Nordafrika befand sich lange im Windschatten der Geschichte. Die Umstürze des vergangenen Frühlings, die sogenannte "Arabellion", haben das in kurzer Zeit und umfassend geändert. Diktaturen, denen man bei uns im Westen eine ebenso ewige Dauer zuschrieb wie einst den kommunistischen Regimen Osteuropas, fielen in ein paar Wochen in sich zusammen. Völker, die man für lethargisch und unselbstständig hielt, beanspruchten plötzlich, Subjekte der Geschichte zu sein und ihr Leben selbst zu bestimmen. Auch wenn noch lange nicht klar ist, wo das alles enden wird - in halbwegs stabilen, halbwegs demokratischen, halbwegs friedlichen Gesellschaften, in neuen, diesmal islamistischen Diktaturen oder in jahrelangen Bürgerkriegen: So wie es war, wird es nicht mehr sein.
Ein kritischer Wegbegleiter des arabischen Frühlings, ein Beobachter nicht von außen, sondern von innen heraus, ist der Schriftsteller Boualem Sansal. Der französisch schreibende Algerier ist einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, als er im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Der Mann mit dem Alt-68er-Look - Pferdeschwanz, Nickelbrille, legere Kleidung - sprach auf allen Kanälen über die Chancen und Gefahren der politischen Umwälzungen in Nordafrika.
Sansal lebt in Bourmedès, einer Kleinstadt an der Küste des Mittelmeeres. Seine Regierung, der er lange gedient hatte - der promovierte Volkswirt war Generaldirektor im Industrieministerium -, hat er sich zum Feind gemacht durch seine Bücher, die gegen sämtliche Comments und Tabus Algeriens verstoßen. So weist er in seinem Roman "Das Dorf des Deutschen" darauf hin, dass die algerische Revolution von alten Nazis unterstützt wurde. Im selben Roman setzt er sich auf emphatische Weise mit dem Holocaust auseinander, eine in der arabischen Welt einzigartige Tat. Und natürlich eine Provokation, die ihn für viele zum "sale juif", zum Judenfreund und Mossad-Agenten macht.
Offen kritisiert er sowohl die Regierung, die seiner Ansicht nach hinter einer demokratischen Fassade von Militär und Geheimdienst beherrscht werde, und die Islamisten, die sich nach jahrelangem Bürgerkrieg mit dem Militär die Macht längst geteilt hätten. Sansal, einer der besten Autoren der arabischen Welt, ist in seinem eigenen Land zur Unperson geworden. Erstaunlich, dass er immer noch dort lebt. Man kann nur hoffen, dass ihn der Friedenspreis vor physischer Bedrohung schützt.
In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche hatte Sansal auch die Geschichtsvergessenheit Algeriens kritisiert. Man verleugne die Tradition der Vielfalt zugunsten einer künstlichen und unwahren Einheitsgesellschaft:
"Algerien hat eine außerordentlich reiche und bereichernde Geschichte; es hat mit allen Kulturen des Mittelmeerraums in Kontakt gestanden und sie alle leidenschaftlich geliebt und sich zu eigen gemacht, und sie doch auch alle voller Stolz bekämpft, die griechische Kultur, die phönizische, die römische, die vandalische, die byzantinische, die arabische, die osmanische, die spanische, die französische ... doch bei der Unabhängigkeit, als der Moment gekommen war, all die Völker des Landes zu vereinen, inklusive auch die zuletzt angekommenen, die europäischstämmigen Pied-Noirs, und alle Kräfte zu mobilisieren, um vorwärtszukommen, da hat das Land mit einem Schlag, in einem unerklärlichen Akt des Selbsthasses, nicht nur seine uralte berberische und jüdisch-berberische Identität, sondern überhaupt alles verleugnet, was ihm durch seine jahrtausendealte Geschichte zuteil geworden war - und hat sich in einen engen historischen Rahmen gesperrt und sich dabei ausgiebig bei der Mythologie bedient, aber kaum bei der Realität."
