Kaum mehr als 30 Jahre ist es her, dass die Berliner Subkultur zu einem nachhaltigen Begriff wurde. Berlin, das stand für morbide und krachbetonte Musik, die Stadt führte ein eigenartiges Inseldasein, in der sich ein weltweit einzigartige, zutiefst miteinander verbandelte Szene herausbildete. Pop-Ikonen wie Iggy Pop und David Bowie zog es hierhin, Nick Cave und die Einstürzenden Neubauten starteten hier ihre Weltkarrieren mit einer Musik, die so ganz und gar nicht mit dem üblichen Pop-Einerlei zu tun hatte. Mittendrin stand damals Wolfgang Müller, Mitbegründer der Band "Die Tödliche Doris". 1981 organisierte er unter dem Titel "Geniale Dilettanten" ein Festival im Berliner Tempo-drom, das viele der damals virulenten, subkulturellen Bestrebungen zusammenführte. Jetzt, 32 Jahre danach, hat er ein umfangreiches Buch mit Quellen und Geschichten aus der Westberliner Subkultur 1979 bis 1989 zusammengestellt. Enno Stahl hat mit Müller gesprochen.
Wolfgang Müller ist eine Legende. Nicht nur weil er bis Ende der 1980er-Jahre Kopf des ziemlich einzigartigen Bandprojekts "Die Tödliche Doris" war. Nicht nur weil er für diese und andere Anti-Mainstream-Projekte, etwa "Die Einstürzenden Neubauten", den überaus treffenden Oberbegriff "Geniale Dilletanten" prägte. Sondern auch weil er der vermutlich einzige deutsche Autor ist, der sich ebenso ernsthaft wie profund mit Blaumeisen, Elfen, Island und Missverständnissen beschäftigt – für alle diese Bereiche dürfte er als maßgebliche Kapazität zu bezeichnen sein.
Ganz unbestritten ist sein Expertentum auf dem Gebiet der Berliner Subkultur der 1980er-Jahre. Müller kannte vermutlich jeden, der damals in der Mauerstadt neue Wege im Be-reich von Kunst, Musik und Literatur zu gehen versuchte. Jetzt hat er einen umfangrei-chen Quellenband zur Berliner Szene jener Zeit vorgelegt, und das Buch entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem echten Renner. Hat ihn der Erfolg überrascht?
"Also eigentlich natürlich nicht. Ich habe damit gerechnet, dass es Interesse findet, hab's gehofft. Aber dass es dermaßen, jetzt ist es schon in der zweiten Auflage, die ja bereits nach vier Tagen aus dem Lager vergriffen ist und wir denken jetzt bereits die dritte Auflage an."
So tiefschürfend Wolfgang Müllers Recherchegang auch ist, dieses große Interesse an einer Szene, deren Wirkungszeit doch schon einige Jahrzehnte zurückliegt, verwundert etwas. Denn das alte Westberlin in seiner Insellage, abgekapselt von der freien Welt durch Zonengrenze und Transitautobahn, bietet nicht gerade Raum für nostalgische Rückschau. Man muss doch meinen, dass die Kommunikation nach außen, derer ja gerade die Kunst so sehr bedarf, hier hochgradig gestört gewesen ist. Heute ist es keine Frage, aber was machte damals die Anziehungskraft Berlins aus, was war das für eine eigenartige Melange, der Westberliner Humus?
"Es war 'ne komische Situation, aber gleichzeitig hatte diese Situation auch für be-stimmte Leute wie mich zum Beispiel unglaubliche Vorteile, weil nach Westberlin sind nicht Leute gezogen, die Karriere machen wollten, also in der Kunst sind die nach Köln oder Düsseldorf oder Stuttgart gezogen, um am Kunstbetrieb teilzuhaben.
Dadurch hat sich hier 'ne Menge an kreativem Potenzial angesammelt von Menschen, die wirklich nicht so richtig in das System reinpassten, weil ihnen das System, wie es sich darbot, im Westen, teilweise auch im Osten, es gab ja auch Leute, die aus der DDR dann nach Westberlin übersiedelten, nicht gefallen hat. Und das hat 'ne ganz eigentümliche Stimmung entstehen lassen, eine Stimmung also, ohne dass da ständig die Ökonomie im Vordergrund steht."
Es ist also das Besondere der Randlage, gerade das Morbide, das Spröde und das Wider-ständige machten die Eigenart der Westberliner Subkultur aus. Sie passte damit perfekt in das kulturelle Feld der Achtziger Jahre, die noch von einem stark rebellischen Geist und einem Punk-Impetus getragen waren.
