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Die Friedenspreisrede von Susan Sontag

Über den Krieg hat heute vor allem Ivan Nagel gesprochen, Schriftsteller, Theatermann und ein guter Freund von Susan Sontag. Er beschwor das Grauen, das in das Bewusstsein des gutbürgerlich behüteten Kindes in Form eines Bildes einbrach. Die zwölfjährige sah in einer Buchhandlung in Santa Monica die befreiten, zum Skelett abgemagerten Häftlinge von Dachau und Bergen-Belsen. Seit damals existierte das hier und dort, Amerika und Europa für sie, aber auch die lebenslange Beschäftigung mit der Herrschaft der Bilder bis hin zu ihrem jüngsten Buch: "Das Leiden anderer betrachten". Susan Sontag hat sich dem allen ausgesetzt, in Nordvietnam, während des Yom Kippur-Kriges, und immer wieder in Bosnien. Ihre Beurteilung des Krieges, der Kriege, die sie jeweils neu und nicht als Pazifistin fällt, beruht auf dieser Anschauung. Ihr Leben als "exzessive Moralistin", wie sie sich selbst einmal bezeichnet hat, ebenso.

Karin Fischer |
    Nagel zeichnete den Weg und die Widersprüche der Kriegsgegnerin Susan Sontag, die dennoch keine Pazifistin ist, nach, ihre essayistisches Suchen nach der Wahrheit, ihre moralische Position, die auch vom Perspektivwechsel lebt.

    Vielleicht war es ein Omen, dass auch die unmaßgeblicheren Vorredner bei der Preisvergabe in der Paulskirche, Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth und der Vorsteher des Börsenvereins, Dieter Schormann, auf Susan Sontags "intellektuelle Unabhängigkeit" zu sprechen kamen; Petra Roth auf eine etwas herablassende Art. Die CDU-Politikerin lobte natürlich nicht Sontags erste Äußerungen zu den Terroranschlägen vom 11. September, sondern die Reaktion der Schriftstellerin auf die Kritik. Unabhängigkeit des Denkens schließe offensichtlich die uneingeschränkte Fähigkeit zum Überdenken ein.

    Susan Sontag reagierte, indem sie die Erwartungshaltung auf eine kämpferische, politische Rede wiederum unterlief. Nach einer kurzen Watsche für den abwesenden Botschafter Daniel Coats, dem an der "Bekräftigung der ideologischen Position der Regierung" wohl mehr liege als daran, die Interessen seines Landes als Diplomat nachzukommen, gab es "große Literatur". Die Schriftstellerin wandte sich mit einer philosophisch-literarisch grundierten Analyse des transatlantischen Verhältnisses, der Beziehungen zwischen den einstmals "neo-europäischen" Vereinigten Staaten und den heute so anti-amerikanisch tönenden "alten Europäern" an die Zuhörer. Die amerikanische Demokratie, deren Gründungsmythos gerade den Bruch mit dem als rückschrittlich betrachteten alten Kontinent beruhe, werde von Europa aus als das neue Barbarentum eines forcierten Wirtschaftsimperialismus gesehen, während die USA sich heute nachgerade als Verteidiger der Zivilisation begriffen – etwa im Kampf gegen den Terrorismus. Dabei schauten sie etwas geringschätzig auf Europa und seine verwöhnte, allzu friedfertige Bevölkerung. Ausgerechnet dem Deutschland, das ein Jahrhundert lang solche Schrecken über die Welt gebracht habe, würde man heute Pazifismus vorwerfen!

    Das, mit einem Seitenhieb auf die "imperialistische Tendenzen" der Bush-Administration, wars auch schon in Sachen USA-Kritik. Nicht umsonst hat die Friedenspreisträgerin einen Großteil ihres Lebens damit verbracht, polarisierende Denkweisen zu entmystifizieren. In einer steilen Volte kehrte die Friedenspreisträgerin den Gegensatz "neu" gegen "alt" gegen die politischen Kontrahenten und beschwor seine Überwindung.

    Und dann sprach Susan Sontag als Literatin, und von sich selbst, also darüber, wie sie zur 'femme des lettre’ geworden sei: durch die europäische Literatur. Durch exilierte europäische Literaten und Denker, die sie in früher Jugend in Amerika getroffen hatte. Durch die Erfahrung, dass der Austausch der Literaturen durch die Jahrhunderte das Bett bildet, in dem der Strom der Verständigung heute nur fließen kann. Der Zugang zur Weltliteratur hat Susan Sontag bedeutet, als Intellektuelle dem Zwang zur nationalen Eitelkeit nicht zu erliegen. Literatur war und ist der Pass in die Sphäre der Freiheit.