Sansal selbst hat in einem Buch versucht, diese Geschichtsvergessenheit zu korrigieren. Es ist 2007 in Frankreich erschienen und jetzt auch ins Deutsche übersetzt worden. "Maghreb - eine kleine Weltgeschichte" zeigt mit dem etwas paradoxen Titel, den der deutsche Verlag dem Buch gegeben hat, dass es zwar um eine Region geht, den Maghreb, dass sich in dieser Region aber Weltgeschichte abgespielt hat, von den ägyptischen Hochkulturen über den Sturmlauf des Islam, von den Kaperfahrten der Mittelmeerpiraten bis hin zum europäischen Kolonialismus.
Ein Geschichtsbuch sollte der Leser allerdings nicht erwarten. "Petit éloge de la mémoire" heißt der Titel des französischen Originals, Kleines Lob der Erinnerung, mit dem Untertitel "4001 Jahre der Nostalgie". Es ist ein schwärmerisches, subjektives Buch, ein Werk der Literatur mehr als der Historiografie. Kalliope, die Muse der epischen Dichtung, führt dem Autor die Hand, nicht die Muse der Geschichtsschreibung Klio.
Für Boualem Sansal steht das menschliche Gedächtnis im Zentrum, eine fehlbare Instanz. Aber durch sie lebt Geschichte, sonst bliebe sie toter Buchstabe. Und es ist kein nüchternes Erinnern, sondern ein höchst emotionales: Das meint der Autor mit seinem Schlüsselbegriff der Nostalgie. Es ist ihm nicht gleichgültig, was seiner Heimat - und die erstreckt sich für ihn sehr großzügig vom Roten Meer bis zum Atlantik - im Verlauf der letzten vier Jahrtausende widerfahren ist. Er leidet mit, während er sich erinnert, an die wenigen großen und die viele schlimmen Momente der Vergangenheit, vor allem an die verpassten Chancen. Nostalgie: das bedeutet nicht nur melancholisches Erinnern daran, wie es einmal gewesen ist, sondern auch das Bedauern darüber, dass es nicht anders gewesen ist, das Spiel der Phantasie, was hätte sein können.
Es ist außerdem ein sinnliches Erinnern. Ein Erinnern, das alle Sinne bemüht, auch den, dem man die intensivste Bewahrungskraft nachsagt: den Geruchssinn. Die folgende Passage, die uns in die altägyptische Stadt Theben versetzt, ist von einer olfaktorischen Präsenz, die hinter Patrick Süskinds "Parfüm" nicht zurücksteht:
"Es ist dieser penetrante Geruch, der die ganze Stadt einhüllte und dem niemand entkommen konnte, falls er das überhaupt wollte, diese sehr spezielle Mischung, die aus den Ausdünstungen der schlammigen Fluten des heiligen Flusses bestand, dem Modergeruch des fauligen Uferholzes, dem Frittiergeruch der Fische, die man allenthalben unter freiem Himmel in Gänseschmalz briet, dem Schweißgeruch des in seinem Mist versinkenden Viehs, den Duftschwaden, die den Läden der Herboristen und Parfümeure, der Hersteller von Salböl und Balsamharz entströmten, den berauschenden Düften, die den zahllosen Kneipen entwichen, die ununterbrochen Zith ausschenkten, jenes saure, beim einfachen Volk so überaus beliebte Bier, während der Adel sich lieber an raffinierten Weinen delektierte, die man aus sagenumwobenen Ländern importierte, aus dem katzenartig geschmeidigen, intriganten Assyrien, dem fernen Kreta, wo der legendäre Minotaurus hauste, dem hochmütigen, sinnenverwirrenden Babylon oder dem intellektuellen, berückend schönen Ninive. Und über allem schwebte der Geruch von Weihrauch und jener betörende Duft des Todes, dem das ewige Ägypten in einem immerwährenden Kult huldigte."
"War denn der Autor dabei?", möchte man da fragen. Die Antwort: Ja, er war dabei, denn er gibt seiner Erinnerung menschliche Gestalt in Form verschiedener Inkarnationen. Zu dem auktorialen Geschichtenerzählerduktus, den Sansal manchmal wählt, wenn er Abstand zu seinem Stoff sucht und zu Deutungen ansetzt, tritt so ein anderer, direkterer, persönlicherer Ton. Die erste dieser - übrigens immer namenlosen - Inkarnationen ist der Sohn eines Wagenmachers, der zum Schreiber ausgebildet wird und später als Wanderpriester Ägypten durchstreift. Er stößt in den Provinzen auf allerlei Missstände, die er aber mit Rücksicht auf die Mächtigen nicht offen anspricht, sondern in Fabeln und Geschichten fasst. Wenn man so will, der erste Dichter-Dissident. Später heiratet er eine schöne Nubierin, und beide bekommen viele Kinder.
