Das Schöne ist bekanntlich des Schrecklichen Anfang. Nicht zuletzt trifft das auf die Heldinnen in Katja Oskamps Romanen zu. In "Die Staubfängerin", vor zwei Jahren erschienen, ist es eine junge Regieassistentin am Theater, die sich in einen stattlichen Generalmusikdirektor verliebt, ihn heiratet, mit ihm ins Reihenhaus in einer Neubausiedlung zieht, zur größten Freude auch noch eine Tochter zur Welt bringt - und bald feststellt, dass genau in diesem Vorort, an dem sie gestrandet ist, der Vorhof der Hölle beginnt. Der Mann wird immer fremder, die einstige Leidenschaft immer unerklärlicher, die Nachbarn immer biederer, und sie selbst entwickelt eine Neurose, die sich gewaschen hat: einen Putzfimmel fürs Lehrbuch. Schließlich ergreift sie nicht nur Ekel, sondern auch die Flucht. "Die Staubfängerin" endet mit einer angedeuteten neuen Liaison – ein sehr viel älterer Fensterputzer scheint der Hauptfigur wieder eine klare Sicht auf die Zukunft zu bescheren.
Im neuen Roman von Katja Oskamp passiert etwas ganz Ähnliches: Die Ich-Erzählerin ist allerdings ein paar Jahre älter, Mitte 30. Sie hat ebenfalls eine Theater-Vergangenheit und eine kleine Tochter, und die Szenerie scheint noch ein bisschen perfekter: Verheiratet mit einem gescheiten, sorgsamen und die Heldin obendrein bedingungslos liebenden Theaterkritiker, ist das Glück perfekt. Und vielleicht gerade deshalb auch umso brüchiger.
"Ich wuchtete den Reisekoffer über die Schwelle und zog die Tür hinter mir zu. Mit dem Gepäck stieg ich die vier Stockwerke hinab. Draußen nieselte es. Jeder Atemzug entschwand als weißes Wölkchen in die Berliner Novembernacht. Ich stellte mich in den fahlen Schein einer Straßenlaterne und wartete."
So beginnt das Buch mit einem Abschied: Die Erzählerin hat genug von Alltagstrott und der Fürsorglichkeit und der Sackgasse des Familienidylls, ohne sich selbst noch sonst jemandem erklären zu können, warum eigentlich. Der Leser ahnt es freilich: Im Innern lauert, gerade bei einer Frau, die vom Theater weg geheiratet wurde, noch eine Sehnsucht nach anderen Rollen. Im Innern, streng verborgen, gibt es Abgründe, von denen sie selbst nichts weiß und in die sie sich doch stürzen muss, wenn sie nicht vor lauter Langeweile eines natürlichen Todes sterben möchte.
Sie verlässt Mann und Tochter, quartiert sich kurzzeitig bei einer Freundin ein, die ausgerechnet eine Fernseh-Soapdarstellerin ist und zumindest auf diese Weise ihrem für exquisite Kaffeemaschinen schwärmenden Ehemann entkommen kann. Eines Abends fährt Oskamps Ausreißerin ziellos mit der Straßenbahn nach Hellersdorf. Es treibt sie wahrscheinlich das Unbewusste, denn in anonymer Platte ist sie einst aufgewachsen, und das Abenteuer scheint gerade dort zu warten, wo die Szene und die gut situierten Mittelschicht-Spießer, vor denen sie flieht, niemals hingeraten würden.
"Die Hochhäuser glotzten mich an, Riesen mit viereckigen Lichtaugen, wahllos über die spröden Betonkörper verstreut."
Sie glotzt zu Beginn noch etwas unschlüssig zurück und entdeckt schließlich eine Kneipe: ein kleiner, unförmiger Flachbau, geduckt zwischen zwei Blocks liegend. Die "Hellersdorfer Perle", so heißt das Lokal und auch Oskamps Roman, ist eine Pinte mit außergewöhnlichen Gästen: eine Omi kauert vorm Bier am Tisch, eine Gruppe Beinloser in Rollstühlen hat sich dort versammelt, und ein älterer Mann sitzt einsam und allein an der Theke. Die Erzählerin bekommt von ihm einen Sekt spendiert – und wird aufgefordert, das nächste Mal mit Rock zu erscheinen. Tatsächlich kommt sie diesem dreisten Wunsch nach, und sie geht sogar auf seine nächste Forderung ein: Sie solle ein Korsett tragen.
"Da stand sie, die Frau im Spiegel, Mitte dreißig, groß geworden an FKK-Stränden, wie alle aufgewachsen mit dem Aufklärungsbuch Denkst du schon an Liebe?, und trug unter den Kleidern die volle Hurenmontur."
