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Die Gefühle der Lagune

Vom früheren Fest der Kreativität ist beim Karneval in Venedig wenig geblieben. Bewohner der Lagunenstadt erinnern sich und erzählen, warum sie heute vor den Tourismusmassen fliehen – statt wie früher die ausgelassene Zeit zu genießen.

Von Cristiana Coletti | 10.02.2013
    Im Laufe meiner häufigen Reisen zwischen Italien und Deutschland wache ich so manches Mal an einem unschuldigen Vormittag in Venedig auf – verwundert, dass ich hier bin.

    Ich schaue aus dem Fenster meines Zimmers und beobachte den noch stillen, kleinen Kanal.

    Ein schimmerndes Licht skizziert undeutlich die Fassade eines Palazzo im Wasser, um sie dann schnell wieder zu löschen und neu zu zeichnen. Ein unendliches Spiel der Verwandlung. Ist es diese Undefinierbarkeit, die Venedig so anziehend für mich macht?

    Ohne Ziel lasse ich mich an diesem hellen, frischen Februarmorgen hineintreiben in den pulsierenden Verkehr der Transportboote, der Handwerker und Verkäufer, Studenten und Professoren. Der Menschen, die hier leben und arbeiten. Unbekannte oder Freunde, die ich auf meinem Weg wiederfinde. Wie hier auf dem Campo Santo Stefano.

    "Venedig ist die Stadt des Lichts. Aber das Licht ist nicht immer gleich im ganzen Jahr! Im Sommer ist die Landschaft oft wie verschleiert wegen der Feuchtigkeit. Im Winter, an einem schönen Februartag wie heute, sehen wir dieses klare Licht, diese wunderschönen Farben. Es ist unbeschreiblich am frühen Vormittag."

    Professor Romano Vedaldi und seine Frau Daniela Gaddo, bis vor Kurzem Inhaberin des bekannten Café Florian, das seit Generationen im Familienbesitz war, möchten mir ein Gesicht von Venedig zeigen, das sie ganz besonders lieben.

    Romano Vedaldi: "Man muss beim Sonnenaufgang auf die Ponte dell' Accademia laufen und schauen! Das Wasser im Canale Grande ist noch ganz ruhig, noch nicht aufgewirbelt von den vielen Booten und Vaporetti. Und das Licht! Die Sonne erhebt sich auf der Seite der Basilica della Salute. Du siehst sie aufgehen. Die Schatten sind länger und betonen die architektonischen Formen noch deutlicher und stärker, als wenn es ganz hell ist. Die Morgensonne und die Abendsonne sind schöner als die Mittagssonne, die alles einhüllt und im Dunst versteckt!"
    Daniela Gaddo Vedaldi: "Ja, Venedig im Februar ist schön. Es ist nicht mehr so kalt und feucht. Es gibt schöne Tage, und es sind nicht so viele Leute und Touristen unterwegs. Wir Venezianer können uns unsere Stadt für eine Weile wieder aneignen und sie erleben. Man versucht, wieder zu atmen … (lacht). Ich bin nicht begeistert von lauten Festen und Schabernack! Aber das ist meine Natur."

    Bunte Reflexionen im venezianischen Wasser
    Bunte Reflexionen im venezianischen Wasser (Cristiana Coletti)
    Auf der Flucht vor den Touristenmassen
    Die Stadt scheint aber auch im Februar einige Tage nicht den Venezianern zu gehören.

    "Heute bedeutet das für uns nur Chaos. Wir Venezianer hassen den Karneval. Viele von uns fliehen aus der Stadt! Die Schulen sind geschlossen und viele fahren in die Berge zum Skilaufen. Wir haben keine Lust mehr, Karneval zu feiern!"

    Elisabetta, Besitzerin einer der ältesten Wäschereien Venedigs, die sich noch auf die hochwertige Pflege kostbarer historischer Kostüme versteht, möchte mir erzählen, wie dieses Fest heute aussieht:

    "Man drängt sich auf der Via delle mercerie in einer Masse von Menschen. Polizisten zeigen den Weg. Man kann niemanden treffen, nichts sehen und nichts genießen. Die meisten tragen billige, importierte Masken. Das macht keinen Sinn mehr. Was für einen Sinn soll es haben, sich in einer Masse von Menschen zu bewegen?"

