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"Die geografische Entfernung zum nächsten Atomwaffenlager ist vergleichsweise klein"

Pakistan hat auf der jährlichen Liste der gescheiterten Staaten Platz 13 erreich: Der Oberste Gerichtshof hat den Rücktritt von Ministerpräsident Gilani verlangt, weil er ein Korruptionsverfahren gegen den pakistanischen Präsidenten Zardari blockierte. Grund genug für den Berliner Politikwissenschaftler Christian Wagner, sich das Land genauer anzuschauen.

Von Jan Kuhlmann | 23.07.2012
    Afghanistan und Pakistan werden meist in einem Atemzug genannt: Afghanistan ist das Land der Taliban - und Pakistan das Nachbarland, das die Taliban unterstützt. Im pakistanischen Waziristan haben Glaubenskrieger unterschiedlichster Herkunft ihre Heimat gefunden - darunter Radikale aus Deutschland. Osama bin Laden konnte über Jahre unbehelligt in Pakistan leben. Ist Pakistan der nächste Staat, der scheitert? Droht hier gar eine neue Herrschaft der Taliban? Mit diesen Fragen beschäftigt sich auch Christian Wagner, Leiter der Forschungsgruppe Asien der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik". Klare Antworten sind allein deshalb wichtig, weil Pakistan Atomwaffen besitzt - was auch dem Politikwissenschaftler zu denken gibt. Christian Wagner:

    "Die Sorgen sind sicherlich im Falle Pakistans am größten. Also, egal, wo das nächste Al-Kaida-Camp in den Stammesgebieten auch liegen mag, auf der pakistanischen Seite irgendwo in Nordwaziristan oder auf der afghanischen Seite in irgendeiner der Provinzen an der Ostgrenze - es ist eben so, dass die geografische Entfernung zum nächsten Atomwaffenlager vergleichsweise klein ist. Es ist sehr schwierig einzuschätzen, wie sicher diese Atomwaffen wirklich sind."

    In seinem Buch "Brennpunkt Pakistan" analysiert Wagner die innenpolitischen Konstellationen wie das Verhältnis zwischen Politik und Militär. Er schaut aber auch auf das internationale Umfeld. Die Lektüre macht deutlich: Nur mit Pakistan lassen sich die Probleme in Afghanistan lösen - zu eng sind beide Länder miteinander verbunden. Wagner beschreibt Geschichte und politische Strukturen Pakistans sehr genau und kommt zu dem Ergebnis: Das Land ist eine Kasernenhofdemokratie - ohne das Militär geht nichts.

    "Im Bereich der Politik gibt's ja seit 60 Jahren de facto immer die Auseinandersetzung zwischen Militär und Demokratie. Das Militär hat eigentlich zwei Drittel der Zeit Pakistan regiert, war also in dieser Auseinandersetzung immer erfolgreich. Es hat immer wieder politische Parteien genutzt, um seine eigenen politischen Ziele durchzusetzen. Alle großen politischen Parteien haben alle mit dem Militär zusammengearbeitet. Wir haben auch heute, würde ich sagen, weiterhin kein wirkliches Primat der Politik gegenüber dem Militär."

    Ein schlechtes Zeugnis stellt Wagner den politischen Eliten Pakistans aus. Sie organisieren sich in Parteien, die eher Familienclans ähneln. Die politischen Eliten dienen sich gerne dem Militär an - aus ganz eigenem Interesse:

    "Staat gilt eigentlich nicht als Gemeinwesen, sondern Staat gilt für die politischen Eliten eigentlich eher als Beute. Die Korruptionsskandale sind nun sprichwörtlich. Der Präsident hat schon den Spitznamen Mister Zehn-Prozent. Also, es zieht sich eigentlich quer durch die Parteienlandschaft, sodass man immer auch sagen kann: Na ja, hier wird natürlich auch versucht, die jeweils eigenen Interessen zu sichern. Und da nimmt man natürlich die Zusammenarbeit mit dem Militär gerne in Kauf."