Sansals Protagonisten, seine Erinnerungs-Inkarnationen sind alles Berber, denn die Berber sind für ihn die ursprünglichen und eigentlichen Bewohner Nordafrikas. Nicht im Sinne einer ethnischen Präferenz natürlich, schon gar nicht im Sinne eines Reinheitsgebots. Die Berber, Sansals Berber, sind ein offenes, anpassungsfähiges und aufnahmewilliges Volk. Sie stammen aus den Tiefen Afrikas, sind nach einer mythischen Naturkatastrophe nach Ägypten gezogen und dort ohne große Umstände aufgenommen worden (es genügte, dass sie die dortigen Götter anerkannten). Die ägyptische Hochkultur lebte von den Beiträgen vieler Völker, und umgekehrt nahmen die Berber auf, was sie gut und sinnvoll fanden, und immer mischte sich alles mit allem. Einer von ihnen brachte es unter dem Namen Scheschonq gar selbst zum Pharao.
"Die Geschichte hat zwei Pforten, ein gewaltiges Einfallstor für die Eroberer und Erbauer von Weltreichen, und eine morsche Hintertür, durch welche die Verlierer und Nichtstuer entschwinden."
Die Berber waren meist Letzteres. Nach dem Untergang des ägyptischen Reiches machten sie sich nach Westen auf, in einem Zug, der dem der Israeliten mit Moses durch die Wüste ähnelt. Sie lassen sich in Numidien nieder, das die Gebiete der heutigen Staaten Libyen, Tunesien und Algerien umfasst. Sie prägen es weniger, als dass sie selbst geprägt werden: nun von den Phöniziern, tüchtigen Händlern und Schiffsbauern, die Handwerk und Kultur und Reichtum in die karge Gegend bringen.
Es folgen die uns aus dem Geschichtsunterricht bekannten punischen Kriege, heftigen Auseinandersetzungen zwischen Rom und Karthago, die Numidien zum ersten Mal auf die Vorderbühne der Weltgeschichte bringen. Boualem Sansal greift hier korrigierend ein: Die numidischen Kriege müsste man sie nennen, denn zwei numidische Königreiche, das der Massylier und das der Massäsylier, seien maßgeblich daran beteiligt gewesen, in wechselnden Allianzen, und der Massylierkönig Massinissa sei gar der erste numidische, also berberische, Held. Hier schlägt der Autor ganz bewusst einen heroisierenden Ton an, den man zugleich wie eine Parodie des heroischen Genres lesen kann.
"Er war jung, er war schön, und er war wendig wie eine Katze, listig wie ein Affe, stark wie ein Löwe. Er hat die schlimmsten Niederlagen und die strahlendsten Siege erlebt. An der Spitze seiner Truppen, der legendären Reiternomaden, die den Staub ganz Numidiens aufgewirbelt haben, hat er Afrika und Iberien, Karthago und Italien durchstreift. Er wurde geächtet und er wurde mit Ehren überhäuft, er wurde wieder geächtet und wieder mit Ehren überhäuft. Am Ende seines bewegten Lebens hat er, der in allen Ländern rings ums Mittelmeer gerühmt und von den Seinen geliebt wurde, die er zu einem einzigen Volk zusammengeführt hatte, einen berühmten, bis heute berühmt gebliebenen Ausruf getan, Afrika den Afrikanern, ein Wunsch, der bis heute nicht in Erfüllung gegangen ist, jedenfalls nicht so, wie es ihm vorschwebte, denn Afrika gehört heute zwar den Afrikanern, aber seine Könige und Präsidenten haben Afrikas Reichtümer nach Amerika geschafft, und ihre Kinder verpulvern sie in Europa."