    In einer ruhigen Nebengasse treffen wir Stefania, eine venezianische Freundin, die uns daran erinnert, wie es früher war – Ende der 70er-Jahre, als es mit dem Karneval in Venedig wieder anfing. Eine Zeit, als die Venezianer die sozialen Spannungen wegen der Brigate Rosse und des Terrorismus überwinden wollten:

    "Man tanzte fröhlich den ganzen Nachmittag auf dem Markusplatz. Wir vergaßen sogar, zu essen und zu trinken. Die Straßen waren voll von jungen Venezianern und Venezianerinnen. Man musste nicht viel Geld ausgeben, um wie heute an einem sehr teuren Ball teilnehmen zu können. Es gab noch kein Business."

    "Ich erinnere mich an einen Karneval, der von der Compagnia de Calza de I Antichi auf der Piazza San Marco organisiert wurde. Sie hatten kleine, einfache Theater aus Holz mit einem weißem Vorhang gebaut. Genauso wie in der Tradition früherer Jahrhunderte. Und auf jeder Bühne wurden dann Szenen aus der Commedia dell´Arte gespielt. Das war für mich der schönste Karneval in Venedig!"

    Ein kleiner Kanal in der Lagunenstadt Venedig
    Ein kleiner ruhiger Nebenkanal der Lagunenstadt (Cristiana Coletti)
    Erinnerungen an ein Fest der Kreativität
    Wie Daniela Vedaldi vorschlägt, müssen wir vielleicht den Blick zurückwenden, um den verlorenen Sinn des venezianischen Karnevals zu begreifen. Stefania:
    "Der Sinn war, eine bestimmte Form der Unterhaltung zu finden. Eine kulturelle, aber auch ausschweifende Form der Unterhaltung. Im 18. Jh. blieb man stundenlang in den Theatern, wo man auch gegessen und getrunken hat. Oft wurden die Vorhänge einer Loge geschlossen, damit die Gäste dahinter heimlich flirten konnten. Während der Karneval zu meiner Zeit eher ein Fest der Kreativität war. An jeder Ecke gab es eine Überraschung: Jemand spielte Saxofon oder eine Gruppe inszenierte ein Schauspiel, das vielleicht wenige Monate später in London oder in Barcelona aufgeführt wurde. Alle kamen, um sich auszudrücken."

    Liegt es an den Touristen oder ist es eher der Geist des Karnevals, der heute den Venezianern fremd geworden ist? Warum dieses Fest nicht mehr gespürt und wirklich erlebt wird, erzählt mir Donata, Wahlvenezianerin seit Jahrzehnten:

    "Früher hatte die Fastenzeit eine große Bedeutung. Eine Zeit der Abstinenz als Vorbereitung auf Ostern, das bedeutendste Fest für die Katholiken. Der Karneval war eine ausgelassene Zeit, um dann zu fasten. Heute hat die Fastenzeit keinen Sinn mehr und der Karneval macht deswegen auch keinen Sinn. Er ist nur ein erlaubter Exzess, oft nur hässlich und vulgär. Auch hier in Venedig, wo es die schönsten Kostüme und einen Wettbewerb der Masken gab, wo Fantasie herrschte. Heute scheint mir das Wichtigste, zu trinken und sich zu betrinken. Ohne Sinn. Ohne Kreativität."

    Und was sagt die geborene Venezianerin Elisabetta dazu?

    "Wir Venezianer erleiden heute eher den Karneval, wir erleben ihn nicht mehr emotional. Das denke ich. Es gibt andere religiöse Feste, die uns sehr nah sind. Die mich wirklich bewegen. Wie das Fest der Madonna della Salute am 21. November. Ein wunderschönes Fest! Es gibt viele kleine Kioske, die Karamelläpfel verkaufen. Wie in einer vergangenen Epoche. Alle Venezianer pilgern zur Basilika, auch diejenigen, die jetzt auf dem Festland wohnen. Sie kehren am 21. November zurück, um für ihre Gesundheit eine Kerze darzubringen."

    Ich laufe weiter durch Venedig, ohne Ziel, ohne Grund. Mein Blick verliert sich in den zahllosen, bunten Spiegelungen des Wassers. Wie eine unaufhörliche Verwandlung erscheint mir das Gesicht Venedigs. Ein Spiel zwischen Sein und Schein.