David Graebers Buch ist eine Offenbarung. Bevor der Leser allerdings der Botschaft teilhaftig werden kann, bedarf es einiger Anstrengungen. Die erste Übung muss schon vor dem Beginn der Lektüre seines Buches "Schulden" stattfinden. Es gilt, Vorurteile zu unterdrücken. Die stellen sich leicht ein bei einem Autor, der als Vordenker einer wissenschaftlichen Disziplin namens "anarchistische Anthropologie" zur Gallionsfigur der Occupy-Bewegung avancierte. Graebers Vorschlag eines generellen Schuldenerlasses zur Lösung der gegenwärtigen Schuldenkrise mutet populistisch an. Doch "albern" – wie Joachim Gauck die Occupy-Bewegung bezeichnete – sind Graebers Analysen keinesfalls.
"Ich habe den Hinweis auf einen generellen Schuldenerlass primär als konzeptionelle Vorgabe zur Diskussion gestellt. Ich stelle in meinem Buch den historischen Kontext dar, der aus einem weiter gefassten Rahmen verdeutlicht, welche Möglichkeiten wir in der Krise überhaupt haben. Auf die eine oder andere Weise wird es sowieso zu Schuldenerlassen kommen. Wir sollten die dramatische Situation nutzen, andere Dinge zu ändern, Dinge, die verändert werden müssen."
Diese Dinge, die sich für Graeber verändern müssen, ergeben sich aus der Betrachtung der Geschichte der Schulden. Um Patentrezepte geht es ihm in diesem Buch nicht. Vielmehr möchte Graeber die Optionen für den Umgang mit der jetzigen Schuldenkrise erkunden - und überprüft die kulturellen Prämissen heutiger Ökonomie. "Die ersten 5000 Jahre" lautet der Untertitel dieser über 500 Seiten langen wissenschaftlichen Abhandlung. Im Zentrum steht dabei die kulturelle Bedeutung von Schulden. Mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit hätten in den vergangenen 5.000 Jahren Volksaufstände mit der rituellen Zerstörung von Schuldverzeichnissen wie Tafeln, Papyrusrollen oder Kontobüchern begonnen, schreibt Graeber:
Seit vielen tausend Jahren wird der Kampf zwischen Armen und Reichen in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgetragen. Unsere Neigung, dies zu übersehen, ist umso seltsamer, wenn wir bedenken, wie viele unserer heutigen moralischen und religiösen Begriffe auf eben diese Konflikte zurückzuführen sind.
Graeber fragt, was für ein Konzept hinter dem Begriff Schulden eigentlich steht. Die Antworten dazu fand der Wissenschaftler in breitem Quellenstudium: Von sumerischen Keilschriften über vedische Traktate aus Indien, jüdische, christliche und islamische Gelehrtenschulen bis zu neuzeitlichen Schriften von etwa von Thomas Hobbes. Graeber ist überzeugt: Den Tauschhandel, so wie ihn Adam Smith beschrieben hat und wie er Basis vieler Theorien des Geldes wurde, hat es nie gegeben:
"Uns allen wurde als gesunder Menschenverstand diktiert, dass alles mit Tauschhandel begann, dann wurde das Geld erfunden und dann kam das Kreditsystem. Das Interessante ist, dass dies historisch nicht wahr ist. Anthropologen haben das seit Jahrhunderten immer wieder herausgestellt. Es gab keine Gesellschaften, in denen Waren gegen Waren getauscht wurden. Tatsächlich gab es Kreditsysteme Jahrtausende bevor es Geld gab."
David Graeber zeigt anschaulich, wie sich im Laufe der Jahrtausende Perioden virtuellen Geldes mit Perioden von Münzgeld abwechselten. Geld wurde also entweder als bloße Maßeinheit für Waren auf Kredit definiert oder aber - in Form von Münzen - als Wert an sich. Dabei hebt er die Bedeutung von Kriegen hervor. Geld sei von Herrschern erfunden worden, um Soldaten bezahlen zu können, so Graeber. Er benutzt für Herrschaft durchgehend den Begriff Staat. Für ihn ist die Geschichte der Schulden daher eine Geschichte staatlich sanktionierter Gewalt.
