Misslinger nach New York. Luise, so Misslingers Gedanke, soll dort hautnah den Geist der unendlichen Freiheit kennenlernen. Abgelöst wird diese Erzählebene immer wieder von eingestreuten Rückblenden, die Misslingers politischen wie privaten Werdegang rekonstruieren.

Vorhersehbarer pathetischer Showdown

Zunehmend verliert Misslinger während der USA-Reise die Kontrolle. An Amerika als gelobtes Land glaubt von den Amerikanern, denen Misslinger und Luise begegnen, niemand mehr. Illusion, Selbstbetrug und Realität klaffen auseinander. Um diesen Vorgang zu illustrieren, reißt Augstein mehrere Konflikte an: Eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung, die Ehe mit seiner Frau Selma, die kurz vor dem Scheitern steht, Misslingers Sucht nach angstlösenden Tabletten, seine notorische Untreue. Kaum etwas davon ist anschaulich auserzählt oder stimmig miteinander verknüpft. Statt in flachen Parolen ergeht der Roman sich nun in flachen Reflexionen:
„Ja, die Zukunft würde eines Tages die Vergangenheit sein, und das machte ihn traurig.“
 Jakob Augstein ist ein scharfsinniger, pointiert formulierender Kolumnist. Sein Debütroman dagegen ist ein auch sprachlich erstaunlich unoriginelles Buch. Wer die Banalität erkennt und abbildet, hat sie eben noch lange nicht analytisch durchdrungen. Am Ende schickt Augstein Misslinger und seine Tochter von New York aus auf einen Ausflug nach Long Island, in Richtung Montauk, wo sie originellerweise auf einen Mann namens Max treffen. Die „dünne Gegenwart“, wie es in Max Frischs Erzählung heißt, löst Augstein in einem so vorhersehbaren wie pathetischen Showdown auf. Die Antwort auf die Frage, warum dieses Buch geschrieben werden musste, bleibt offen.
* Thomas Jakob Augstein ist der rechtliche Sohn des "Spiegel"-Gründers Rudolf Augstein und der John-Updike-Übersetzerin Maria Carlsson. Sein leiblicher Vater ist der Schriftsteller Martin Walser.
Jakob Augstein: „Strömung“, Roman
Aufbau Verlag, Berlin, 302 Seiten, 22 Euro