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Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners

Der eine lebte in Alexandria, ein gebürtiger Grieche, der in seinen Gedichten die lebendige Einheit der Levante im hellenistischen Altertum beschwor, die Einheit alexandrinischen, jüdisch-christlichen, syrisch-ptolemäischen, ionischen, persischen und byzantinischen Lebens im Zeichen griechischer Kultur. Der Traum des Konstantin Kavafis galt einer zum großen Augenblick geronnenen Geschichtswelt, in der die Herrscher kamen und gingen, Atriden, die kaiserlichen Statthalter Roms, Byzanz, die Diadochen, die Osmanen, während das Reich von Kunst und Wissenschaften zeitlos blühte. Es war der Traum vom Goldenen Zeitalter eines europäischen Orients.

Sibylle Cramer | 27.09.1998
    Unter umgekehrten Vorzeichen ist derselbe Traum bei dem in Paris lebenden Libanesen Adonis eine historische Tatsache. Adonis feiert das arabische Fundament der abendländischen Geistes- und Wissensgeschichte. In Versen, die den starren Reim- und rhythmischen Zwängen der klassisch arabischen Dichtung den Rücken kehren, besingt er Abd ar-Rahmân den Ersten, den Gründer der andalusischen Umayyaden-Dynastie:

    "Zwischen Beute und Reiter, über meinem Gesicht Kamen die Lanzen zur Ruhe Mein Leib wälzt sich hinab Der Tod ist sein Treiber und die Winde Baumelnde Leichen und ein Totengesang - Als wäre der Tag Ein Stein, der das Leben durchdrang Als wäre der Tag Eine Prozession aus Tränen."

    Das Gedicht, das "Die Tage des Falken" überschrieben ist, setzt in einem dem homerischen Epos verwandten epischen Gesang ein. Doch der Ton ändert sich, als das Rauschen des Euphrat hörbar wird. Stimmfarben, Tonfälle, impulsive Sprachgesten stellen sich ein. Neben die erzählende tritt eine Sprechstimme, deren refrainartige Anrufe dem "Falken der Koraish" gelten, Abd ar-Rahmân. Abd ar-Rahmân, genannt "der Einwanderer", lebte 731-788 n. Chr. und gehörte zur Herrscherfamilie der Koraish. Als ihr einziger Angehöriger überlebte er die blutige Machtübernahme der Abbasiden im heimischen Damaskus, indem er nach Spanien floh. Dort gründete er den andalusischen Zweig der Umyyaden-Dynastie und schuf die Grundlagen für die Blütezeit des arabischen Andalusien. Adonis feiert ihn in einem Gedicht, dessen opulente Metaphorik nicht der historischen Größe der Figur gilt:

    "Ich weiß, die getöteten Weiten zu erwecken Und der Weg wälzt seine Schrecken und wird eng Und der Weg, das sind Spiegel Bücher und Spiegel Ich durchsuche seine Ecken Durchforsche sie genau Ertaste in ihnen die Reste Eines Ritters..."

    Adonis greift einen im Geschichtsbewußtsein der Araber nostalgisch verklärten Stoff auf, die arabische Eroberung und Herrschaft in Spanien, vergangene Macht und Größe. Doch das Gedicht beschwört das "Andalusien der Tiefe":

    "Der Falke baut auf dem Gipfel, in der Tiefen Grund Das Andalusien der Tiefen Ein Andalusien, das von Damaskus aufsteigt Und dem Westen die Ernte des Ostens bringt. (...) Wie ein Liebender, im rebellischen Bersten In der Leidenschaft von Jugend und Erleuchtung Errichtet er das Andalusien der Tiefen Erbaut er für die Welt diesen neuen Tempel Und alle Weiten sind ein Buch in seinem Namen Und alle Weiten sind in seinem Namen Sang."

    "Das Andalusien der Tiefe" ist auf Landkarten nicht zu finden. Gemeint ist das geistig-spirituelle Vermächtnis, das der Orient dem europäischen Mittelalter in Spanien hinterließ, das Wissen, das arabische Gelehrte in Spaniens Bibliotheken, namentlich der von Toledo, niederlegten. Es wurde zur Grundlage der europäischen Philosophie und Naturwissenschaften.

    "Die Tage des Falken" erschien 1962 zunächst in der Literaturzeitschrift Shi’r, zu deutsch "Dichtung". Stefan Weidner, der unentbehrliche Vermittler und sorgfältige Herausgeber und Übersetzer des Werks von Adonis, weist auf die eminente innerarabische und internationale Bedeutung des Periodikums hin. Shi’r ging 1957 aus einem Intellektuellenzirkel um den Literaten Yûsuf al-Khâl hervor, der, den Kopf voller Ideen zur Erneuerung der arabischen Lyrik, zwei Jahre zuvor von einem mehrjährigen USA-Aufenthalt nach Beirut zurückgekehrt war. Von seinesgleichen rundum im arabischen Raum unterschied Shi’r sich durch seine reflektierte Haltung zum Verhältnis von Kunst und Politik und die Konzentration auf das literarische Programm.