"Es wird heute sowohl von der Linken als auch den Konservativen ignoriert, dass Geld dort entstand, wo Armeen bezahlt werden mussten. Daraus hat sich eine Systematik entwickelt, die bis heute funktioniert. Alles ist eine Folge staatlicher Abgabenpolitik. Frankreich und England haben beispielsweise als Kolonialherrscher in ihren Kolonien ihr Geld eingeführt, um es sich dann per Abgaben zurückzahlen zu lassen. So wurden künstlich Märkte erschaffen. Auch das Zentralbanksystem wurde zur Finanzierung von Kriegen gegründet. Auch das wird heute weitgehend ignoriert."
Vor diesem Hintergrund seien auch die Freiheitsverheißungen der Marktwirtschaft völlig abwegig. Der anarchistische Wissenschaftler argumentiert moralisch, wenn er ausführt:
"Freiheit ist die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob man anderen Menschen Versprechungen macht oder nicht. Schulden hingegen sind Versprechen, die durch eine Kombination aus Gewalt und Mathematik so korrumpiert wurden, dass ihnen diese moralische Kraft abhanden gekommen ist."
Alle Quellen verständlich zu erschließen, ist eine der großen Leistungen von David Graeber. Zunächst durchaus verwirrende gedankliche Stränge zusammenzuführen, eine weitere. Bestechend ist insbesondere, dass die von Graeber aufgegriffene und luzide nacherzählte Diskussion um den Begriff seit 5.000 Jahren geführt wird. Vom Leser fordert die vielschichtige Darstellung höchste Konzentration, die aber reich mit großem Erkenntnisgewinn belohnt wird.
Über vieles in diesem Buch lässt sich trefflich streiten. Graebers Verwendung des Begriffs Staat etwa mutet schwammig an. Moderne Ausprägungen wie Rechtsstaat und Sozialstaat sind damit kaum fassbar. Manches löst sogar den Reflex aus, das Buch in hohem Bogen die Ecke zu werfen. Geradezu naiv erscheint das Bild vom ursprünglich guten Menschen, das der Anthropologe für erwiesen hält. Dabei erzählt er selbst von den Ur-Gesellschaften, in denen es üblich war, Feinde beim Handeln über’s Ohr zu hauen. Dennoch: Es lohnt sich, dran zu bleiben. Denn auch Widersprüche reflektiert David Graeber mit überraschend guten Argumenten.
David Graeber: Schulden. Die ersten 5.000 Jahre
Klett-Cotta
600 Seiten, 26,95 Euro
ISBN: 978-3-608-94767-0
"Ich habe den Hinweis auf einen generellen Schuldenerlass primär als konzeptionelle Vorgabe zur Diskussion gestellt. Ich stelle in meinem Buch den historischen Kontext dar, der aus einem weiter gefassten Rahmen verdeutlicht, welche Möglichkeiten wir in der Krise überhaupt haben. Auf die eine oder andere Weise wird es sowieso zu Schuldenerlassen kommen. Wir sollten die dramatische Situation nutzen, andere Dinge zu ändern, Dinge, die verändert werden müssen."
Diese Dinge, die sich für Graeber verändern müssen, ergeben sich aus der Betrachtung der Geschichte der Schulden. Um Patentrezepte geht es ihm in diesem Buch nicht. Vielmehr möchte Graeber die Optionen für den Umgang mit der jetzigen Schuldenkrise erkunden - und überprüft die kulturellen Prämissen heutiger Ökonomie. "Die ersten 5000 Jahre" lautet der Untertitel dieser über 500 Seiten langen wissenschaftlichen Abhandlung. Im Zentrum steht dabei die kulturelle Bedeutung von Schulden. Mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit hätten in den vergangenen 5.000 Jahren Volksaufstände mit der rituellen Zerstörung von Schuldverzeichnissen wie Tafeln, Papyrusrollen oder Kontobüchern begonnen, schreibt Graeber:
Seit vielen tausend Jahren wird der Kampf zwischen Armen und Reichen in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgetragen. Unsere Neigung, dies zu übersehen, ist umso seltsamer, wenn wir bedenken, wie viele unserer heutigen moralischen und religiösen Begriffe auf eben diese Konflikte zurückzuführen sind.
