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Die Geheimnisse der Lüge

"Warum du mich verlassen hast" ist ein Pubertäts-, ein Internats- und auch ein Bildungsroman. Er mischt die Ingredienzien dieser Genres zu einer ganz eigenen Mixtur. Der Held verlässt den Schauplatz seiner Taten als ein gereifter, nahezu erwachsener Mann. Paul Ingendaays literarisches Debüt ist gelungen.

Von Martin Ebel |
    Die erzählte Zeit dieses Romans erstreckt sich über ein knappes Jahr, ein Schuljahr, das vorzeitig abbricht, weil der Erzähler von der Schule geworfen wird. Es sind die Jahre 1976/77, jene Monate, die dem "Deutschen Herbst" unmittelbar vorausgehen. Terroristische Anschläge erschüttern die Bundesrepublik, der Baader-Meinhof-Gruppe wird der Prozess gemacht, die Boulevardpresse hysterisiert planmäßig und geradezu lustvoll die Bevölkerung. Davon in diesem Roman kein Wort. Es ist, als ob er auf einer Insel spielte, und in gewisser Weise tut er das auch. Die Insel ist ein katholisches Jungeninternat im Niederrheinischen, nahe der holländischen Grenze.

    "Das Collegium Aureum war das bedeutendste katholische Internat im Umkreis von zweihundertfünfzig Meilen. Nicht das teuerste. Auch nicht das feinste. Sondern einfach das beste. 'Der beschauliche Ort, wo das Bistum Münster seinen hoffnungsvollen theologischen Nachwuchs gewinnt. Wo sich Weltabgeschiedenheit, humanistische Bildung und tiefreligiöse Erziehung zu einer harmonischen Einheit verbinden.' So ungefähr stand es im Prospekt,
    den interessierte Eltern in die Hand gedrückt bekamen."

    Der Autor kennt sich aus. Paul Ingendaay hat das Collegium Augustinianum in Gaesdonck besucht, im Niemandsland an der holländischen Grenze, und er hat dort 1980 auch Abitur gemacht. Wie es ihm dort erging, wissen wir nicht. Für Marko Theunissen, den 15-, bald 16-jährigen Ich-Erzähler seines Romans, ist das Collegium jedenfalls eine "Insel der Verzweiflung", nach seinem Lieblingsbuch, Daniel Defoes "Robinson Crusoe", der seinen unfreiwilligen Aufenthaltsort "Island of Despair" nannte. Seine Eltern haben ihn ins Collegium gegeben wegen seiner Lernprobleme, sagen sie; in Wirklichkeit aber wohl, um ihn sich vom Halse zu schaffen. Die Ehe der Eltern ist seit langem nur Fassade, nun geht sie endgültig auseinander, und davon soll er nichts mitkriegen. So kriegt er auch von allem anderen nichts mit. Das Collegium ist ein "locus conclusus", eine Welt für sich.

    "Das Collegiumsgebäude war insgesamt gar nicht so klein, aber wenn man daran dachte, dass man nicht wegkam, schrumpfte es plötzlich zu einer Insel zusammen, einer winzigen Insel der Verzweiflung im niederrheinischen Nichts direkt an der holländischen Grenze, ohne Autos, ohne Mädchen, ohne irgend etwas Neues. Auch der graue Himmel darüber war ein großes Nichts.

    Man konnte um den See latschen, der zum Collegium gehörte, unser altes Baggerloch, und wenn kein Fußball war, taten wir das auch. Aber der See war nur ein bisschen Wasser, das Ufer jede Menge Lehm und Gras, das war's schon. Die Unmöglichkeit meiner Rettung schien mir so augenfällig, dass kein Funke von Hoffnung in meinem Innern zurückblieb."

    Ein bisschen viel Verzweiflungspathos - aber einem 15-Jährigen durchaus angemessen, der auch den klassischen Pubertätssatz loslässt:

    "Ich dachte, die ganze Welt spricht eine andere Sprache als ich."