    Innerhalb der Geschichte der arabischen Dichtung bildet Shi’r den Schlußpunkt unter eine Entwicklung, die unter starkem Einfluß der westlichen Moderne vom starren Reim- und rhythmischen Schema der klassischen Prosodie wegführte zum freien Vers. Shi’r wurde zum Organ der lyrischen Avantgarde des gesamten Nahen Ostens und zum Gelenk zwischen Ost und West.

    Im Leben des Adonis bedeutete der Anschluß an den Kreis um Yûsuf al-Khâl den endgültigen Bruch mit seiner politischen Vergangenheit. Die Wahl seines Künstlernamens, der auf einen phönizischen Fruchtbarkeitskult zurückgeht, bezeugt die Bindung des jungen Damaszener Studenten an das Programm der Parti Populaire Syrien um den Libanesen Antûn Sa’âdah, der von der Erneuerung des phönizischen Reichs aus großsyrischem Geist träumte und auf die jungen Intellektuellen seiner Generation großen Einfluß ausübte.

    "Ich verließ Syrien 1956, weil die Lage dort unerträglich geworden war. Die faschistische Politik, von der Syrien regiert wurde und die natürlich auch auf das kulturelle Leben einwirkte, machte es mir unmöglich, dort zu bleiben. Es war damals nur ein völlig einsinniges Denken möglich. Das Land war ein Grab für die Freiheit und das freie Denken." (Adonis im Gespräch mit Stefan Weidner, Neue Rundschau, 3. Heft 1998, S. 100)

    1962 wird er libanesischer Staatsbürger. Heute lebt Adonis, mit bürgerlichem Namen Ali Ahmad Sa’îd Esbir, 1930 in Kassâbîn, einem Dorf im nordsyrischen Küstengebirge geboren, ohne Schule aufgewachsen, doch von seinem Vater in der klassisch arabischen, vorislamischen und abbasidischen Dichtung unterwiesen und durch einen Glücksfall zu Gymnasialbildung gekommen - heute lebt er als Kulturrat der arabischen Delegation bei der Unesco in Paris. Gastdozenturen führten ihn nach Genf und Princeton. 1984 hielt er Vorlesungen am Collège de France, eine "Einführung in die arabische Poetik". Inzwischen ist er Träger einer Reihe europäischer Literaturpreise.

    Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners erschienen 1961, ein Jahr nach seiner ersten Auslandsreise, einem Studienjahr in Paris, wo ein großer Teil der Gedichte des Bandes entstanden. Stefan Weidner bezeichnet sie in einem Werkgespräch mit Adonis als "die berühmtesten und berüchtigsten Gedichtbände der modernen arabischen Literatur."

    "Psalm"

    "Er naht wehrlos wie ein Wald, und wie die Wolken wird er nicht zurückgeschlagen. Gestern trug er einen Kontinent und rückte das Meer von der Stelle. Er zeichnet den Nacken des Tages, erschafft einen Tag aus seinen Füßen und borgt sich die Schuhe der Nacht, dann wartet er auf das, was nicht kommt. Er ist die Physik der Dinge - er kennt sie und nennt sie mit Namen, die er nicht verrät. Er ist die Wirklichkeit und ihr Gegenteil, er ist das Leben und alles, was nicht ist. Wo der Stein zu einem See wird und der Schatten zu einer Stadt, da lebt er - lebt und führt die Verzweiflung in die Irre, auswischend die Weite der Hoffnung, dem Boden vortanzend, damit er gähnt, und den Bäumen, damit sie schlafen. Und da verkündet er die Kreuzung der Extreme und ritzt auf die Stirn unseres Zeitalters das Zeichen der Magie."

    Hier, im Auftakt, und folgenden ersten Gesang, ist Mihyâr, der "Ritter fremder Worte", noch der gefeierte Gegenstand, nicht die Stimme des Gedichts. Im dramatischen Stil der Bühne hält Adonis seine Figur zunächst zurück, um sie von außen zu bespiegeln, durch "Stimmen", die neben die Innenstimme des Gedichts treten:

    König Mihyâr Ein König ist Mihyâr Ein König, und der Traum ist ihm ein Schloß und Gärten aus Feuer.

    Eine Stimme, die starb Klagte heute über ihn bei den Worten.