    Damit beschreibt Christian Wagner in seinem Buch exakt wesentliche Probleme Pakistans. So oder so ähnlich hat man diese Kernthesen aber schon an anderer Stelle gelesen - etwa in dem Pakistanbuch des Politikwissenschaftlers Jochen Hippler aus dem Jahr 2008. Hippler sah noch die Chance, dass sich das Militär aus der Politik zurückzieht. Nach dem Sturz des pakistanischen Militärdiktators Pervez Musharraf gab es damals Parlamentswahlen. Wagner aber kommt zu dem Schluss, dass sich an der Machtbalance zwischen Militär und Politik nichts geändert hat. Das Primat der Politik sei nur durch eine Konfrontation zwischen Armee und Parteien zu erreichen - was zur Spaltung der Sicherheitskräfte führen könnte. Da wäre der Status quo vermutlich die bessere Wahl, meint Wagner:

    Der Status quo sichert den Streitkräften die Fortschreibung ihrer politischen und wirtschaftlichen Privilegien, er sichert den politischen Parteien eine anhaltende internationale Aufmerksamkeit verbunden mit Transferleistungen in Form von Militär-, Wirtschafts- und Entwicklungshilfe, und er sichert der internationalen Gemeinschaft die Sicherheit der pakistanischen Nuklearwaffen.

    Realpolitisch mag Wagner recht haben - doch der Westen verrät damit einmal mehr sein Ideal der Demokratie. Mehr erfahren würde man in dem Buch gerne über die pakistanischen Streitkräfte. Auch die Gesellschaftsstrukturen des Landes kommen zu kurz. Wagner konzentriert sich mehr auf die Frage, welche Identität das Land zusammenhält. Pakistan ist ein multi-ethnischer Staat mit scharfen Konflikten. Bis heute gibt es in den Provinzen starke zentrifugale Kräfte. Der Islam ist fragmentisiert zwischen sunnitischen und schiitischen Gruppen - die Religion konnte das Land nie einigen. Eine Machtübernahme radikaler Kräfte - oft beschworen - hält Wagner für wenig wahrscheinlich.

    "Auch die Debatte über Talibanisierung wird von der Mehrheit der Pakistanis ganz klar abgelehnt. Ja, man will einen islamischen Staat sicherlich, man will einen muslimischen Staat, man will nach den Vorstellungen leben, aber diese Vorstellungen sollen eben zeitgemäß sein, es sollen eben keine Vorstellungen eines Steinzeitislam sein, wie sie von Teilen der Taliban vertreten wird. Deshalb sehe ich eben nicht, dass religiöse Parteien bei Wahlen eine Mehrheit im Parlament erringen können."

    Christian Wagner schätzt auch die Gefahr gering ein, dass der Staat in seine ethnischen Einzelteile zerfallen könnte. Das US-Magazin "Newsweek" hatte Pakistan 2007 als gefährlichstes Land der Welt bezeichnet. Auch der britische "Telegraph" sah Pakistan am Beginn der Auflösung. Wagner beurteilt die Aussichten des Landes unter dem Strich weniger dramatisch.

    "Ich bin mittlerweile nicht ganz so skeptisch. Ich sehe eigentlich ein richtiges Scheitern nicht wirklich. Die Probleme in Pakistan selber von Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, religiösem Extremismus, Terrorismus in unterschiedlichster Form, Gewalt, ethnische Auseinandersetzungen, Kriminalität, das bleibt uns natürlich erstmal erhalten. Und die Probleme bleiben immens. Ein Scheitern in dem Sinne nicht, aber durchwurschteln leider auf niedrigem Niveau."

    Damit kommt Wagner der Realität näher als Propheten der Apokalypse. Der Politikwissenschaftler hat ein sehr sachliches Buch geschrieben. Es erklärt die Grundfesten Pakistans äußerst kundig. So rückt Wagner so manches schiefe Bild von dem Land gerade. Interessant ist sein Pakistanporträt vor allem mit Blick auf den Wandel in der arabischen Welt. Die Rolle des ägyptischen Militärs etwa gleicht sehr der Rolle der pakistanischen Armee - am Nil könnte bald die nächste Kasernenhofdemokratie entstehen.

    Christian Wagner:
    Brennpunkt Pakistan. Islamische Atommacht im 21.Jahrhundert.
    Dietz Verlag, 191 Seiten, 16,90 Euro


    ISBN: 978-3-801-20424-2