    So trostlos der Schauplatz für den jugendlichen Helden - für den Autor ist er die ideale Bühne. Internatsromane, von Enid Blytons Mädchenserien bis zu Kazuo Ishiguros verstörendem Roman "Alles, was wir geben mussten", und Inselromane haben gemeinsam, dass sie eine Laborsituation schaffen und das Verhalten von Menschen ohne störende Einwirkungen von außen beobachten können. Marko und seine Leidensgefährten verbindet mit der Außenwelt lediglich das Recht, alle paar Wochen nach Hause zu fahren, und der dünne und wenig verlässliche Draht des Telefons.

    Telefongespräche mit seinen Eltern sind für Marko eine Qual, für den Leser allerdings fast ein boshaftes Vergnügen. Wenn Marko zuhause anruft, ist unweigerlich sein Vater am Apparat, ein Notar, der bei seinem Sohn den Eindruck erweckt, er läse nebenher eine Akte. Er hört nicht richtig zu, er
    weicht allen wichtigen Fragen aus, und Markos Nöte würgt er mit Phrasen wie "Eins nach dem anderen" ab.
    Selbst wenn er zu schwärmen beginnt, etwa während eines Frankreich-Urlaubs, wirkt es aufgesetzt und unecht:
    "Frankreich, dieses schönste aller Länder, sagte mein Vater immer. Wochenlang bekam er sich nicht mehr ein vor Lob auf die Pfirsiche, den Rotwein und die Croissants. Diese Croissants! sagte er. Die macht den Franzosen keiner nach. Eigentlich nur ein bisschen Butter und Blätterteig.

    Aber keiner kennt das Croissant-Geheimnis außer den Franzosen. Seht ihr die Weinberge! rief er am Abend. Dort reift, was wir gerade trinken."

    Und als der Sohn nicht das trinken will, was da gerade reift, sondern lieber ein Bier, macht der Vater auch daraus eine gestelzte Szene:

    "'Gut', sagte mein Vater, 'da haben die Franzosen ihr Kronenbourg, das besorgen wir. Ein leichtes, bekömmliches Bier, das du nicht bereuen musst. Der Ehrgeiz der Franzosen gilt ja eher dem Wein als dem Bier. Aber auch für Leute mit Bierdurst ist in Frankreich immer gesorgt. Ein kühles bière blonde ist genau das richtige. Wir besorgen dir das alte Kronenbourg.
    D'accord?'"

    Und die Szene mit dem alten Kronenbourg, vielmehr die Erinnerung an diese Szene nimmt für den Vater die Stelle ein, wo eigentlich die Vatergefühle sitzen müssten. Die Telefonate - die Mutter ist im übrigen stets rätselhafterweise abwesend - deprimieren Marko zusehends, weil sich eine dunkle Ahnung immer weniger verdrängen lässt: Seine Eltern trennen sich, die Familie bricht auseinander. Was das bedeutet, kann er sich noch gar nicht vorstellen. Um so beruhigender wirkt da die klösterliche Ordnung des Collegiums.

    Das Collegium ist ein Erziehungsinstitut, und es nimmt seine Aufgabe mit strengem Ernst wahr. Vorschriften regeln jede Minute des Tageslaufs, auch die karge Freizeit wird genau überwacht. Die Beichte und andere Formen der Gewissenserforschung richten ihre Kontrollinstrumente tief ins Innere der Kinder, und wenn es ein Verfahren der Traumausspähung gäbe, würden die Patres und Schwestern nicht zögern, sie anzuwenden. Tiefpunkt der Collegiumskultur sind die Mahlzeiten.

    "Montags gab es Fettläppchen mit Mischgemüse. Ein mittelschlechter Tag, weil die Woche begann und manche Sachen noch frisch waren, theoretisch jedenfalls. Das heißt, sie waren frisch, als sie in der Großküche des Collegiums angeliefert wurden. Aber schon ein paar Stunden später hatten sie sich in den alten Collegiumsfraß verwandelt, den wir kannten, als hätten sie neun Tage lang herumgelegen und wären am zehnten ohne Gegenwehr vergammelt. Die Fettläppchen hießen eigentlich Bonanza-Steaks und waren so groß wie, na ja, ein Päckchen Kaugummi. Ein bisschen breiter vielleicht, aber genauso elastisch. Oh, Boy. Die Hälfte davon war Schweinefleisch, das von den Collegiumsschweinen kam. Die andere Hälfte der Fettläppchen war reines Schweinefett. Stellt euch das Ganze paniert vor und schön braun gebraten. Das war die Tarnkappe, damit man nicht sah, wo das Fett begann.