"Also ich würde sagen, wenn Leute hier etwas machen, kreativ, Musik, oder etwas überlegen, Konzepte überlegen, das Ganze aber noch keinen Vermarktungsrahmen findet, also noch niemand da ist, der sagt, das mache ich jetzt nutzbar für irgendwas, das ist immer 'ne spannende Zeit."
Was war das Charakteristische der damaligen Westberliner Untergrund-Ästhetik?
"Also ich würde sagen, das Chaos der Formen. Also in Berlin hatte man ja 'ne Mi-schung oder hat man 'ne Mischung aus allen möglichen Stilen, also vom sozialistischen Realismus im Osten und dann hat man die stalinistische Zuckerbäckerei-Architektur, die ja schöne Wohnungen hat. Man hat Bauhaus, man hat die Postmoderne, alle möglichen Stile. Nichts passt zusammen, ich will sagen, das ist der Berliner Stil, nichts passt richtig zusammen. Und alles verkörpert sich, also hat sich Form in Ideologien, also formgewordene Ideologien verkörpert. Und von der Ästhetik, es spielt keine Rolle, wie's aussieht. Und das ist gut – und ist schlecht, beides."
Müller gibt diese chaotische Ästhetik in seinem Buch nicht nur wieder, sein Vorgehen selbst ist einer ganz ähnlichen (Anti-)Logik verpflichtet. Mehrere Zugriffsweisen hat der Autor hier vorgenommen: Unter dem Oberbegriff "Ähnlichkeiten und Differenzen" berichtet er eher assoziativ vom Punk, dem Aufkommen queerer Szenen bis zum "Bionade-Biedermeier". Discos und Kneipen wie der Dschungel, das Kumpelnest 3000, das Risiko und das SO36 werden hier gewürdigt, alles hemmungslos subjektiv, natürlich stark aus Sicht der "Tödlichen Doris", seiner Band.
Im zweiten Teil "Gestaltbildung" folgt er verschiedenen Szenebiografien, der Ausbildung ihrer spezifischen "Körper". Der dritte Teil "Ästhetik der Absage" behandelt künstlerische Sparten und Konzepte, so Berliner Galerien, die Musik- und Super-8-Filmszene. Die Me-thode zieht gewissermaßen sich überschneidende, konzentrische Kreise. Demgemäß tauchen immer wieder dieselben Personen oder Orte auf, ohne sich wirklich zu wiederholen, denn die Perspektiven changieren. So ergibt sich ein kaleidoskopartiges, vielgestaltiges Bild. Und das ist wohl genau die richtige Art und Weise ein solch oszillierendes Sujet angemessen zu erfassen. Wie ist aber die Außenwahrnehmung der Berliner Szene damals und heute zu beurteilen?
"Na, ich glaube, dass heute erst vieles wieder entdeckt werden kann, denn inzwischen ist der Abstand groß genug geworden, um die Sachen mal von der Distanz zu sehen. Ich glaube, dass es für künstlerische Arbeiten immer wichtig ist, dass man einen Rahmen hat, um das Ganze betrachten zu können. Und ich glaube, dass dieser Zeitabstand jetzt, das neue, veränderte Berlin, sozusagen 'n guter Anlass ist, mal zurückzugucken."
Ein Stück Spurensuche ist Müllers Reader. Er bietet die Grundlage für Entdeckungen, und das ist gut so. Nichts ist so flüchtig, aber auch so faszinierend wie eine vergangene Subkultur. Denn als "Gegenkulturen" gehören solche eben nicht dem hegemonialen Diskurs an und bilden daher keine verlässlichen Archive aus. Die Überlieferung ist stets von Zufällen geprägt, heteromorphe Mosaiksteine, die es zusammenzufügen gilt. Doch hat es vielleicht unmittelbare Ableitungen aus der Westberliner Szene gegeben? Gibt es Konsequenzen, Rezeptionen, Nachfolger?
"Ja, das glaube ich schon, dass viele von den Qualitäten eigentlich jetzt erst entdeckt werden. Ich hab da zum Beispiel Kontakt bekommen zu jemanden, der sich als Fan dieser Zeit entpuppte, der war dreißig Jahre jünger als ich und kam aus New York und hatte dann sämtliche Tödliche-Doris-Platten, oder Leute sind unglaublich informiert und sind dreißig Jahre jünger, kennen sich aber so unglaublich aus in dem Ganzen, was damals an Cassetten so produziert wurde, und wer was irgendwo gemacht hat.
Ich glaub schon, dass das noch nicht ausgeschöpft ist oder dass noch ne Menge Anregung wirksam ist, die aber sich auch teilweise jetzt erst richtig entfaltet. Damals gab's gar nicht das Interesse, auch nicht von außen. Jetzt ist das Interesse von außen da, jetzt werden Sachen wahrgenommen, die ja wenig ernstgenommen waren, weil sie nicht in einem Kommerzrahmen gesteckt haben. Ist ja die Frage, ob man sie davon fernhalten sollte. Aber das war für mich sowieso nie 'n Problem, in Widersprüchen leben wir immer drin. Also die Freiheit gibt es nur im Dazwischen."