    Ein König ist Mihyâr Er lebt in des Windes Reich Und herrscht in der Geheimnisse Land.

    Eine Stimme Mihyâr - ein Gesicht, das die verrieten, die es lieben Mihyâr - Glocken ohne Klang Mihyâr - auf die Gesichter geschrieben Als Gesang, der uns heimlich besucht Auf weißen verworfenen Wegen. Mihyâr - Glocke derer, die sich verirren Auf dieser galiläischen Erde.

    Erst im zweiten Gesang spricht er selbst, Mihyâr, der "Zauberer des Staubs", der seine Brust verschnürt und verschwindend sich mit dem Wind verbindet, um im Zeichen des "toten Gottes" wiederzukehren und Iram, die Stadt mit den Säulen, zu bauen. Als eine Feuersbrunst auf sie vorrückt, wandert er fort und kehrt als Reisender am Rande der Welt zurück. Mihyâr ist eine Gestalt des Wandels und ewiger Wiederkehr.

    Adonis bezeichnet die Aufgesänge an der Spitze der sieben Gedichtzyklen als Psalmen. Die hymnischen Klänge der alttestamentarischen Kirchenlieder sorgen für die sakralen Untertöne einer Feier der Kunst, die nicht von ungefähr an die kunstreligiösen Tempelgesänge und Taumeltänze der europäischen l’art pour l’art-Avantgarde des späten 19. Jahrhunderts erinnern, an die Maldoror-Gesänge Lautréamonts und den Zarathustra Nietzsches. Im Gespräch mit Stefan Weidner kommt Adonis auf die Berührungspunkte zwischen den absoluten Traditionen der europäischen Literatur und traditionellem arabischen Kunstverständnis zu sprechen, der, wie er sagt, "ursprünglichen arabischen Auffassung der Sprache":

    " ... nach dieser Auffassung dient die Sprache nicht allein als Mittel zum Ausdruck des Seins, sondern in gewisser Hinsicht ist sie eben dieses Sein selbst."

    Und zu seiner Sonderstellung im Kontext der arabischen Literatur:

    "Ferner trenne ich nicht zwischen Dichtung und Denken, im Unterschied zu dem Großteil der arabischen Leser und Kritiker - heute ebenso wie in der Vergangenheit. Vielmehr muß das Denken mit der Dichtung in der dichterischen Vorstellungskraft so verschmolzen werden, als würde der Gedanke aus der Sprache und Dichtung aufsteigen wie der Duft aus der Rose. (..) In großer Dichtung gehen das Sichtbare und das Unsichtbare eine unteilbare Einheit ein."

    Der grundlegende Gedanke, der aus den Gesängen Mihyârs des Damaszeners aufsteigt wie der Duft aus der Rose, nimmt leitmotivische Gestalt an in jener "wachsenden Wunde", aus der die Zeit fließt: die Vergänglichkeit der Existenz. Adonis holt den Zeitflucht-Gedanken in die Substanz und implantiert ihn seiner Figur als Geheimnis ihrer Wandlungen. Mihyâr der Damaszener ist eine Proteusgestalt in unaufhörlich wechselnden Masken, eine veränderliche Wanderergestalt auf der Schwelle zwischen morgen- und abendländischer Kultur.

    Den Brückenschlag vollzieht der Nietzsche-Leser Adonis schon mit der Benennung seiner Kunstfigur. Der historische Mihyâr, Mihyâr ad-Dailami, war im orientalischen Mittelalter ein arabisch schreibender Perser, der als zoroastrischer Häretiker verschrieen war, als Anhänger des altiranichen Religionsstifters Zarathustra. Berühmt sind Mihyârs Totenklagen. Adonis huldigt ihnen in den sieben Totenklagen des Abgesangs. Sie gelten arabischen Klassikern und, die beiden letzten, einem, der nicht genannt werden muß, denn nun ist er bekannt, Mihyâr, der Zauberer des Staubs:

    Totenklage Toter auf der Bahre Freund Dein Antlitz malten die Blumen des Wegs Und deinen Schritten folgte die Schwelle.

    Die Zeit tritt über in eine neue Dimension, nun, da Mihyârs Leib zu Staub zerfallen, sein Geist aber in den Gedichten lebendig ist:

    Totenklage Der Staub besingt dich, richtet an dich seine Gedichte Reicht den Schluchten deine Schritte dar Beweinend diese Reste Deiner Lieder, deiner Träume.

    Der Staub bedeckt die Scheibe der Jahreszeiten bedeckt die Spiegel Bedeckt deine Hände.

