"Der alte König in seinem Exil" ist die Geschichte eines verlorenen Sohnes, der nach Hause kommt, als der Vater dabei ist, verloren zu gehen. Denn der Vater hat Alzheimer. Seit mehr als zehn Jahren kümmert sich Arno Geiger um seinen Vater. Seit sechs Jahren schreibt er darüber. Für den Autor bedeutete dies nicht nur, reflektierend mit der schwierigen Situation umzugehen, sondern auch, zum Vater eine neue Beziehung aufzubauen. Denn davor hatte er zu ihm ein schlechtes Verhältnis, schon seit der Pubertät war er auf Distanz gegangen. Und auf die ersten Anzeichen der Krankheit hatte er, wie die anderen Geschwister auch, mit Ärger reagiert. Sie betrachteten den Rückzug und die Passivität des ehemaligen Gemeindeschreibers und eifrigen Hobbyhandwerkers als Trotz eines starrköpfigen Alten, der es genießt, die anderen arbeiten zu sehen.
"So etwa stand es um unsere Gemütsverfassung im Jahr 2000. Die Krankheit fraß sich nicht nur ins Gehirn des Vaters, sondern auch in das Bild, das ich mir als Kind von ihm gemacht hatte. Meine ganze Kindheit lang, war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf. Es wird wohl stimmen, was Jacques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt."
Als endlich klar wurde, dass der Vater nicht einfach störrisch und faul war, sondern hilflos versucht hatte, seine Demenz zu kaschieren, änderte sich alles. Die Familie teilte sich die Betreuung auf, auch der Schriftsteller Arno Geiger, der seinen Wohnsitz längst in Wien hatte, kehrte jeweils für mehrere Wochen in sein Elternhaus in Vorarlberg zurück, um sich um den Vater zu kümmern. Während der Autor am Laptop sitzt, schaut ihm der Vater zu:
Er spielte mit seinen Fingern, als gäbe es im Moment nichts Dringenderes. Zwischendurch bat er mich, es ihm zu sagen, falls er mir helfen könne. "Leider, ich weiß", fügte er hinzu, "ich erbringe keine guten Ergebnisse mehr. Meine Leistungen sind ziemlich schwach geworden. Es ist schwierig. Ich werde dir wohl nicht viel helfen können." Ich sagte: "Du hilfst mir von allen am meisten."
Der demente Vater als Hilfe für den Schriftsteller? Eine überraschende Aussage, aber Arno Geiger hat das gar nicht als unverbindliche Nettigkeit gemeint.
"Das meinte ich so, wie ich es gesagt habe. Er ist befreit von dem, was man Informationsgesellschaft nennt, also der hat nur noch ein Bezugssystem im Grundsätzlichen. Wenn er Zugriff hat auf seine Intelligenz, was ja nicht immer der Fall ist, oder was leider nur hin und wieder der Fall ist, dann sagt er Dinge von einer Klarheit, also da greife ich danach mit beiden Händen, und ich weiß, das ist wichtig und ich nehm das mit fürs Leben."
Arno Geiger hat gelernt, zuzuhören und sich in die Wahrnehmung des Kranken einzufühlen. Sein in einer bewusst schlichten Sprache gehaltenes Buch ist eine Liebeserklärung an einen Menschen, der nicht mehr im konventionellen Sinne funktioniert, der aber Charakter zeigt, Gefühle und ein neues, kreatives Sprachvermögen. Manche Aussagen erscheinen dem Autor geradezu brillant, er vergleicht sie mit Franz Kafka oder Thomas Bernhard und fragt sich neidisch, warum sie ihm nicht eingefallen sind.
Eine Katze streift durch den Garten. Der Vater sagt: "Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber." Und einmal, als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, antwortete er: "Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen." Und dann ansatzlos Sätze, so unwahrscheinlich und schwebend, wie sie einem manchmal in Träumen kommen: "Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter."
Mit seinem berührenden Buch möchte Arno Geiger erreichen, dass unsere Gesellschaft einen neuen Blick auf die Alzheimerkranken wirft und sie als komplexe und nicht bloß als reduzierte Persönlichkeiten wahrnimmt. Der Umgang mit Dementen ist oft von Angst geprägt, selbst auch diesen Kontrollverlust zu erleiden. So bringt man bestenfalls Mitleid auf, wendet sich aber oft ab. Das löst auch bei den Betroffenen, die ja merken, dass sie nicht richtig funktionieren, ein Unbehagen aus. Im Falle seines Vaters August Geiger hat der Autor bereits ein Umdenken erreicht.
