Natur in der Stadt (3)
Die Gärten von Paris

So sehr sich das Leben in der französischen Hauptstadt auf den Boulevards abspielt, so sehr ist es doch geprägt von den Gärten der Stadt. Einst Ausdruck der Macht verwandelten sie sich im 19. Jahrhundert zu grünen Repräsentanten der Grande Nation.

Von Hans von Trotha |
Luftaufnahme des Jardin du Luxembourg im 06. Arrondissement von Paris
Bei der Entstehung der großen Metropolen im 19. Jahrhundert wurden auch die Gärten neu gedacht - sie waren nicht länger nur Teil von begüterten Landsitzen, sondern sollten der Verbesserung des Stadtklimas und der Erholung dienen. (IMAGO / Depositphotos / pascalegueret)
Für den Philosophen Walter Benjamin war Paris die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Gestalt verliehen hat ihr aber erst der von Napoleon III. im Jahr 1853 ernannte Präfekt des Département de la Seine, Georges-Eugène Haussmann. In die verwickelte Stadtstruktur, in der Dörfer und Gemeinden zusammengewachsen waren, ließ er tiefe Schneisen schlagen, schaffte jene Boulevards und kilometerlange Sichtachsen, die das Paris, wie wir es kennen, bis heute prägen.
In Haussmanns Generalumbau der französischen Hauptstadt spielten Gärten - zur Erholung für Arbeiter im Osten bis hin zu den Flaniergärten im noblen Westen - eine zentrale Rolle, und auch jene Achsen und Schneisen folgen der Logik der französischen Gartenarchitektur. In den Gärten erfindet die bürgerliche Gesellschaft kunst- und effektvoll ihre Beziehung zur Natur.
Hans von Trotha hat mit einer Arbeit über die Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Philosophie und Gartenkunst im 18. Jahrhundert promoviert. Zehn Jahre hat er einen Verlag geleitet, genauso lange die Berlinale beraten. Heute lebt er als freier Publizist in Berlin und ist Autor zahlreicher Bücher, darunter Im Garten der Romantik (Berenberg) und zuletzt der Roman Pollaks Arm (Wagenbach) sowie die Essays Die große Illusion (über den Neubau des Berliner Schlosses, Berenberg) und Der französische Garten rund um Paris (Wagenbach).

Am 10. Fructidor des Jahres VIII unternimmt Madame Bonaparte gemeinsam mit ihrem Gatten einen Ausflug. Ziel der Landpartie ist Ermenonville, der Landsitz des Marquis de Girardin. Der hatte seinen Park, inspiriert durch die Schriften Jean‑Jacques Rousseaus, als unregelmäßige Landschaft gestaltet, ihm also kunstvoll den Anschein von Natürlichkeit verliehen, statt Figuren der Geometrie anzuwenden, wie seit Jahrhunderten in Gärten üblich. Während Monsieur eher an den philosophischen Hintergründen interessiert sein wird, hat Madame vor allem die Gestaltung selbst im Blick.
Derselbe Sachverhalt ließe sich auch so erzählen:
Am 28. August 1800 fuhr Napoleon Bonaparte, noch nicht Kaiser, aber schon Erster Konsul der Franzosen, zusammen mit seiner Frau Joséphine über Land von Malmaison in das knapp 60 Kilometer entfernte Ermenonville. Gut möglich, dass Joséphine als Anhängerin eines Gartenstils, der in den vorangegangen drei Jahrzehnten von England aus auf den Kontinent übergegriffen hatte, ihren Mann mit dem Besuch der künstlichen Landschaft von der Schönheit und Originalität dieser Art der Naturinszenierung überzeugen wollte. Schließlich sind Gärten Orte, die unmittelbar auf die Sinne wirken. Bevor wir nachdenken, haben sie schon eine unwillkürliche Reaktion provoziert, wie es zum Beispiel – wir sind in Frankreich – bei einem besonders intensiven Geschmackserlebnis der Fall ist. Gärten überzeugen weniger durch ihre Darstellung im Plan oder auf einem Bild oder durch eine philosophische Erläuterung als durch den Eindruck, den sie auf uns machen, durch Wirkungen auf die Sinne, durch ihre Ausstrahlung im Gelände.