    Man schnitt in das Fettläppchen und dachte, oh, das muss der Fettstreifen sein, und setzte das Messer woanders an. Aber auch da schnitt man ins Fett.
    Oh, so viel Fett! dachten die, die das Fettläppchen noch nicht kannten. Und dann schnitten sie links hinein und rechts hinein, dann vorne und
    schließlich hinten. Und überall schnitten sie in reines Fett."

    Aber erst am Wochenende lässt der Autor, den eigene Erfahrungen hier zweifellos beflügeln, seinen Helden zu großer erzählerischer Form auflaufen:

    "Vom Wochenendfraß auf dem Collegium Aureum will ich fast schweigen, besonders vom wortkargen Nudelsalat, der in einer absolut ungesetzlichen Schmiere ruhte. Nur das müde Graubrot muss ich noch erwähnen, dazu seinen zuverlässigen Partner, die kranke Fleischwurst. Die beiden traten immer als Paar auf. Am müdesten waren die beiden am Sonntag abend. Blass und abgespannt und unterernährt lagen sie auf ihren Tellern, das Graubrot auf dem einen Teller, die Fleischwurst auf dem anderen Teller.

    Wir wussten, dass sie nicht mehr auf die Beine kommen würden, beide nicht. Sie funkten sich nur noch schwächer werdende Botschaften zu."

    Gehabte Schmerzen, die hab ich gern, sagt Wilhelm Busch. An der lustvoll-ekligen Tonart dieses gastronomischen Schreckensgemäldes erkennt der Leser, dass Marko keine schwereren Schäden am Leib davongetragen hat.

    An der Seele auch nicht. Das Collegium Aureum ist kein Schreckensort, die katholische Kirche hat ihre Methoden nicht nur verfeinert, sondern auch humanisiert. Zwar erinnert sich der Erzähler noch mit Grausen an die Gruppensitzungen, die er als ganz junger Zögling erdulden musste, als eine Erzieherin mit dem Spitznamen "Schwester Gemeinnutz" die zarte Psyche der Zehnjährigen mit so genannter "Wahrheitserforschung" malträtierte. Der 15-Jjährige aber hat sich längst eine solide seelische Rüstung zugelegt. Zusammen mit seinen Freunden und Zimmergenossen Onni, Motte und Tilo hat er eine innere Gegenwelt zum Reich der "Schwatten" aufgebaut, wie die Patres genannt werden. Weltanschaulich eine wilde Mischung aus Angelesenem, Aufgeschnappten, Ausgedachtem und Erfahrungswissen, eine Mischung, die er "Nihilismus" nennt, in der die Frage nach Gott aber immer noch eine wichtige Rolle spielt. Nicht mehr die wichtigste - das wird zunehmend die Frage, wie man im niederrheinischen Nichts Mädchen kennen lernen kann, und, wenn man sie kennen gelernt hat, wann man sie küssen soll und wie man das richtig anfängt. Die Dogmen der Patres sind für Marko nur noch leere Formeln, die Patres selbst haben jede moralische Autorität, sollten sie sie jemals gehabt haben, verloren. Ingendaay ist kein Musil, und sein Held kein Törless. Die Kombination von Abgeschlossenheit und Druck führt hier nicht zum Sadismus, sondern zu Solidarität und innerer Unabhängigkeit.

    Diese macht es dem Erzähler auch möglich, die komischen Seiten ihrer Betreuer und Bewacher wahrzunehmen. Etwa bei der Planung des großen Stiftungsjubiläums, bei dem das Lehrerkollegium ein zugkräftiges Motto sucht. Irgendwas mit Bildung und Zukunft, so soll es heißen. Aber wie genau? Darüber redet man sich die Köpfe heiß.