"Jemand, der von einer solchen Krankheit betroffen ist, bekommt halt wenig Anerkennung und wenig Respekt. Und mein Vater bekommt im Moment sehr viel Anerkennung und Respekt, im Dorf strahlen alle, gehen unbefangen mit ihm um, weil sie ja gelesen haben, gut, der August hat Alzheimer, aber man darf ihn nicht abschreiben, da ist noch vieles Schöne und Reiche, wenn man sich darauf einlässt, und mein Vater spürt das, dass in seinem Umfeld so eine positive Stimmung herrscht, und das lindert wieder das Gefühl von Fremdheit und Irritation."
"Der alte König in seinem Exil" ist mittlerweile weit über Vorarlberg hinaus zur Grundlage geworden, neu über Alzheimer nachzudenken. Dennoch ist es mehr als nur ein Buch über diese Krankheit und den Umgang mit ihr. Man kann es auch als Familienroman lesen, der den Übergang von einer bäuerlichen, starren Welt, in der alles seine feste Ordnung hatte, zur modernen, offenen Gesellschaft beschreibt. Diesen Wandel konnte August Geiger, der als Sohn eines Kleinbauern aufgewachsen war und das Haus für seine Familie noch mit eigenen Händen aufgebaut hatte, nicht mit vollziehen. Es kam zur Trennung der Eltern, zur Entfremdung zwischen dem Vater und seinen Kindern. Arno Geiger selbst sieht es also nicht gern, wenn sein Buch nur als Fallstudie eines Demenzkranken wahrgenommen wird.
"Wenn es mir um die Krankheit gegangen wäre, hätte ich das Buch nicht geschrieben, tatsächlich. Als ich mich hinsetzte, war für mich klar, ich möchte meinen Vater nicht nur zeigen als kranken Menschen, sondern als Menschen mit einer langen Biografie, er ist jetzt 84, und als sehr komplexen Menschen. Das ist biografisch, autobiografisch, das hat sehr viel mit mir selber zu tun, da ist eine Dorfgeschichte drinnen, auch die Geschichte einer untergehenden kleinbäuerlichen Kultur in unseren Breiten – und da ist auch viel Weltbetrachtung drin, wenn man so will."
Der Bruch in der Biografie des August Geiger war der Zweite Weltkrieg. Als 17-Jähriger wurde er noch eingezogen, kam mit 18 Jahren an die Ostfront, danach in russische Gefangenschaft, und nach einer langen Irrfahrt, auf 40 Kilo abgemagert, wieder nach Hause in das Dorf Wolfurt bei Bregenz. Von dort wollte er dann nie wieder weg, sein Leben lang nicht. Nicht auf Hochzeitsreise, nicht in den Urlaub. Man glaubt es gern, dass seine Frau und die Kinder diese Haltung in den 70er und 80er-Jahren nicht schätzen konnten.
Und gerade dieser Mensch, der sich so sehr an sein Zuhause geklammert hatte, wurde durch Alzheimer wieder heimatlos. Denn es gehört oft zum Krankheitsbild, dass die Betroffenen stets nach Hause wollen, auch wenn sie schon zuhause sind. Dieses unstillbare Heimweh ist für die Angehörigen besonders schwierig aufzufangen.
"Ich hab lange versucht, ihm zu erklären, dass er nicht nach Hause gehen kann, wenn er schon zu Hause ist. Und das hat ihn nur noch mehr irritiert. Weil er hat sich nicht zuhause gefühlt. Und dann kommt auch noch sein Sohn daher und belehrt ihn, dass das Unsinn ist. Aber Zuhause ist eben etwas Emotionales, und als ich dann das erste Mal zu ihm gesagt habe, in meiner Hilflosigkeit: 'Ich geh mit', da ist er fast auf den Rücken gefallen und wollte das gar nicht glauben: 'Aber dann steht die Situation für mich ja geradezu großartig', hat er gesagt, und damit war das Bedürfnis, nach Hause zu gehen, schon gemildert, weil er nicht mehr allein war."