In Malmaison gab es eheliche Meinungsverschiedenheiten über die Gestaltung der Außenanlagen. Das Anwesen war auf Joséphines Wunsch hin akquiriert worden. „Ich überlasse es dir, weil ich weiß, dass es dich glücklich macht“, hatte Napoleon zu seiner Frau gesagt, um mit Blick auf den Garten hinzuzufügen: „Aber jetzt, da es gekauft ist, lass es nicht abreißen, um stattdessen ein paar Felsen aufzustellen.“
Wahrscheinlich kannte Napoleon die Anekdote, nach der der Maler Claude-Joseph Vernet angesichts der von seinem Kollegen Hubert Robert gestalteten künstlichen Felsen in einem der Boskette im Park von Versailles ausgerufen haben soll: „Wenn Ludwig XIV. das hier gefunden hätte, was hätte er für ein Geld ausgegeben, um es fortzuschaffen!“
Das geometrische französische und das die Unregelmäßigkeit feiernde englische Modell der Gartengestaltung repräsentieren beide, jedes auf seine Weise, das zerrissene 18. Jahrhundert. In keinem Land sind sie so kompetitiv aufeinandergestoßen wie in Frankreich. Die europäische Gartenkunst der Neuzeit hatte sich während der Renaissance zunächst in Italien herausgebildet und von dort aus über ganz Europa verbreitet. Seit einer Art Neuerfindung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts galt der Kunstgarten als französische Kulturleistung schlechthin (die Küche kam erst nach der Revolution dazu, als zahllose Spitzenköchinnen und -köche aus den aufgelösten adeligen Haushalten mehr oder weniger öffentlich zu kochen begannen). Den Status als prägende Gartennation ausgerechnet an Großbritannien zu verlieren, wurde in Frankreich als Demütigung empfunden. Entsprechend fand der genealogische Mythos, der nicht‑formale Landschaftsgarten stamme gar nicht aus England, sondern aus China, vor allem in französischen Kreisen Gehör. Das lässt sich als eine Art Abwehrstrategie in einem Kulturkampf interpretieren, der sich hinter französischen Hecken, zunehmend auch jenseits von unsichtbaren Grenzgräben, vor allem aber in einer aufblühenden Gartenpublizistik abspielte.
Wenn im Folgenden vom Garten die Rede ist, dann als Kunstwerk und als einem Medium, in dem eine Gesellschaft ihr Verhältnis zur Natur formuliert. Gemeint sind also weniger Nutz- oder Bauerngärten, obwohl viele von ihnen den sich ändernden ästhetischen Gesetzmäßigkeiten gefolgt sind, um die es gehen wird. Mit dem Begriff Park ist dagegen jeweils eine konkrete Anlage gemeint, eine Manifestation der Gartenkunst an einem bestimmten Ort. Beide Begriffe haben denselben etymologischen Hintergrund. Sie verweisen auf das, was alle Gärten aller Zeiten und Kulturen gemeinsam haben: die Grenze zu ihrer Umgebung. Garten geht auf das indogermanische gher oder ghortos zurück, das einen abgrenzenden Zaun bezeichnet, Park (wie auch Paradies) auf ein altpersisches Wort für ein eingehegtes königliches Jagdgelände.