    "Als die Für-die-Zukunft-Partei nach langen Verhandlungen die Oberhand gewonnen hatte, die In-der-Zukunft-Partei hoffnungslos in die Minderheit geraten und die Mit-einer-Zukunft-Partei drauf und dran war, dem Drängen der Für-die-Zukunft-Partei nachzugeben und deren Beschluss zu unterstützen, um die Einheit des Collegiums nicht zu gefährden, meldete sich plötzlich Leo Siebenwirth und sagte, er habe kürzlich eine interessante Entdeckung gemacht. In einer Wahlbroschüre der christlichen Partei, der man so dringend wieder die Verantwortung für die Führung des Landes wünsche, in dieser Wahlbroschüre habe gestanden: Für ein Land mit Zukunft. Nicht mit einer Zukunft, sondern mit Zukunft. Ohne Artikel. Er selbst, Siebenwirth, habe zunächst gestutzt und sich gefragt, ob diese Verwendung überhaupt korrekt sei. Dann habe er über die Bildung deutscher Nomina nachgedacht, namentlich die Bildung jener herrlich bildhaften, ausdrucksstarken Nomina, die wir dem deutschen Mystizismus verdanken und aus denen sich bis heute die Stärke des deutschen Denkens speise, seine einzigartige Fähigkeit zur Abstraktion, und er habe schon dort, im zwölften Jahrhundert, eine gewissermaßen heimliche Neigung zur artikellosen Nominalisierung ausgemacht, welche dem Slogan der christlichen Partei etwas vertrauenerweckend Gebildetes und zugleich unverkennbar Modernes gebe, die ideale Verschmelzung von profunder Gelehrsamkeit und jugendlichem Optimismus, von Solidität und Aufbruchsgeist. So wie man heute, namentlich unter progressiven Geistlichen, auch oft höre: Kirche ist da, wo Gebet ist.

    Nicht die Kirche, sondern nur: Kirche. Nicht das Gebet, sondern nur: Gebet.

    Kirche ist immer da, wo Frömmigkeit ist, sagte Siebenwirth. Frömmigkeit ist da, wo Gebet ist. Zukunft ist da, wo Bildung ist. Die ideale Verschmelzung von Solidität und Aufbruchsgeist."

    Und, könnte man diese unglaubliche Suada ergänzen, Wahrheit ist da, wo Worte und Taten übereinstimmen, was aber, wie Marko und seine Freunde längst wissen, im Collegium nur ausnahmsweise der Fall ist. In der Regel wird von den Patres bis hinauf zum Präses, dem Klosterobersten, gelogen und geheuchelt, dass sich die mittelalterlichen Klosterbalken biegen. Die Ausnahme hat einen Namen: Pater Gregor. Gregor hat es sich nicht im warmen Bad des Dogmas bequem gemacht, er bewegt sich in der eisigen Welt des Zweifels.

    "Er war beliebt, weil er nicht gut strafen konnte, weil ihn das Züchtigen nicht interessierte, weil er in der Lage war, sich um seine eigenen Sachen zu kümmern, statt ständig zu beobachten, was die Schüler taten. Ich glaube, das war es. Er hatte ein eigenes Leben, das mit den Schülern nichts zu tun hatte, und sie spürten, dass ihm dieses eigene Leben etwas bedeutete. Er musste sich von den Schülern nichts holen, um irgendeine eigene Leere auszugleichen. Deshalb konnte er schon mal an ihnen vorbeigehen, ohne sie mit prüfenden Blicken anzusehen. Manchmal sah er sie gar nicht. Und auch das fanden wir gut. Wir wollten nicht gesehen und überprüft und kontrolliert werden, selbst wenn wir uns an die Ordnung hielten. Wir wollten nicht ständig mit der Ordnung leben. Wir wollten sie nicht spüren, nicht wissen, dass sie da ist, nicht erklärt bekommen, dass wir sie erfüllten, sofern wir sie erfüllten. Wir wollten die Ordnung vergessen können."

    Mit dem Erzähler führt Gregor lange Gespräche über Bücher, die nicht auf dem Lehrplan stehen, über Gewissens- und Lebensfragen, auf die Bibel, Brevier und Gebetbuch keine Antworten kennen. Vor allem lässt Gregor erkennen, dass er selbst keine kennt. Und dass man auch das ertragen kann.