Mit liebevoller Zuwendung dringt Arno Geiger in das Exil seines Vaters ein und versucht, die Welt zu verstehen, in der sich der Kranke befindet, seine Sichtweise nachzuvollziehen, seine Gefühle zu erahnen. "Der alte König in seinem Exil" ist natürlich auch eine Vater-Sohn-Geschichte, die als solche allerdings einige überraschende Leerstellen aufweist. Denn über die Gründe des Zerwürfnisses, das den Sohn jahrelang vom Vater entfremdet hat, schweigt sich Arno Geiger aus, er belässt es bei einigen Andeutungen. Mehr schreibt er über die Trennung der Eltern, und es macht ihn offenkundig sehr glücklich, dass auch seine Mutter sich wieder mit dem Vater versöhnt, und dass durch die gemeinsame Betreuung des Kranken die zerstrittene Familie wieder zusammenfindet. So hat der Autor auch über die eigene Verlassenheit und das eigene Bedürfnis nach Geborgenheit geschrieben. Aber das reflektiert Arno Geiger in diesem Buch, das doch von Reflexionen durchzogen ist, nicht, das bleibt zwischen den Zeilen stehen wie eine düstere Untermalung. Der verlorene Sohn hat die Liebe zu seinem Vater wiedergefunden. Der aber erkennt ihn nicht mehr. Auf die Frage: "Papa, weißt du überhaupt, wer ich bin?", gibt August Geiger zur Antwort: "Als ob das so interessant wäre." Aber das scheint der Sohn nicht persönlich zu nehmen, ebenso wenig, als der Kranke anfängt, mit Aggressionen auf sein Gegenüber zu reagieren. Allerdings gelangt die familiäre Betreuung in diesem Stadium an ihre Grenzen, das Pflegeheim wird unumgänglich. Zur großen Erleichterung der Familie fühlt sich der Vater dort wohl.
"Ja, dort herrscht so etwas wie Normalität und mein Vater, der solidarisiert sich mit seinen Mitbewohnern, der weiß, dass etliche schlechter dran sind als er. Der kann an einem Krankenbett vorbei gehen und mit einer solchen Selbstverständlichkeit jemandem kurz über den Kopf fahren und zwei tröstende Sätze sagen, da bewundere ich ihn dafür, denn ich wär befangen sofort, er ist unbefangen und er sagt zu mir: Weißt du, wir sind lauter Geflickte."
Arno Geiger: "Der alte König in seinem Exil". Hanser Verlag, München 2011, 190 Seiten, 17,90 Euro.
"So etwa stand es um unsere Gemütsverfassung im Jahr 2000. Die Krankheit fraß sich nicht nur ins Gehirn des Vaters, sondern auch in das Bild, das ich mir als Kind von ihm gemacht hatte. Meine ganze Kindheit lang, war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf. Es wird wohl stimmen, was Jacques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt."
Als endlich klar wurde, dass der Vater nicht einfach störrisch und faul war, sondern hilflos versucht hatte, seine Demenz zu kaschieren, änderte sich alles. Die Familie teilte sich die Betreuung auf, auch der Schriftsteller Arno Geiger, der seinen Wohnsitz längst in Wien hatte, kehrte jeweils für mehrere Wochen in sein Elternhaus in Vorarlberg zurück, um sich um den Vater zu kümmern. Während der Autor am Laptop sitzt, schaut ihm der Vater zu:
Er spielte mit seinen Fingern, als gäbe es im Moment nichts Dringenderes. Zwischendurch bat er mich, es ihm zu sagen, falls er mir helfen könne. "Leider, ich weiß", fügte er hinzu, "ich erbringe keine guten Ergebnisse mehr. Meine Leistungen sind ziemlich schwach geworden. Es ist schwierig. Ich werde dir wohl nicht viel helfen können." Ich sagte: "Du hilfst mir von allen am meisten."
Der demente Vater als Hilfe für den Schriftsteller? Eine überraschende Aussage, aber Arno Geiger hat das gar nicht als unverbindliche Nettigkeit gemeint.