In der populären Gartengeschichtsschreibung hat sich die griffige Erzählung etabliert, der Französische Garten repräsentiere mit seiner zentralistisch ausgerichteten Geometrie eine Unterjochung von Natur und Mensch, während der Englische Garten mit seinen gewundenen Wegen und für sich stehenden Bäumen eine Verbeugung vor der natürlichen Freiheit aller sei. Dabei handelt es sich um eine nachträgliche Interpretation, eine politische Aufladung von Entwürfen, die ursprünglich philosophisch und ästhetisch begründet wurden. Politische Systeme sind niemals stark genug, die Haltung der Künste zur Natur, überhaupt zur Welt zu formen (es sei denn, sie fordern es brachial ein). Sehr wohl aber sind sie imstande, erfolgreiche neue künstlerische Medien zu überformen, sie propagandistisch zu nutzen und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das ist dem Garten im 17. und 18. Jahrhundert widerfahren. Dass der Garten derart ernst genommen wurde, ist ein Hinweis auf seine gesellschaftliche Bedeutung. Schließlich kommt im Garten das Verhältnis einer Zeit zur Natur zum Ausdruck, ein Verhältnis, das alle Belange des menschlichen Lebens prägt. Dessen war man sich im 16., 17. und 18., auch noch im 19. Jahrhundert bewusst. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist dieses Bewusstsein weitgehend abhandengekommen. An dessen Ende, vollends nach der Jahrtausendwende, ist es zurückgekehrt, allerdings in eine Welt, in der sich Status und Bedeutung dessen, was wir die Natur nennen, dramatisch verändert haben. War Natur früher einmal eine Kraft, vor der der Mensch (nicht zuletzt im Garten) Schutz suchte, so wurde sie im Lauf der Jahrhunderte von einem zu erobernden zu einem gestalteten, zum ausgebeuteten und am Ende zum dringend schutzbedürftigen Raum. Am Ende steht die Frage, was ein Garten als Kunst heute überhaupt noch sein kann, was er angesichts einer in ihrer schieren Existenz bedrohten Natur noch darf, wie viel Spielraum für Ästhetik und Gestaltung jenseits von Maßnahmen zum Schutz der Natur noch bleibt.
Zum führenden Gartenland Europas wurde Frankreich im Barock. Der Barockgarten à la française ist zunächst nicht in königlichem Auftrag modelliert worden. Er ging in Vaux-le-Vicomte aus der ehrgeizigen Selbstinszenierung eines Ministers hervor und wurde dann in zweiter Generation in Versailles zum Modell des gesellschaftlichen Absolutismus umgewidmet. Das Modell wurde in ganz Europa kopiert, das ästhetische wie das politische. Die ersten nicht-geometrischen Landschaftsgärten in England verstanden sich als Feldversuche von Schriftstellern und Philosophen auf dem tastenden Weg zu einem neuen Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Wie zuvor der Barockpark erwies sich dieses neue Gartenmodell schnell als schlagender Ausdruck dessen, was man den Puls der Zeit nennen könnte. Und so bot sich auch dieser neue Garten an, mit politischen Botschaften aufgeladen zu werden. Diese ergaben sich in Großbritannien aus dem Widerstand gegen die eigenen Hannoveraner Könige und ihre Regierungen, aber auch aus der Dauerrivalität mit Frankreich. Letzteres zeigte sich in seinen Gärten so herrisch, zentralistisch und rückständig wie in seinem politischen System, so das Narrativ.
Der Vorwurf lautet bis heute, Französische Gärten seien unnatürlich und gekünstelt. Sieht man genauer hin, zeigt sich allerdings, dass diese Parks vor allem Grün und Wasser kultivierten, während die inszenierten britischen Landschaften mit Gebäuden und Architekturattrappen zugestellt waren. Die um diese Staffagebauten angelegten Kunstlandschaften wurden bald als Emblem des Aufbruchs in die Aufklärung und in eine moderne Gesellschaft der bürgerlichen Freiheiten gefeiert. Dabei waren es fast ausschließlich reiche Adelige, die sich dieses Gartenmodell leisten konnten und sich zudem für dessen Kultivierung viel Land aneigneten, das sie dann nach ihren ästhetischen Ideen umpflügten. Basis und Botschaft eines Gartens sind bisweilen widersprüchlich.