Die Freiheit gibt es nur im Dazwischen – von diesem Diktum legt Müllers Band beredtes Zeugnis ab.
Buchinfos:
Wolfgang Müller: "Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit"
Philo Fine arts, 579 Seiten, 24 Euro, ISBN-13: 978-3865726711
Wolfgang Müller ist eine Legende. Nicht nur weil er bis Ende der 1980er-Jahre Kopf des ziemlich einzigartigen Bandprojekts "Die Tödliche Doris" war. Nicht nur weil er für diese und andere Anti-Mainstream-Projekte, etwa "Die Einstürzenden Neubauten", den überaus treffenden Oberbegriff "Geniale Dilletanten" prägte. Sondern auch weil er der vermutlich einzige deutsche Autor ist, der sich ebenso ernsthaft wie profund mit Blaumeisen, Elfen, Island und Missverständnissen beschäftigt – für alle diese Bereiche dürfte er als maßgebliche Kapazität zu bezeichnen sein.
Ganz unbestritten ist sein Expertentum auf dem Gebiet der Berliner Subkultur der 1980er-Jahre. Müller kannte vermutlich jeden, der damals in der Mauerstadt neue Wege im Be-reich von Kunst, Musik und Literatur zu gehen versuchte. Jetzt hat er einen umfangrei-chen Quellenband zur Berliner Szene jener Zeit vorgelegt, und das Buch entwickelte sich in kürzester Zeit zu einem echten Renner. Hat ihn der Erfolg überrascht?
"Also eigentlich natürlich nicht. Ich habe damit gerechnet, dass es Interesse findet, hab's gehofft. Aber dass es dermaßen, jetzt ist es schon in der zweiten Auflage, die ja bereits nach vier Tagen aus dem Lager vergriffen ist und wir denken jetzt bereits die dritte Auflage an."
So tiefschürfend Wolfgang Müllers Recherchegang auch ist, dieses große Interesse an einer Szene, deren Wirkungszeit doch schon einige Jahrzehnte zurückliegt, verwundert etwas. Denn das alte Westberlin in seiner Insellage, abgekapselt von der freien Welt durch Zonengrenze und Transitautobahn, bietet nicht gerade Raum für nostalgische Rückschau. Man muss doch meinen, dass die Kommunikation nach außen, derer ja gerade die Kunst so sehr bedarf, hier hochgradig gestört gewesen ist. Heute ist es keine Frage, aber was machte damals die Anziehungskraft Berlins aus, was war das für eine eigenartige Melange, der Westberliner Humus?
"Es war 'ne komische Situation, aber gleichzeitig hatte diese Situation auch für be-stimmte Leute wie mich zum Beispiel unglaubliche Vorteile, weil nach Westberlin sind nicht Leute gezogen, die Karriere machen wollten, also in der Kunst sind die nach Köln oder Düsseldorf oder Stuttgart gezogen, um am Kunstbetrieb teilzuhaben.
Dadurch hat sich hier 'ne Menge an kreativem Potenzial angesammelt von Menschen, die wirklich nicht so richtig in das System reinpassten, weil ihnen das System, wie es sich darbot, im Westen, teilweise auch im Osten, es gab ja auch Leute, die aus der DDR dann nach Westberlin übersiedelten, nicht gefallen hat. Und das hat 'ne ganz eigentümliche Stimmung entstehen lassen, eine Stimmung also, ohne dass da ständig die Ökonomie im Vordergrund steht."
Es ist also das Besondere der Randlage, gerade das Morbide, das Spröde und das Wider-ständige machten die Eigenart der Westberliner Subkultur aus. Sie passte damit perfekt in das kulturelle Feld der Achtziger Jahre, die noch von einem stark rebellischen Geist und einem Punk-Impetus getragen waren.
"Also ich würde sagen, wenn Leute hier etwas machen, kreativ, Musik, oder etwas überlegen, Konzepte überlegen, das Ganze aber noch keinen Vermarktungsrahmen findet, also noch niemand da ist, der sagt, das mache ich jetzt nutzbar für irgendwas, das ist immer 'ne spannende Zeit."
Was war das Charakteristische der damaligen Westberliner Untergrund-Ästhetik?