"Das meinte ich so, wie ich es gesagt habe. Er ist befreit von dem, was man Informationsgesellschaft nennt, also der hat nur noch ein Bezugssystem im Grundsätzlichen. Wenn er Zugriff hat auf seine Intelligenz, was ja nicht immer der Fall ist, oder was leider nur hin und wieder der Fall ist, dann sagt er Dinge von einer Klarheit, also da greife ich danach mit beiden Händen, und ich weiß, das ist wichtig und ich nehm das mit fürs Leben."
Arno Geiger hat gelernt, zuzuhören und sich in die Wahrnehmung des Kranken einzufühlen. Sein in einer bewusst schlichten Sprache gehaltenes Buch ist eine Liebeserklärung an einen Menschen, der nicht mehr im konventionellen Sinne funktioniert, der aber Charakter zeigt, Gefühle und ein neues, kreatives Sprachvermögen. Manche Aussagen erscheinen dem Autor geradezu brillant, er vergleicht sie mit Franz Kafka oder Thomas Bernhard und fragt sich neidisch, warum sie ihm nicht eingefallen sind.
Eine Katze streift durch den Garten. Der Vater sagt: "Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber." Und einmal, als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, antwortete er: "Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen." Und dann ansatzlos Sätze, so unwahrscheinlich und schwebend, wie sie einem manchmal in Träumen kommen: "Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter."
Mit seinem berührenden Buch möchte Arno Geiger erreichen, dass unsere Gesellschaft einen neuen Blick auf die Alzheimerkranken wirft und sie als komplexe und nicht bloß als reduzierte Persönlichkeiten wahrnimmt. Der Umgang mit Dementen ist oft von Angst geprägt, selbst auch diesen Kontrollverlust zu erleiden. So bringt man bestenfalls Mitleid auf, wendet sich aber oft ab. Das löst auch bei den Betroffenen, die ja merken, dass sie nicht richtig funktionieren, ein Unbehagen aus. Im Falle seines Vaters August Geiger hat der Autor bereits ein Umdenken erreicht.
"Jemand, der von einer solchen Krankheit betroffen ist, bekommt halt wenig Anerkennung und wenig Respekt. Und mein Vater bekommt im Moment sehr viel Anerkennung und Respekt, im Dorf strahlen alle, gehen unbefangen mit ihm um, weil sie ja gelesen haben, gut, der August hat Alzheimer, aber man darf ihn nicht abschreiben, da ist noch vieles Schöne und Reiche, wenn man sich darauf einlässt, und mein Vater spürt das, dass in seinem Umfeld so eine positive Stimmung herrscht, und das lindert wieder das Gefühl von Fremdheit und Irritation."
"Der alte König in seinem Exil" ist mittlerweile weit über Vorarlberg hinaus zur Grundlage geworden, neu über Alzheimer nachzudenken. Dennoch ist es mehr als nur ein Buch über diese Krankheit und den Umgang mit ihr. Man kann es auch als Familienroman lesen, der den Übergang von einer bäuerlichen, starren Welt, in der alles seine feste Ordnung hatte, zur modernen, offenen Gesellschaft beschreibt. Diesen Wandel konnte August Geiger, der als Sohn eines Kleinbauern aufgewachsen war und das Haus für seine Familie noch mit eigenen Händen aufgebaut hatte, nicht mit vollziehen. Es kam zur Trennung der Eltern, zur Entfremdung zwischen dem Vater und seinen Kindern. Arno Geiger selbst sieht es also nicht gern, wenn sein Buch nur als Fallstudie eines Demenzkranken wahrgenommen wird.
"Wenn es mir um die Krankheit gegangen wäre, hätte ich das Buch nicht geschrieben, tatsächlich. Als ich mich hinsetzte, war für mich klar, ich möchte meinen Vater nicht nur zeigen als kranken Menschen, sondern als Menschen mit einer langen Biografie, er ist jetzt 84, und als sehr komplexen Menschen. Das ist biografisch, autobiografisch, das hat sehr viel mit mir selber zu tun, da ist eine Dorfgeschichte drinnen, auch die Geschichte einer untergehenden kleinbäuerlichen Kultur in unseren Breiten – und da ist auch viel Weltbetrachtung drin, wenn man so will."