    Nach und nach erfährt Marko von einem anderen Lehrer, Clemens Nippermann, der Gregor ein enger Freund wurde, ein vielleicht zu enger für das, was im Kloster erlaubt ist. Dieser Nippermann war selbst ein Außenseiter, er allerdings, weil er den Glauben, die Vorschriften und die Ordnung zu ernst nahm. Seine Collegiumslaufbahn endete mit einem Skandal; er brannte mit einem Küchenmädchen durch. Das war wohl der entscheidende Schlag für Pater Gregor, der - das ahnt der Leser, wenn schon nicht der Erzähler - den Männern zugetan ist. Seine Verehrung für die Opernsängerin Maria Callas, der er nächtelang vor dem Plattenspieler zuhört, funktioniert als Sublimierung nicht dauerhaft; Pater Gregor erhängt sich schließlich in seinem Zimmer. Die Klosterleitung versucht, das mit allen Mitteln zu vertuschen, aber Marko lässt bei einer angeordneten Fürbittenverlesung die Bombe der Wahrheit platzen. Dafür wird er von der Schule verwiesen. Er hat ja auch genug gelernt fürs Leben.

    "Warum du mich verlassen hast" ist ein Pubertäts-, ein Internats- und auch ein Bildungsroman, und er mischt die Ingredienzien dieser Genres zu einer ganz eigenen Mixtur. Der Held verlässt den Schauplatz seiner Taten als ein gereifter, nahezu erwachsener Mann. Er hat zweierlei gelernt: erstens die Lügengebäude der tatsächlich Erwachsenen zu durchschauen, und zweitens es auszuhalten, dass sich nicht ohne weiteres eine eigene Wahrheit an ihre Stelle setzen lässt. Lügen-Dekonstruktion nimmt einen weiten Raum in diesem Roman ein, und der Erzähler wendet seine zunehmende Meisterschaft darin auf seine Eltern wie auf die Erzieher an. Wobei letztere, durch jahrtausendelange Tradition der katholischen Kirche, eine ungleich raffiniertere Lügentechnik vorweisen können. Das zeigt etwa die Szene, als Schwester Gemeinnutz zwei Zehnjährige aus den Laken zerrt, die sich im Bett aneinander gekuschelt haben - um sich in aller Unschuld über ihr Elend und ihre Einsamkeit hinwegzutrösten:

    "So eine Schweinerei, in den verschwitzten Laken eines anderen zu liegen", rief Schwester Gemeinnutz. Und in zehn, zwanzig, vierzig kleine Kindergehirne sickerte ein, dass es eine schwere Sünde war, in den Laken zu liegen, in denen schon ein anderer geschwitzt hatte. Es kostete mich drei oder vier Jahre, den komplizierten Charakter dieser Lüge zu verstehen.

    Nicht nur die Wahrheit ist manchmal schwer zugänglich, auch die Lüge kann ihre Geheimnisse haben. Und die Lüge von Schwester Gemeinnutz barg ein tiefes Geheimnis. Sie ersetzt ein echtes Tabu durch ein erfundenes. Wir waren unschuldig, eine Horde kleiner Kinder, die nicht wussten, woher die Babys kommen. Und diese ahnungslosen Kinder überzog Schwester Gemeinnutz mit einer frei erfundenen Sünde, einer Sünde, die es gar nicht gab, einer Phantasiesünde, nur damit das, woran Schwester Gemeinnutz dachte, wenn sie zwei nackte Kinder zusammen im Bett sah, nicht ans Licht kam. Denn es durfte ja nicht ans Licht, was zwei dort im Bett miteinander treiben könnten, wenn sie älter wären. Gerade das durfte nicht ans Licht des Herrn."

    Hier also die Dekonstruktion der Ordnung der Lüge, dort der Versuch, es auszuhalten, dass die Wahrheit nur als Stückwerk zu haben ist, dass man, wie der Erzähler es nennt, mit einem "relativen Universum" auskommen muss.

