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Die Frisuren müssen die Ohren bedecken

Alle vier Jahre begeben sich die Menschen im niederbayerischen Landshut auf eine Zeitreise ins Mittelalter. 2400 Landshuter schlüpfen dann in kostbare Kostüme und verwandeln sich in Mägde, Narren und Landsknechte. Für die Vorbereitung des Spektakels braucht es einen langen Atem.

Von Susanne Arlt |
    Seit acht Uhr früh hält Magdalena Bleichner auf dem Bürgersteig in der Landshuter Innenstadt Wache. Die 89-Jährige hat es sich auf einem ausklappbaren, weißen Plastikstuhl bequem gemacht. Ihre Hände stecken in selbstgestrickten Fäustlingen, eine karierte Wolldecke hält ihre Beine warm.

    "Na, weil das in der Früh so kühl war und wenn man nicht früh genug dran ist, dann hat man keinen Platz mehr."

    Sie zeigt auf die acht anderen weißen Plastikstühle, die links und rechts neben ihr stehen - wie an einer aufgereihten Perlenkette. Diese Plätze seien für ihre Kinder und Enkelkinder reserviert, erklärt die 89-Jährige. Und damit niemand auf die verwegene Idee kommt, die Stühle einfach mitzunehmen, hält ein rotes Band die improvisierte Sitzbank zusammen. In wenigen Stunden bekomme man hier kaum noch einen Steh-, geschweige denn einen Sitzplatz, sagt Magdalena Bleichner. Hunderttausend Menschen säumen dann die Gehsteige, um das Landshuter Hochzeitspaar mit seinem Gefolge willkommen zu heißen.

    "Ohne dem geht es doch nicht, das müssen wir doch gesehen haben. Immer wieder ist das doch schön. Einfach ein Original, so was sieht man ja sonst nimmer aus dieser Zeit."

    Alle vier Jahre begeben sich die Menschen in der niederbayerischen Stadt auf eine Zeitreise ins Mittelalter. 2400 Landshuter schlüpfen dann in kostbare Kostüme und verwandeln sich in Mägde und Pagen, Narren und Landsknechte. Auf den Straßen und Gassen der altgotischen Stadt begegnet man in dieser Zeit nicht nur Touristen, sondern auch Edeldamen, die in prächtige Gewänder aus Samt, Seide und Brokat gehüllt sind. Und Fürsten tragen statt Lederhosen Strumpfhosen.

    "Es ist, glaube ich, das Fest, das am größten aus der Quellenliteratur leben kann. Es gibt halt exzellente Beschreibungen von dieser Veranstaltung und das ist ganz was Besonderes, was wenige Städte haben. Viele betrachten uns als eben gespieltes Museum."

    Am Rande der Landshuter Altstadt entsteht ein mittelalterliches Dorf, das Einblick in das damalige Leben gewähren soll. Musiker spielen auf mittelalterlichen Instrumenten. Auf dem Turnierplatz präsentieren Soldaten, Reiter und Ritter ihre Kampfkünste. Im Rathaus wird ein Tanzspiel aufgeführt. Höhepunkt der Feierlichkeiten ist schließlich der pompöse Einzug des Brautpaars mit seinem Gefolge. Und damit sich der kostspielige Aufwand auch lohnt, wird die Hochzeit nicht nur an einem, sondern gleich an vier Wochenenden nachgespielt.

    Eine Hochzeit aus dem Jahr 1475 dient dem Ganzen als Vorlage. Damals wurde der 20-jährige Herzog Georg von Bayern-Landshut mit der 18-jährigen polnischen Königstochter Hedwig verkuppelt. Allerdings geriet das Paar bald in Vergessenheit, weil es keinen männlichen Nachfahren hatte. So starb die Landshuter Linie aus und die Münchner rissen sich erst das Teilherzogtum und dann ganz Bayern unter den Nagel. Erst vier Jahrhunderte später sollten sich die Landshuter wieder an das glorreiche Ereignis erinnern.

    Ernst Pöschl ist Vorsitzender der "Förderer". Vor 110 Jahren haben Landshuter Bürger den Verein gegründet, um die Hochzeit von 1475 in Erinnerung zu halten. In diesem Jahr findet das Fest zum 40. Mal statt.

    "Mir sagen in Landshut, das ist so ein bisschen ein Virus, den man dann intus hat."

    Alles soll so authentisch wie möglich aussehen. Männer lassen sich schon anderthalb Jahre vorher die Haare auf Mittelalterlänge wachsen. Das heißt: Ihre Frisuren müssen die Ohren bedecken.

    "Also ich züchte jetzt schon zwei Jahre, damit ich da die entsprechende Haarlänge zusammenbringe."

    Ludwig Bichlmaier, Leiter der Stadtbücherei, Ende 50. Seine Ausdauer hat sich gelohnt. Die schulterlangen, schlohweißen Haare hat er sich zu einem Zopf zusammengebunden. Das lässt sein schmales, blasses Gesicht noch hagerer wirken. Er löst das Haargummi, fährt sich mit der Hand durch das offene Haar, schüttelt wild den Kopf und grinst dann von einem Ohr zum anderen.

    "Wenn ich es so habe, schon lang oder? Schaut ein bissel nach Penner aus. Mei, jetzt sind sie ja noch so zusammengedetscht, gell, durch das Zusammenbinden. Aber wenn ich die frisch gewaschen habe, da sagen Sie, ich käme mit einem Heiligenschein daher."