Aus französischer Sicht ist es nachvollziehbar, dass man die Urheberschaft der grundlegenden Erneuerung einer Kunstform, die bis dahin klar der Grande Nation zugeordnet war, ungern dem Erzrivalen jenseits des Kanals zuerkennen wollte. Eine Verlagerung des Ursprungs der Idee nach China ließ sich relativ einfach behaupten. Das Land war so weit weg, dass sich Details kaum überprüfen ließen. Immerhin wusste man aus Reiseberichten, dass chinesische Gärten nicht geometrisch gestaltet zu sein schienen. Außerdem war Chinoiserie in der Architektur, vor allem bei der Innenausstattung, aber auch im Garten zur Zeit des Barock und danach in Wellen immer wieder en vogue. Französische Aufklärer wie Voltaire erkannten in dem großen alten Reich am anderen Ende der Welt ein ideales Gesellschaftsmodell, weil es ohne Adel und ohne monotheistische Religion auszukommen schien. Einzelheiten über die tatsächlich dort herrschenden Lebensverhältnisse waren in Europa kaum bekannt.
Schon 1750 bemerkte der englische Schriftsteller Horace Walpole: „Die Franzosen haben neuerdings unseren Stil in Gärten angenommen, aber da sie lieber entfernteren Nebenbuhlern verpflichtet sein wollen, so leugnen sie uns das halbe Verdienst oder vielmehr die Originalität der Verbindung ab, indem sie die Entdeckung den Chinesen zuschreiben und unseren Geschmack in der Gartenkunst le Goût Anglo-Chinois nennen.“ Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, setzt Walpole hinzu: „Ich glaube …, dass dies ein Irrtum ist.“ Bei genauerer Prüfung der Quellenlage dürfte Walpole mit seiner Vermutung richtig gelegen haben. Die Behauptung, neben architektonischen und dekorativen Details sei die Neuausrichtung des Mediums Garten aus China nach Europa gekommen, hält einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand. Zwar gab es in China immer schon nicht-formale Gartenanlagen, wenn man so will also: Landschaftsgärten. In Europa wurden sie im Detail allerdings erst bekannt, als das Konzept des Englischen Gartens längst formuliert und erprobt war. Von den vielfältigen philosophischen und weltanschaulichen Hintergründen, für die der europäische Landschaftsgarten als Englischer Garten nachweislich steht, war in China damals nicht die Rede. Tatsächlich finden sich immer wieder chinesische Gebäude in Englischen Gärten, sei es in England selbst, in Deutschland oder eben in Frankreich. Sie stehen aber immer gleichberechtigt oder nachgeordnet neben Repräsentanten anderer Kulturen, vor allem der Antike und des europäischen Mittelalters, sind also kein Ausweis einer genealogischen Herkunft. Die literarischen Quellen schließlich, auf die immer wieder verwiesen wird, wenn es darum geht, den chinesischen Ursprung des Landschaftsgartens zu belegen, sind fast alle einem breiteren Publikum erst bekannt geworden, als der Landschaftsgarten in Europa als Englischer Garten bereits seinen Siegeszug angetreten hatte. Nur in Frankreich tat er dies zeitweise unter dem Label jardin anglo-chinois.
Die jeweilige Façon, Gärten zu gestalten, ist immer mehr gewesen als bloße Mode. Natürlich handelt es sich bei jedem Garten zunächst einmal um den individuellen Entwurf von Einzelnen. In der ordnenden Übersicht des historischen Rückblicks erweisen sich diese vielen konkreten Manifestationen der Kunstform Garten vor allem als Ausdruck eines Zeitgeists. Es sind Zeugnisse der weltanschaulichen Grundhaltung einer Epoche. Da der Blick auf die Welt sich verändert, verändern sich mit ihm die Gärten. Das geschieht in Schüben. Und so kann man eine Ideengeschichte des Umgangs der europäischen Künste mit der Natur als Geschichte der Gärten erzählen, zumal die grundsätzlichen Veränderungen im Garten sich jeweils in ganz Europa beobachten lassen. Dem Renaissancegarten à l’italianità folgte im Barock überall in Europa der formal-geometrische Französische Garten. Der wurde in England nach 1720, auf dem Kontinent nach 1760 vom Modell des pseudo-natürlichen Landschaftsgartens abgelöst. Wobei abgelöst für Frankreich nicht ganz die richtige Formulierung ist. Englischer und Französischer Garten sind hier eine Art andauernden Wettstreit eingegangen. Bis in unsere Tage hält sich in der französischen Gartenkultur das, was auf der politischen Pariser Bühne cohabitation genannt wird – ein Euphemismus für den Widerstreit zweier unterschiedlicher Lager in führender Verantwortung.