Graeber fragt, was für ein Konzept hinter dem Begriff Schulden eigentlich steht. Die Antworten dazu fand der Wissenschaftler in breitem Quellenstudium: Von sumerischen Keilschriften über vedische Traktate aus Indien, jüdische, christliche und islamische Gelehrtenschulen bis zu neuzeitlichen Schriften von etwa von Thomas Hobbes. Graeber ist überzeugt: Den Tauschhandel, so wie ihn Adam Smith beschrieben hat und wie er Basis vieler Theorien des Geldes wurde, hat es nie gegeben:
"Uns allen wurde als gesunder Menschenverstand diktiert, dass alles mit Tauschhandel begann, dann wurde das Geld erfunden und dann kam das Kreditsystem. Das Interessante ist, dass dies historisch nicht wahr ist. Anthropologen haben das seit Jahrhunderten immer wieder herausgestellt. Es gab keine Gesellschaften, in denen Waren gegen Waren getauscht wurden. Tatsächlich gab es Kreditsysteme Jahrtausende bevor es Geld gab."
David Graeber zeigt anschaulich, wie sich im Laufe der Jahrtausende Perioden virtuellen Geldes mit Perioden von Münzgeld abwechselten. Geld wurde also entweder als bloße Maßeinheit für Waren auf Kredit definiert oder aber - in Form von Münzen - als Wert an sich. Dabei hebt er die Bedeutung von Kriegen hervor. Geld sei von Herrschern erfunden worden, um Soldaten bezahlen zu können, so Graeber. Er benutzt für Herrschaft durchgehend den Begriff Staat. Für ihn ist die Geschichte der Schulden daher eine Geschichte staatlich sanktionierter Gewalt.
"Es wird heute sowohl von der Linken als auch den Konservativen ignoriert, dass Geld dort entstand, wo Armeen bezahlt werden mussten. Daraus hat sich eine Systematik entwickelt, die bis heute funktioniert. Alles ist eine Folge staatlicher Abgabenpolitik. Frankreich und England haben beispielsweise als Kolonialherrscher in ihren Kolonien ihr Geld eingeführt, um es sich dann per Abgaben zurückzahlen zu lassen. So wurden künstlich Märkte erschaffen. Auch das Zentralbanksystem wurde zur Finanzierung von Kriegen gegründet. Auch das wird heute weitgehend ignoriert."
Vor diesem Hintergrund seien auch die Freiheitsverheißungen der Marktwirtschaft völlig abwegig. Der anarchistische Wissenschaftler argumentiert moralisch, wenn er ausführt:
"Freiheit ist die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob man anderen Menschen Versprechungen macht oder nicht. Schulden hingegen sind Versprechen, die durch eine Kombination aus Gewalt und Mathematik so korrumpiert wurden, dass ihnen diese moralische Kraft abhanden gekommen ist."
Alle Quellen verständlich zu erschließen, ist eine der großen Leistungen von David Graeber. Zunächst durchaus verwirrende gedankliche Stränge zusammenzuführen, eine weitere. Bestechend ist insbesondere, dass die von Graeber aufgegriffene und luzide nacherzählte Diskussion um den Begriff seit 5.000 Jahren geführt wird. Vom Leser fordert die vielschichtige Darstellung höchste Konzentration, die aber reich mit großem Erkenntnisgewinn belohnt wird.
Über vieles in diesem Buch lässt sich trefflich streiten. Graebers Verwendung des Begriffs Staat etwa mutet schwammig an. Moderne Ausprägungen wie Rechtsstaat und Sozialstaat sind damit kaum fassbar. Manches löst sogar den Reflex aus, das Buch in hohem Bogen die Ecke zu werfen. Geradezu naiv erscheint das Bild vom ursprünglich guten Menschen, das der Anthropologe für erwiesen hält. Dabei erzählt er selbst von den Ur-Gesellschaften, in denen es üblich war, Feinde beim Handeln über’s Ohr zu hauen. Dennoch: Es lohnt sich, dran zu bleiben. Denn auch Widersprüche reflektiert David Graeber mit überraschend guten Argumenten.
David Graeber: Schulden. Die ersten 5.000 Jahre
Klett-Cotta
600 Seiten, 26,95 Euro
ISBN: 978-3-608-94767-0