    Das gehört zu den entscheidenden Lernschritten dieses Schuljahrs, dieses Erziehungsromans. Es gibt Hilfskräfte und Hilfsmittel auf diesem Weg, neben Pater Gregor vor allem Jan Spans, ein Handwerker, der im Collegium lebt, aber dessen Herrschaft nicht unterworfen ist. Er gibt Marko eine merkwürdige Kladde zu lesen, ein Schriftstück mit dem Titel "Buch der Ordnung", dessen Autor sich nicht zu erkennen gibt und das Vorgänge aus der jüngsten Vergangenheit des Klosters mit souveräner Klarsicht, ja nicht ohne einen gewissen Zynismus niedergelegt hat. Aber auch dieses Buch, das im Stil auffällig mit Markos Erzählton kollidiert und auch in einer anderen Schrifttype gesetzt ist, führt ihn nicht ins Reich der Wahrheit, sondern hilft ihm nur, zu relativieren, lehrt ihn das Wichtigste: selber zu denken.

    Eine weitere Hilfe ist die Literatur. Sie bietet sprachlichen und geistigen Widerstand gegen den routinierten Collegiums-Katholizismus, sie bietet Identifikationsmöglichkeiten und eine reiche innere Welt. Wie der große Meaulnes aus Alain-Fourniers gleichnamigem Roman will Marko "liebenswürdig, sinnenfroh, grausam und einsam" sein. Wie Robinson Crusoe und in dessen Worten hadert er mit seinem Schicksal und bezieht Trost aus dessen Inselkoller-Bewältigungstechniken. Und Senecas Briefe sind ein eiserner Hammer gegen jegliche voreilige Versöhnung mit der Wirklichkeit.

    Ein für die Qualität des Buches entscheidender Aspekt ist noch nicht behandelt worden: die Sprache. Paul Ingendaay hat die Perspektive des 15-jährigen eingenommen, er beschränkt sich radikal auf sie, und er fürchtet die Konsequenzen nicht. "Warum du mich verlassen hast" ist in einer Art Jugendsprache gehalten, und das über 500 Seiten. Das ist zuviel, zugegeben, und es führt zu gewissen Ermüdungs- und Erschlaffungserscheinungen. Aber wer das für ganz unerträglich hält und diesem Buch deshalb gar nicht näher tritt, versäumt etwas Lohnendes.

    Ingendaays Experiment mit Jugendsprache und Jugendlichenperspektive gelingt aus vier Gründen. Erstens ist diese Sprache historisch, sie gehört in die 70er Jahre. Ingendaay kennt sich da aus, und der historische Abstand erlaubt auch eine gewisse Diskretion in den Mitteln, vermeidet also Aufdringlichkeit und platten Pseudo-Naturalismus. Durch diese Zurückhaltung, zweitens, kommt er mit wenigen, dafür aber genau gesetzten Signalen aus. "Leute", sagt Marko dann und wann, "oh Boy", stöhnt er, und mit "solche Sachen" resümiert er vage, was genau auszuführen er jetzt zu bequem ist. Damit ist, drittens, eine Situation der Mündlichkeit inszeniert; der Roman imitiert keinen Schriftakt, sondern Oralität. Ganz wie ein anderes, weitläufig verwandtes Jugend-Buch, Salingers "Fänger im Roggen". Die mündliche Erzählung neigt nicht zur Konzentration, sondern zur Weitschweifigkeit, zur Wiederholung, zum Insistieren, zum Betonen wichtiger Wörter - und die sind im Text dann kursiv hervorgehoben, was nur den nerven kann, der den Verweischarakter auf die Mündlichkeit nicht erkannt hat. (Ganz ein bisschen freilich nervt es auch den, der es erkannt hat.)

    Schließlich, viertens, wird diese Marko-Ingendaaysche Jugendsprache durch literarische Einsprengsel durchsetzt und so verfremdet. "So sprach ich", heißt es dann: So spricht natürlich kein 15-Jhriger, auch kein Marko, sondern Robinson, oder Marko, der kurz mal Robinson ist, weil ihn das vom Marko-Sein befreit.

    In Deutschland gibt es ein hartnäckiges Vorurteil, das da lautet, Kritiker könnten keine Romane schreiben. Paul Ingendaays literarisches Debüt ist geeignet, dieses Vorurteil zu entkräften.

    "Paul Ingendaay: "Warum du mich verlassen hast"
    Verlag Schirmer Graf