In den Jahrhunderten, von denen hier die Rede ist, waren Menschen und Gesellschaften in Europa noch weit von dem Bewusstsein entfernt, dass Beherrschung und Ausbeutung kein zukunftsfähiges Modell im Umgang mit der Natur sind. Die Gärten sind in diesem Zusammenhang aufschlussreich, weil sie jenseits gesellschaftlicher Konventionen im repräsentativen Alltag immer auch ein Verhältnis zur Natur ausformulieren. Im rücksichtslosen Ausbeuten spiegelt sich das Verhältnis europäischer Gesellschaften zu den Gesellschaften anderer Weltregionen wider: die in einer eurozentrisch wahrgenommenen Welt vorherrschende, ganz selbstverständlich eingenommene Perspektive des Kolonialismus. Während die entsprechenden Gärten wie die Gesellschaften, die sie hervorgebracht haben und die sie repräsentieren, strukturell auf dem vorherrschenden kolonialistischen Blick aus Europa in die Welt gründen, erweisen sich einige von ihnen in ihrer Gestaltung und in der ihr jeweils zugrundeliegenden Philosophie als erstaunlich unabhängig von diesem Blick. Die europäischen Gärten des 16., 17. und 18. Jahrhunderts zeigen sich trotz der brutalen kolonialistischen Praktiken der herrschenden Regime nicht selten als Orte, an denen sich eine bisweilen überraschende Offenheit für die Welt und damit für andere Kulturen zeigt. Diese philosophische Orientierung stand nicht selten im krassen Widerspruch zu der Tatsache, dass die Anlagen erst durch Einkünfte aus dem Sklavenhandel, Militärkarrieren oder der Ausbeutung von Kolonien möglich wurden. Die Botschaft entfernt sich im Garten mitunter erstaunlich weit von den Grundlagen des Mediums. Die Gartenkunst als solche aber, der Garten als Medium ist zumindest in einer Hinsicht nie ganz zum Instrument einer kolonialistischen Weltsicht geworden: Es war immer anerkannt und unwidersprochen, dass Gärten anderer Kulturen, der Chinas etwa, Persiens oder Arabiens, europäischen Standards mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen waren. Nur unter dieser Prämisse war der Versuch einer genealogischen Verschiebung des Ursprungs der Idee eines Landschaftsgartens aus England nach China möglich.
Während sich der Garten als Kunstform in Europa von der Renaissance bis ins frühe 19. Jahrhundert jenseits aller gesellschaftspolitischen Hintergründe und repräsentativen Funktionen als poetisches Medium im Spannungsfeld von Philosophie, Malerei, Literatur, Architektur und Botanik interpretieren lässt, wird er im Zweiten französischen Kaiserreich von 1848 bis 1871 immer unverhohlener zur politischen Manifestation der Regierenden und zum Instrument einer autoritären Manipulation. Zwar weisen die Gärten der Renaissance, des Barock und der Aufklärung den Einzelnen, die sich in ihnen bewegen, neben einem bestimmten Ort in der Natur auch einen in der Gesellschaft und gegenüber der Obrigkeit zu. Das ist aber nicht ihre wichtigste Funktion und nicht die vorherrschende Aussage, obwohl so mancher Renaissancefürst, Barockpotentat oder Nabob seinen Garten in diesem Sinn einzusetzen versucht hat. Es lohnt sich, die späteren Instrumentalisierungen von den ursprünglichen Intentionen des Mediums zu trennen, wenn man einzelnen Anlagen gerecht werden möchte.