Oskamp gelingt es in dieser Passage, ihren Witz in etwas Bedrohliches umschlagen zu lassen: Die Erzählerin folgt dem Mann, fast willenlos, in eine Wohnung, lässt sich Handschellen anlegen und verbringt die Nacht mit ihm. Ganz geheuer ist ihr das nicht, aber die dunkle Welt, in die sie eindringt, scheint doch genügend Faszinationskraft zu haben. Sie kehrt zwar wieder zurück zu Ehegatte und Kind, aber nicht auf Dauer: Der alte Mann entpuppt sich als Theaterautor und als Wiedergänger des ehemaligen Geliebten der Erzählerin. Der hieß Karl und war am Theater engagiert, ein alter Schauspieler, der die besten Zeiten hinter und einen Alkoholtod vor sich hatte.
Die zunächst sehr dunkle Frauenfantasie verwandelt sich im Lauf des Buches allerdings in eine neue, wenn auch weniger bürgerliche Idylle: Die Erzählerin zieht mit ihrer Tochter in eines der Hochhäuser, in die Nähe ihres Geliebten.
"Niemals war der Mann dort anzutreffen, wohin all die Tinas und Peters und Michas strebten, um sich zu drängeln: im Konsens, im Kompromiss, im Zentrum des Zeitgeistes."
Oskamp hat die Geschichte einer Flucht aus der mediokren, anbohemisierten Berliner-Kleinfamilien-Falle geschrieben: Fast schon klischeehaft werden die beiden Optionen gegeneinandergestellt – auf der einen Seite schwache Männer, die sich wie Kinder über teure, schicke italienische Nudelmaschinen freuen; auf der anderen ein etwas verrohter, durchaus gebrechlicher, gleichwohl sexuell aufgeladener Mann mit Proletarierhänden und genialischem Dichterruf.
"Diese Hand hielt alles aus. Es war die einzige Hand auf der Welt, die meinem fetten Arsch gewachsen war."
Das hat zuweilen etwas von einer Geschichte, wie man sie auch in Frauenmagazinen lesen könnte. Allerdings umschifft Oskamp dank eines pointierenden Tons den Jargon, den man in diesen Zeitschriften finden würde. Und sie spielt witzig mit den Versatzstücken, die uns einfallen, wenn man an eine solche verblühende Prenzlauer-Berg-Existenz denkt. Dass sie aber das Dunkle, Bedrohliche, Geheimnisvolle, das in der "Hellersdorfer Perle" aufblitzt, rasch wieder domestiziert – dem fremden Mann in der Kneipe seiner Gefährlichkeit beraubt und ihre Figur sich wieder in einer neuen Idylle einrichten lässt -, das mag inkonsequent sein. Oder wiederum eine ironische Wendung dieses Romans. Das ist vielleicht das Wundersame und Irritierende an den Büchern Katja Oskamps: Dass man irgendwann nicht mehr weiß, ob die Autorin ironisch mit Klischees spielt oder diese Ironie nicht auch schon wieder klischeehaft ist. Eine vergnügliche, unterhaltsame Lektüre ist "Hellersdorfer Perle" aber allemal.
Katja Oskamp: Hellersdorfer Perle. Roman. Eichborn Verlag. Frankfurt am Main 2010. 221 S. 18,95 Euro.
Im neuen Roman von Katja Oskamp passiert etwas ganz Ähnliches: Die Ich-Erzählerin ist allerdings ein paar Jahre älter, Mitte 30. Sie hat ebenfalls eine Theater-Vergangenheit und eine kleine Tochter, und die Szenerie scheint noch ein bisschen perfekter: Verheiratet mit einem gescheiten, sorgsamen und die Heldin obendrein bedingungslos liebenden Theaterkritiker, ist das Glück perfekt. Und vielleicht gerade deshalb auch umso brüchiger.
"Ich wuchtete den Reisekoffer über die Schwelle und zog die Tür hinter mir zu. Mit dem Gepäck stieg ich die vier Stockwerke hinab. Draußen nieselte es. Jeder Atemzug entschwand als weißes Wölkchen in die Berliner Novembernacht. Ich stellte mich in den fahlen Schein einer Straßenlaterne und wartete."
So beginnt das Buch mit einem Abschied: Die Erzählerin hat genug von Alltagstrott und der Fürsorglichkeit und der Sackgasse des Familienidylls, ohne sich selbst noch sonst jemandem erklären zu können, warum eigentlich. Der Leser ahnt es freilich: Im Innern lauert, gerade bei einer Frau, die vom Theater weg geheiratet wurde, noch eine Sehnsucht nach anderen Rollen. Im Innern, streng verborgen, gibt es Abgründe, von denen sie selbst nichts weiß und in die sie sich doch stürzen muss, wenn sie nicht vor lauter Langeweile eines natürlichen Todes sterben möchte.