"Also ich würde sagen, das Chaos der Formen. Also in Berlin hatte man ja 'ne Mi-schung oder hat man 'ne Mischung aus allen möglichen Stilen, also vom sozialistischen Realismus im Osten und dann hat man die stalinistische Zuckerbäckerei-Architektur, die ja schöne Wohnungen hat. Man hat Bauhaus, man hat die Postmoderne, alle möglichen Stile. Nichts passt zusammen, ich will sagen, das ist der Berliner Stil, nichts passt richtig zusammen. Und alles verkörpert sich, also hat sich Form in Ideologien, also formgewordene Ideologien verkörpert. Und von der Ästhetik, es spielt keine Rolle, wie's aussieht. Und das ist gut – und ist schlecht, beides."
Müller gibt diese chaotische Ästhetik in seinem Buch nicht nur wieder, sein Vorgehen selbst ist einer ganz ähnlichen (Anti-)Logik verpflichtet. Mehrere Zugriffsweisen hat der Autor hier vorgenommen: Unter dem Oberbegriff "Ähnlichkeiten und Differenzen" berichtet er eher assoziativ vom Punk, dem Aufkommen queerer Szenen bis zum "Bionade-Biedermeier". Discos und Kneipen wie der Dschungel, das Kumpelnest 3000, das Risiko und das SO36 werden hier gewürdigt, alles hemmungslos subjektiv, natürlich stark aus Sicht der "Tödlichen Doris", seiner Band.
Im zweiten Teil "Gestaltbildung" folgt er verschiedenen Szenebiografien, der Ausbildung ihrer spezifischen "Körper". Der dritte Teil "Ästhetik der Absage" behandelt künstlerische Sparten und Konzepte, so Berliner Galerien, die Musik- und Super-8-Filmszene. Die Me-thode zieht gewissermaßen sich überschneidende, konzentrische Kreise. Demgemäß tauchen immer wieder dieselben Personen oder Orte auf, ohne sich wirklich zu wiederholen, denn die Perspektiven changieren. So ergibt sich ein kaleidoskopartiges, vielgestaltiges Bild. Und das ist wohl genau die richtige Art und Weise ein solch oszillierendes Sujet angemessen zu erfassen. Wie ist aber die Außenwahrnehmung der Berliner Szene damals und heute zu beurteilen?
"Na, ich glaube, dass heute erst vieles wieder entdeckt werden kann, denn inzwischen ist der Abstand groß genug geworden, um die Sachen mal von der Distanz zu sehen. Ich glaube, dass es für künstlerische Arbeiten immer wichtig ist, dass man einen Rahmen hat, um das Ganze betrachten zu können. Und ich glaube, dass dieser Zeitabstand jetzt, das neue, veränderte Berlin, sozusagen 'n guter Anlass ist, mal zurückzugucken."
Ein Stück Spurensuche ist Müllers Reader. Er bietet die Grundlage für Entdeckungen, und das ist gut so. Nichts ist so flüchtig, aber auch so faszinierend wie eine vergangene Subkultur. Denn als "Gegenkulturen" gehören solche eben nicht dem hegemonialen Diskurs an und bilden daher keine verlässlichen Archive aus. Die Überlieferung ist stets von Zufällen geprägt, heteromorphe Mosaiksteine, die es zusammenzufügen gilt. Doch hat es vielleicht unmittelbare Ableitungen aus der Westberliner Szene gegeben? Gibt es Konsequenzen, Rezeptionen, Nachfolger?
"Ja, das glaube ich schon, dass viele von den Qualitäten eigentlich jetzt erst entdeckt werden. Ich hab da zum Beispiel Kontakt bekommen zu jemanden, der sich als Fan dieser Zeit entpuppte, der war dreißig Jahre jünger als ich und kam aus New York und hatte dann sämtliche Tödliche-Doris-Platten, oder Leute sind unglaublich informiert und sind dreißig Jahre jünger, kennen sich aber so unglaublich aus in dem Ganzen, was damals an Cassetten so produziert wurde, und wer was irgendwo gemacht hat.
Ich glaub schon, dass das noch nicht ausgeschöpft ist oder dass noch ne Menge Anregung wirksam ist, die aber sich auch teilweise jetzt erst richtig entfaltet. Damals gab's gar nicht das Interesse, auch nicht von außen. Jetzt ist das Interesse von außen da, jetzt werden Sachen wahrgenommen, die ja wenig ernstgenommen waren, weil sie nicht in einem Kommerzrahmen gesteckt haben. Ist ja die Frage, ob man sie davon fernhalten sollte. Aber das war für mich sowieso nie 'n Problem, in Widersprüchen leben wir immer drin. Also die Freiheit gibt es nur im Dazwischen."
Die Freiheit gibt es nur im Dazwischen – von diesem Diktum legt Müllers Band beredtes Zeugnis ab.
Buchinfos:
Wolfgang Müller: "Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit"
Philo Fine arts, 579 Seiten, 24 Euro, ISBN-13: 978-3865726711