Die Entstehung der großen Städte im Verlauf des 19. Jahrhunderts führte zu einer grundsätzlichen Veränderung der Funktion von Gärten für die Gesellschaft. Traditionell entstanden die großen Gartenentwürfe auf dem Land. Seit der Wiederbelebung der römisch-antiken Villentradition, der villeggiatura in der italienischen Renaissance, waren Gärten fester Bestandteil einer europäischen Kultur des Landsitzes. Ihre unmittelbare Umgebung war die Natur, die sie spiegelten. Die ihnen zugrundeliegenden Konzepte entstanden in der direkten Auseinandersetzung mit der Landschaft. Das war bei der Gestaltung privater Landsitze weiterhin der Fall. Die Industrialisierung und die Entstehung der Metropolen brachte aber darüber hinaus eine innerstädtische Gartenkultur hervor, die neu entstehenden Bedürfnissen entgegenkam und ganz andere Aufgaben übernehmen musste. Diese Parks sollten zur Verbesserung des Stadtklimas beitragen, ein entstehendes Bürgertum ruhigstellen und körperlich schwer belasteten Arbeitskräften etwas Erholung verschaffen. Es stellte sich außerdem heraus, dass sie die Immobilienpreise in der unmittelbaren Umgebung drastisch in die Höhe zu treiben vermochten. Es waren Anlagen, die dem entstehenden öffentlichen Raum für neue Gesellschaftsschichten Gestalt verliehen, nicht mehr ästhetische Statements privater Grundherren auf dem Land im direkten Austausch mit der Natur. Letztere verloren ihre Funktion in der öffentlichen Wahrnehmung. So war es letzten Endes konsequent, dass dem Publikum zunehmend der Zutritt verwehrt wurde, nachdem die Außenanlagen der Landsitze bislang als Argumente im ästhetisch‑gesellschaftlichen Diskurs in der Regel allgemein zugänglich waren, wenn auch manchmal unter Auflagen. Das galt jetzt nur noch für die öffentlichen innerstädtischen Parks. Und die antworteten in ihrer Ästhetik nicht mehr auf eine natürliche Umgebung, sondern auf die Architektur der Stadt. Aus Landschaftsgärtnern wurden Gartenarchitekten (tatsächlich war die Gartengestaltung damals noch fast ausschließlich eine Domäne von Männern). Dabei veränderte sich die ästhetische Sprache dieser Gärten zunächst nur geringfügig. Die Grundformen der Gestaltung blieben dieselben. Sie wurden in die Strukturen des Städtebaus integriert. Das ging mit einer politischen Instrumentalisierung einher. Waren die privaten Landsitze individuell gestaltete Orte der ästhetischen Kommunikation in der Begegnung mit der Natur, wurden die innerstädtischen Grünflächen dagegen ein unmittelbares Instrument der Politik und der manipulativen Kommunikation. „Das Paris des Zweiten Kaiserreichs hat seine Monumente, Gärten und schönen Boulevards als Sitz politischer, ökonomischer und kultureller Macht definiert“, resümiert Esther da Costa Meyer 2022 in einer umfassenden Studie zum Umbau von Paris mit dem Titel Dividing Paris. Urban Renewal and Social Inequality, 1852–1870. Sie erinnert daran, dass Paris damals „die Hauptstadt eines kaiserlichen und imperialistischen Frankreich“ war und „Napoleon III. aggressiv versucht hat, bisweilen mit desaströsen Folgen, den geo-imperialen Anspruch des Regimes auszudehnen“. Dabei beobachtet Esther da Costa Meyer: „Im Paris des Zweiten Kaiserreichs war das ein beständiges Anliegen; Staat und Kommune arbeiteten unermüdlich daran, bestimmte Veränderungen sichtbar zu machen – Boulevards, Parks, Plätze – und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass andere Eingriffe unsichtbar blieben, vor allem solche, die die politische Strategie betrafen.“