Sie verlässt Mann und Tochter, quartiert sich kurzzeitig bei einer Freundin ein, die ausgerechnet eine Fernseh-Soapdarstellerin ist und zumindest auf diese Weise ihrem für exquisite Kaffeemaschinen schwärmenden Ehemann entkommen kann. Eines Abends fährt Oskamps Ausreißerin ziellos mit der Straßenbahn nach Hellersdorf. Es treibt sie wahrscheinlich das Unbewusste, denn in anonymer Platte ist sie einst aufgewachsen, und das Abenteuer scheint gerade dort zu warten, wo die Szene und die gut situierten Mittelschicht-Spießer, vor denen sie flieht, niemals hingeraten würden.
"Die Hochhäuser glotzten mich an, Riesen mit viereckigen Lichtaugen, wahllos über die spröden Betonkörper verstreut."
Sie glotzt zu Beginn noch etwas unschlüssig zurück und entdeckt schließlich eine Kneipe: ein kleiner, unförmiger Flachbau, geduckt zwischen zwei Blocks liegend. Die "Hellersdorfer Perle", so heißt das Lokal und auch Oskamps Roman, ist eine Pinte mit außergewöhnlichen Gästen: eine Omi kauert vorm Bier am Tisch, eine Gruppe Beinloser in Rollstühlen hat sich dort versammelt, und ein älterer Mann sitzt einsam und allein an der Theke. Die Erzählerin bekommt von ihm einen Sekt spendiert – und wird aufgefordert, das nächste Mal mit Rock zu erscheinen. Tatsächlich kommt sie diesem dreisten Wunsch nach, und sie geht sogar auf seine nächste Forderung ein: Sie solle ein Korsett tragen.
"Da stand sie, die Frau im Spiegel, Mitte dreißig, groß geworden an FKK-Stränden, wie alle aufgewachsen mit dem Aufklärungsbuch Denkst du schon an Liebe?, und trug unter den Kleidern die volle Hurenmontur."
Oskamp gelingt es in dieser Passage, ihren Witz in etwas Bedrohliches umschlagen zu lassen: Die Erzählerin folgt dem Mann, fast willenlos, in eine Wohnung, lässt sich Handschellen anlegen und verbringt die Nacht mit ihm. Ganz geheuer ist ihr das nicht, aber die dunkle Welt, in die sie eindringt, scheint doch genügend Faszinationskraft zu haben. Sie kehrt zwar wieder zurück zu Ehegatte und Kind, aber nicht auf Dauer: Der alte Mann entpuppt sich als Theaterautor und als Wiedergänger des ehemaligen Geliebten der Erzählerin. Der hieß Karl und war am Theater engagiert, ein alter Schauspieler, der die besten Zeiten hinter und einen Alkoholtod vor sich hatte.
Die zunächst sehr dunkle Frauenfantasie verwandelt sich im Lauf des Buches allerdings in eine neue, wenn auch weniger bürgerliche Idylle: Die Erzählerin zieht mit ihrer Tochter in eines der Hochhäuser, in die Nähe ihres Geliebten.
"Niemals war der Mann dort anzutreffen, wohin all die Tinas und Peters und Michas strebten, um sich zu drängeln: im Konsens, im Kompromiss, im Zentrum des Zeitgeistes."
Oskamp hat die Geschichte einer Flucht aus der mediokren, anbohemisierten Berliner-Kleinfamilien-Falle geschrieben: Fast schon klischeehaft werden die beiden Optionen gegeneinandergestellt – auf der einen Seite schwache Männer, die sich wie Kinder über teure, schicke italienische Nudelmaschinen freuen; auf der anderen ein etwas verrohter, durchaus gebrechlicher, gleichwohl sexuell aufgeladener Mann mit Proletarierhänden und genialischem Dichterruf.
"Diese Hand hielt alles aus. Es war die einzige Hand auf der Welt, die meinem fetten Arsch gewachsen war."
Das hat zuweilen etwas von einer Geschichte, wie man sie auch in Frauenmagazinen lesen könnte. Allerdings umschifft Oskamp dank eines pointierenden Tons den Jargon, den man in diesen Zeitschriften finden würde. Und sie spielt witzig mit den Versatzstücken, die uns einfallen, wenn man an eine solche verblühende Prenzlauer-Berg-Existenz denkt. Dass sie aber das Dunkle, Bedrohliche, Geheimnisvolle, das in der "Hellersdorfer Perle" aufblitzt, rasch wieder domestiziert – dem fremden Mann in der Kneipe seiner Gefährlichkeit beraubt und ihre Figur sich wieder in einer neuen Idylle einrichten lässt -, das mag inkonsequent sein. Oder wiederum eine ironische Wendung dieses Romans. Das ist vielleicht das Wundersame und Irritierende an den Büchern Katja Oskamps: Dass man irgendwann nicht mehr weiß, ob die Autorin ironisch mit Klischees spielt oder diese Ironie nicht auch schon wieder klischeehaft ist. Eine vergnügliche, unterhaltsame Lektüre ist "Hellersdorfer Perle" aber allemal.
Katja Oskamp: Hellersdorfer Perle. Roman. Eichborn Verlag. Frankfurt am Main 2010. 221 S. 18,95 Euro.