    Die Staubreste sind die letzte Gestalt der proteischen Menschheitsfigur Mihyâr, durch die in Abschied und Neugeburt die sterbliche Zeit hindurchfließt, um endlich, wenn der Kalender seine Gültigkeit verloren hat, die vierte Dimension zu gewinnen: poetische Zeit.

    In der perspektivischen Flucht der Gesänge, in der die Zeit sich verjüngt, ist Mihyâr die zeitlose Existenz. Wo Identität durch ihren Wechsel porös wird, verlieren Raum und Zeit ihre Bedeutung. Universale Korrespondenzen stellen sich ein. Durch die Wechselgestalt Mihyâr ziehen die Hausgötter östlicher und westlicher Kunst, Orpheus, der arabische Klassiker und Freund Harûn ar-Rashîds Abu Nuwâs und der blinde Dichter Bashshâr Ibn Burd, der eines Spottgedichts wegen hingerichtet wurde; die ruhelos Reisenden Sindbad und Odysseus; die Wiederkehrfigur Mihyâr und der ewig sich verjüngenden Phönix; Noah und die Gründergestalt Shaddâd, eine südarabische Legendenfigur, die nach der Erlangung der Weltherrschaft die Stadt mit den Säulen baute.

    Der ewige Wiederkunftsgedanke, die nihilistische Denkfigur Nietzsches, stiftet den Grundriß eines arabischen Hymnus an die Freiheit und brüderliche Universalität der Poesie. Der hellenistischen Levante des Griechen aus Alexandria, dem Geschichtsmodell des Konstantin Kavafis setzt Adonis eine Vision entgegen. Nicht positives Wissen, nicht territorial gebundenes koloniales Denken, nicht die Vernunft hat das Wort. Bei Adonis kommen Hoffnungen, Wünsche, Träume zum Ausdruck, ein Verlangen, dessen Ausdrucksgesetze irregulär sind, alogisch, bildhaft. Sie beschwören, Adonis würde sagen: die "Schicksals"-Gemeinschaft der Araber und Europäer im Raum der Existenz.

    Wo Kavafis die griechische Fahne über Alexandria hißt, setzt Adonis die Flagge der Sehnsucht über einem imaginären Damaskus:

    Er kam zurück, Shaddâd ben Âd Also hißt die Flagge der Sehnsucht Und laßt eure Verweigerung als Zeichen Auf der Straße der Jahre Auf diesen Steinen Im Namen der Stadt mit den Säulen.

    Sie ist die Heimat derer, die verzweifelt sind Die Heimat der Verweigerer Sie brachen das Siegel der Amphoren Und verhöhnten die Drohung Und die Brücken des Heils.

    Sie ist unser Land und unser einziges Erbe Wir sind ihre Söhne bis zum Jüngsten Tag.

    Eine der unentbehrlichen Anmerkungen Stefan Weidners klärt darüber auf, daß Damaskus unter aramäischer Herrschaft Aram hieß, die Stadt mit den Säulen. Bei Adonis verwandelt sie sich in ein Sinnbild irdischer Obdachlosigkeit. Der reale Ort verbindet sich mit einer Welt jenseits der Sichtbaren. Auf die arabische Mystik, die sufischen Wurzeln seines Denkens, weist er selbst hin:

    "Wir können das Sichtbare nur in seiner Eigenschaft als Teil des Unsichtbaren wirklich erfassen oder verstehen. Die Präsenz ist sozusagen nur eine Verlängerung der Absenz, das Offensichtliche ist eine Erscheinungsweise des Verborgenen, um die Terminologie der Sufis zu benutzen. Wir können auch sagen: Die Welt, die wir sehen, ist nur ein Abbild der Bedeutungen, die wir nicht sehen. Es gibt also im Grunde keine Trennung zwischen Bild und Bedeutung."

    Das demonstrieren "Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners" Gedicht für Gedicht in der Auflösung der ästhetischen Alternativen von Denken und Duft, Wirklichkeit und Möglichkeit, auch von Erfindung und Tradition. Der Dichter könne zwar zwischen den Dingen und den Wörtern neue Beziehungen stiften, sagt Adonis, aber dies Neue entstehe als Erneuerung des Ererbten. Ohne die Totenklagen Mihyârs ad-Dailami wären "Die Gesänge Mihyârs des Damaszeners" nicht denkbar.

    Mit ihnen komplettiert der Zürcher Ammann Verlag, der jüngst Konstantin Kavafis mit einer schönen Gesamtausgabe ehrte, seine kostbare Bibliothek der Moderne, eine großartige Plejade-Reihe moderner Klassiker, vergessener, verschollener, vergriffener, unbekannter oder unübersetzter Dichtung des Jahrhunderts. Stefan Weidner ist eine vorzüglich übersetzte und kommentierte Ausgabe zu danken.