Zwischen 1789 und 1871 (das ist übrigens ziemlich genau die Zeitspanne, in der sich der Englische Garten als Ausdruck einer gewandelten Haltung zur Welt in Europa durchsetzte) änderte die französische Nation im raschen Wechsel mehrfach ihre Staatsform: vom Königreich von Gottes Gnaden über eine revolutionäre Republik, eine Diktatur und ein Kaiserreich zu verschiedenen neuen Spielarten des Königtums, dann zurück zur Republik und noch einmal zum Kaiserreich. Jede dieser Varianten postrevolutionärer Staatsorganisation brachte ihre Repräsentation in den Künsten hervor: die Stile Empire, Louis XV, Louis XVI, Second Empire. Die unterschiedlichen Stile schlugen sich auch in den Gärten nieder, vor allem in der Hauptstadt und ihrer unmittelbaren Umgebung. Die Gärten erlebten hier in jener Zeit eine Metamorphose, der die Regierungs- und Regimewechsel jeweils neue Schübe verliehen. Vor allem der Revolution von 1848 und der daraus hervorgegangenen erneuten Etablierung eines Kaisertums folgte eine Umgestaltung der Stadt, die einem heute noch den Atem stocken lassen kann. Es war der Umbau einer wuchernden Großstadt ohne Struktur zur „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, wie Walter Benjamin sie nannte. Der Begriff wird von der jüngeren Forschung abgelehnt, die zu Recht darauf hinweist, dass das 19. Jahrhundert global betrachtet sehr viel mehr gewesen ist als das, was die um- und ausgebaute imperiale französische Hauptstadt repräsentierte. Als literarische Metapher für eine Erfahrung des Umbruchs, für einen Epochenwechsel und für die Bedeutung, die auf Paris als sich organisierende Metropole intellektuell, künstlerisch, kulturell, ökonomisch und städtebaulich projiziert wurde, taugt sie aber immer noch. In überraschendem Ausmaß wurden bei der Planung dieser neuen Stadt Ideen, Traditionen und Techniken der Gartenkultur instrumentalisiert. Die französische Hauptstadt begab sich mit London in eine Art Wettbewerb um den Status einer Gartenhauptstadt des 19. Jahrhunderts.
Ein Jahrhundert lang war Versailles so etwas wie die politische Hauptstadt Frankreichs gewesen. Hier residierten ab 1682 Krone und Regierung. Der Grundriss der Stadt ist aus dem Park hervorgegangen, an den sie anschließt. Versailles ist die systematische Verlängerung der Gartengestaltung in den Städtebau. Allerdings gab es einen organisierten Städtebau im größeren Stil damals noch nicht. Und die Gartengestaltung wurde im Verlauf des 17. Jahrhunderts in Frankreich auf gewisse Weise noch einmal neu erfunden. Dafür stehen Orte wie Vaux-le-Vicomte, Chantilly und natürlich Versailles.
Das Versailler Gesamtkunstwerk aus Park, Schloss und Stadt vor Augen, entwickelte der Jesuit und Pariser Hofkaplan Marc-Antoine Laugier angesichts der sichtbar werdenden Notwendigkeit einer Planung von Städten Mitte des 18. Jahrhunderts eine Art Fahrplan. Sein 1753 zunächst anonym erschienener Essai sur l’Architecture wurde in mehreren Auflagen und zahlreichen Übersetzungen zu einem der meistgelesenen Traktate des Jahrhunderts. Der Text integriert eine ordnende Vision von Architektur in die ordnende Vision einer geplanten Stadt. Das war das schiere Gegenteil des Bildes, das Paris damals abgab.