    Ludwig Bichlmaier wollte eigentlich nie wirklich dabei sein. Höchstens als Zaungast. Manch Einheimischer hält die Landshuter Hochzeit für das Allerwichtigste in der Stadt. Bichlmaier gehört nicht dazu. Es gebe auch andere interessante Kulturveranstaltungen, betont der Bibliothekar. Vor vier Jahren hat er sich trotzdem zum ersten Mal für die Hochzeit beworben. Seine elfjährige Tochter wollte unbedingt mitmachen. Als Laienschauspieler und Sänger sind sie in der Gruppe des fahrenden Volkes untergekommen.

    Bichlmaier spielt einen Wunderheiler, der mit lateinischen Sprüchen Kranke von ihren Leiden erlöst. Der Reiz und die Faszination der Landshuter Hochzeit lägen im Spiel und im Gemeinschaftserlebnis, sagt er und bindet sein schütteres Haar wieder zu einem Zopf.

    "Das gibt einen Zusammenhalt unter den Einwohnern, unter den Bürgern. Da werden Verbindungen geschlossen, da spielt es keine Rolle, was der einzelne tatsächlich im Leben ist, ob das der Bankdirektor ist oder der Straßenkehrer."

    In der Stadtbücherei sitzt ein Stockwerk tiefer Lisa Gusel. Die Bibliotheksassistentin arbeitet in der Ausleihe. Im Gegensatz zu Ihrem Chef Bichlmaier ist Lisa Gusel eine Art Urgestein der Landshuter Hochzeit. Seit fünf Jahrzehnten macht sie mit. 1962 spielte sie die Tochter des aufsässigen Ratsherren Röckl, den ihr Vater darstellte. Heute macht sie beim Ratsgesinde mit. Nur ein einziges Mal habe sie aussetzen müssen, erzählt sie. Wegen ihrer schulischen Leistungen hatten die Eltern sie auf ein Internat geschickt. Das sei ihr eine Lehre gewesen, erinnert sich die 59-Jährige.

    "In jüngeren Jahren hätte ich mir gar nicht vorstellen können nicht mitzumachen. Das war für mich auch ein Grund nicht aus Landshut wegzuziehen. Da hat sich wirklich alles auf diese Landshuter Hochzeit fokussiert im Leben. Und das geht vielen so, also aus meiner Generation."

    Die Veranstalter der Landshuter Hochzeit haben eine besondere Liebe zum Detail. Die Kostüme wurden nach alten Vorlagen geschneidert. Ein Ehepaar aus Landshut reiste darum quer durch Europa und machte Fotos von gotischen Altarbildern. Obwohl der Einsatz ehrenamtlich und mühevoll ist, gibt es jedes Mal mehr Bewerber als Rollen. Stefan Härtl weiß davon ein Lied zu singen. Der Deutschlehrer ist schon sein halbes Leben Mitglied im Vereinsvorstand der Förderer und inzwischen Chef des Besetzungsausschusses. Mit seinem fünfköpfigen Team entscheidet Härtl, wer mitmachen darf und den Ansprüchen der Förderer genügt - und wer eben nicht.

    "Keine Haarverlängerungen, also alles so nicht passt. Keine Ohrringe, keinen modischen Schmuck, kein Piercing, keine lackierten Fingernägel, das gibt es alles nicht. Alles, was nicht authentisch ist."

    Alles läuft nach genauen Vorgaben ab. Und am Ende entscheidet oft das Los. Bei diesem Thema sind in Landshut aber auch andere Stimmen zu vernehmen. Sie sprechen von Vitamin B oder gar Vetternwirtschaft. Stefan Härtl schüttelt den Kopf und schaut fast ein bisschen gekränkt aus.

    Das mittelalterliche Dorf befindet sich am Rande der Altstadt. Ein hüfthoher Bretterzaun trennt das Mittelalter von der Neuzeit. Normalsterbliche dürfen das Lagerleben nicht betreten – der authentische Eindruck wäre ja dahin. Nur von außen gucken ist erlaubt. Zum Beispiel wie die Zünfte leben oder die Zigeuner in Zelten hausen, die Fürsten dinieren oder die Köche in der herzoglichen Hofküche das Essen zubereiten. Johann Wörner steht begeistert vor dem Zaun. Der Münchner findet es gut, dass am alten Brauchtum festgehalten wird. In Landshut könne man Geschichte hautnah nacherleben, lobt er.

    "Das ist eigentlich schön, dass man die unserer Jugend wieder in Erinnerung bringt. Dass nicht alles aus der Konserve und aus dem Tetrapack kommt, sondern dass es früher auch mal was anderes geben hat, auch. Die lila Kuh haben wir bis heute nicht auf den Weiden, sondern die Milch kommt noch immer vom Euter."

    So richtig Spaß macht die Landshuter Hochzeit eigentlich erst, wenn man Fürsten, Knechte oder Mägde persönlich kennt. Dann darf man auch als Zaungast ein bisschen am mittelalterlichen Leben teilnehmen. Und kommt in den Genuss, in eine Brotschnitte mit warmen Rinderbraten zu beißen. Der Gönner stellt sich als Wurscht-Sepp vor. Ein Metzger aus der Zunft. Im wahren Leben ist Sepp Ortmaier Sportreporter beim ZDF gewesen. 34 Jahre lang war er im Exil, sagt er und hängt sich bei Lisa Gusel ein.

    "Ich habe in der Zeit natürlich nicht mitgemacht, das war brutal (lacht). Weil, darf ich das sagen, eigentlich machen wir das Fest nur für uns. Und laden euch dazu ein. Ja, das ist auch kein schlechter Aspekt."

    Weit über das mittelalterliche Lager hinaus hört man in diesen Tagen und Nächten den Begrüßungsruf der Landshuter Hochzeit.