Der Bruch in der Biografie des August Geiger war der Zweite Weltkrieg. Als 17-Jähriger wurde er noch eingezogen, kam mit 18 Jahren an die Ostfront, danach in russische Gefangenschaft, und nach einer langen Irrfahrt, auf 40 Kilo abgemagert, wieder nach Hause in das Dorf Wolfurt bei Bregenz. Von dort wollte er dann nie wieder weg, sein Leben lang nicht. Nicht auf Hochzeitsreise, nicht in den Urlaub. Man glaubt es gern, dass seine Frau und die Kinder diese Haltung in den 70er und 80er-Jahren nicht schätzen konnten.
Und gerade dieser Mensch, der sich so sehr an sein Zuhause geklammert hatte, wurde durch Alzheimer wieder heimatlos. Denn es gehört oft zum Krankheitsbild, dass die Betroffenen stets nach Hause wollen, auch wenn sie schon zuhause sind. Dieses unstillbare Heimweh ist für die Angehörigen besonders schwierig aufzufangen.
"Ich hab lange versucht, ihm zu erklären, dass er nicht nach Hause gehen kann, wenn er schon zu Hause ist. Und das hat ihn nur noch mehr irritiert. Weil er hat sich nicht zuhause gefühlt. Und dann kommt auch noch sein Sohn daher und belehrt ihn, dass das Unsinn ist. Aber Zuhause ist eben etwas Emotionales, und als ich dann das erste Mal zu ihm gesagt habe, in meiner Hilflosigkeit: 'Ich geh mit', da ist er fast auf den Rücken gefallen und wollte das gar nicht glauben: 'Aber dann steht die Situation für mich ja geradezu großartig', hat er gesagt, und damit war das Bedürfnis, nach Hause zu gehen, schon gemildert, weil er nicht mehr allein war."
Mit liebevoller Zuwendung dringt Arno Geiger in das Exil seines Vaters ein und versucht, die Welt zu verstehen, in der sich der Kranke befindet, seine Sichtweise nachzuvollziehen, seine Gefühle zu erahnen. "Der alte König in seinem Exil" ist natürlich auch eine Vater-Sohn-Geschichte, die als solche allerdings einige überraschende Leerstellen aufweist. Denn über die Gründe des Zerwürfnisses, das den Sohn jahrelang vom Vater entfremdet hat, schweigt sich Arno Geiger aus, er belässt es bei einigen Andeutungen. Mehr schreibt er über die Trennung der Eltern, und es macht ihn offenkundig sehr glücklich, dass auch seine Mutter sich wieder mit dem Vater versöhnt, und dass durch die gemeinsame Betreuung des Kranken die zerstrittene Familie wieder zusammenfindet. So hat der Autor auch über die eigene Verlassenheit und das eigene Bedürfnis nach Geborgenheit geschrieben. Aber das reflektiert Arno Geiger in diesem Buch, das doch von Reflexionen durchzogen ist, nicht, das bleibt zwischen den Zeilen stehen wie eine düstere Untermalung. Der verlorene Sohn hat die Liebe zu seinem Vater wiedergefunden. Der aber erkennt ihn nicht mehr. Auf die Frage: "Papa, weißt du überhaupt, wer ich bin?", gibt August Geiger zur Antwort: "Als ob das so interessant wäre." Aber das scheint der Sohn nicht persönlich zu nehmen, ebenso wenig, als der Kranke anfängt, mit Aggressionen auf sein Gegenüber zu reagieren. Allerdings gelangt die familiäre Betreuung in diesem Stadium an ihre Grenzen, das Pflegeheim wird unumgänglich. Zur großen Erleichterung der Familie fühlt sich der Vater dort wohl.
"Ja, dort herrscht so etwas wie Normalität und mein Vater, der solidarisiert sich mit seinen Mitbewohnern, der weiß, dass etliche schlechter dran sind als er. Der kann an einem Krankenbett vorbei gehen und mit einer solchen Selbstverständlichkeit jemandem kurz über den Kopf fahren und zwei tröstende Sätze sagen, da bewundere ich ihn dafür, denn ich wär befangen sofort, er ist unbefangen und er sagt zu mir: Weißt du, wir sind lauter Geflickte."
Arno Geiger: "Der alte König in seinem Exil". Hanser Verlag, München 2011, 190 Seiten, 17,90 Euro.