Die urbanistischen Visionen des Abbé Laugier atmen den Geist der französischen Gartengestaltung. Ausgangspunkt ist ihm die Natur. Damit folgt er der obersten Maxime seiner Epoche. In Laugiers Architekturtheorie finden die beiden widerstreitenden Ansätze des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts im Blick auf die Natur produktiv zu einem neuen Standard zusammen: Da ist auf der einen Seite die rationalistische Überformung der Natur nach Ideen der menschlichen Vernunft. Sie hatte im Französischen Garten ihren Ausdruck gefunden. Und da ist auf der anderen Seite der Versuch einer Nachschöpfung der Natur auf der Grundlage von ästhetischen Regeln, die man der Natur selbst abgeschaut zu haben meinte. Es entstand das Modell des Englischen Gartens.
Bei seiner Idee der Gestaltung der Stadt als Zusammenhang orientiert sich Laugier am Garten. Für einen Franzosen um die Mitte des 18. Jahrhunderts heißt das: an Anlagen wie der von Versailles, den Wäldern abgetrotzt, die damals weite Teile Frankreichs bedeckten. Ausdrücklich konstatiert Laugier nach einer kurzen Beschreibung des dysfunktionalen Pariser Straßengewirrs:
„Man muss eine Stadt betrachten wie einen Wald. Die Straßen von jener sind die Wege von diesem; und genau so müssen sie durchgehauen werden.“
Laugiers Beschreibung der idealen Stadt folgt dem Regelwerk des idealen Gartens. André Le Nôtre, auf den sich der Abbé beruft, hatte das Modell der italienischen Renaissance in den französischen Residenzen adaptiert, um es als Gesamtraumkunstwerk neu zu konstituieren. Dieser neue Garten war weit über seine repräsentativen Funktionen hinaus als künstlerisches Medium in der Lage, wichtige Prinzipien der Philosophie der Zeit, aber auch der Wissenschaft, der Künste und nicht zuletzt eines Gesellschaftsmodells zum Ausdruck zu bringen. Die komplex orchestrierte Klarheit der Geometrie, die Le Nôtre im großen Stil den Wäldern abrang, wünschte sich Abbé Laugier im wuchernden steinernen Wildwuchs aus schiefen Bauten, als den er die Großstadt im Norden von Versailles wahrnahm.
Der Mann, der sich schließlich in diesem Sinn selbst als eine Art Le Nôtre des Städtebaus betrachten sollte, hieß Georges-Eugène Haussmann. Er wurde genau 100 Jahre nach Erscheinen des Essai sur l’Architecture von Kaiser Napoleon III. zum Präfekten des Départements Seine ernannt. Damit war er der mächtigste Beamte in der Stadt, die er mit Hilfe des Kaisers und in dessen Auftrag umbauen sollte, nicht zuletzt nach den Vorstellungen des Abbé Laugier. Der Präfekt und sein Kaiser schlugen tatsächlich Schneisen in die Stadt, als sei sie ein Wald. So entstand das Paris, das wir kennen, aus dem Geist der Gartenkunst. Wobei die groß angelegte ästhetizistische Vision der Stadt als in Laugiers imaginären Wald geschlagene geometrische Struktur in Paris nicht wie in anderen Städten wie Versailles oder später Washington Planungsgrundlage war. Sie wurde nachträglich durch bewohnte Viertel gehauen. Dabei hat man nicht die geringste Rücksicht auf die sozialen Folgen für ein rasant wachsendes Großstadtproletariat genommen, das immer weiter an den Rand gedrängt wurde. Von dort wurden Arbeitskräfte dorthin gekarrt, wo sie zu Niedrigstlöhnen den Umbau der Stadt voranbringen mussten, der den Armen weiteren Lebensraum entzog. In seinen Memoiren bemerkt der Karrierebeamte Haussmann: „Ich ging unbeirrt den geraden Weg.“
Das galt nicht bloß metaphorisch. Die Schneisen, die er in die Stadt kerbte, erinnern daran, wie wörtlich er diese Devise beim Stadtumbau genommen hat.
Dieser Essay ist ein Auszug aus Hans von Trothas Buch „Der Französische Garten“, das im Wagenbach Verlag erschienen ist.