Die Passage zeigt, wie mühelos Sansal den Stil wechselt, vom Pseudo-Heroischen bis zum sarkastischen Kommentar zur Gegenwart. Massinissa ist der Erste in einer Galerie herausragender Berber, die allerdings alle eint, dass sie mit ihrem Bemühen, einen unabhängigen Berberstaat zu schaffen, scheitern - aus Unfähigkeit, Größenwahn, inneren Streitigkeiten oder zu großer Übermacht der Gegner. Sansal ist jedes Heldenpathos fremd; bestimmend in seiner Erinnerungsreise ist die Trauer um das Nie-Gelungene. Wenn er sich an Schlachten erinnert, sind es Niederlagen, denen höchstens kurze, über das Ende hinwegtäuschende Siegesscharmützel vorausgegangen sind. Die Niederlagen speisen aber nicht, wie etwa die Fixierung der Serben auf die Schlacht am Amselfeld gegen die Türken, Ressentiment und Rachegelüste, sondern eben: die Nostalgie.
Sehr selten in Sansals Erinnerungsreise sind die Phasen, über die er sagen kann: "Zu jener Zeit ließ es sich in Numidien gut leben." Eine solche Phase muss es unter Juba II. gegeben haben, als die Region schon zum Römischen Reich gehörte, als Provinz Africa. Juba arrangierte sich mit der Pax Romana und heiratete Kleopatra Selene, eine Tochter der letzten ägyptischen Königin und Marc Antons. Über diesen Juba, der Künste und Wissenschaften förderte, Griechisch und Latein sprach, schrieb Plutarch, und das ist eine der wenigen Quellen, die Boualem Sansal wörtlich zitiert:
"Aus dem numidischen Barbaren ist der feinsinnigste aller griechischen Intellektuellen Roms geworden."
Meist lebten die Numider nicht gut, sondern unter der Fuchtel wechselnder Eroberer, gegen die sie sich mit erstaunlicher Hartnäckigkeit, und fast immer erfolglos, auflehnten, unter der Führung von Männern wie Jugurtha, der für Sansal das Modell für alle Rebellen im römischen Imperium darstellte, oder Tacfarinas, der die Guerilla-Taktik erfunden habe. Erfolgreicher waren die Berber auf geistigem oder genauer: geistlichem Gebiet. Die neue Religion aus dem Osten, das Christentum, wurde angenommen und fand Vertreter, die über die Region hinaus von Bedeutung waren, manche bis heute: etwa Cyprian, der Bischof von Karthago, oder Donatus, Auslöser der ersten Kirchenspaltung. Vor allem aber Augustinus, Sohn romanisierter Berber und einer der großen Kirchenlehrer. Seine Rolle in der Geschichte findet nicht Sansals uneingeschränkte Zustimmung. Augustinus habe, statt das Unabhängigkeitsstreben seines Volkes zu unterstützen, die Unterordnung unter die Obrigkeit, also das römische Reich, gelehrt. Ich frage mich, fährt Sansal fort, nun nicht mit der Stimme einer historischen Inkarnation, sondern unverkennbar mit seiner eigenen, der Autorenstimme, ich frage mich,
"... wie viel Unheil seine Theorie eines "nützlichen Schreckens", mit der er staatliche Repression zum Zwecke der Rückführung verirrter Schafe in den Schoss der Kirche legitimierte, wohl weltweit angerichtet hat und bis heute in unseren ausgebluteten Ländern anrichten mag, wo der "nützliche Schrecken" zur etablierten Religion geworden ist und der islamistische Nihilismus zur letzten Zuflucht der Armen."
Wo es also geht, schlägt Boualem Sansal den Bogen von historischen Ereignissen zu aktuellen Zuständen, ohne große Hoffnung allerdings, dass irgendjemand irgendeine Lehre daraus ziehen würde. Die Geschichte, wie sie sich in Nordafrika abgespielt hat, zeigt ihm vielmehr: Alles wiederholt sich endlos, und nach kurzen Aufschwüngen fällt alles wieder in Lethargie zurück. Besonders seinen Berbern geht es so; neue Eroberer, neue Einflüsse, die bekämpft und dann doch übernommen werden, neue Hybridkulturen, neue geistige Höhenflüge, neue Abstürze.
Manchmal überspringt Sansal in seinem Parcours drei ganze Jahrhunderte, manchmal sagt eine seiner Inkarnationen: "Ich habe kaum Erinnerungen an diese Periode". Dann wieder schwärmt er von Lichtgestalten wie al-Kahina, der Königin von Dscharawa, eine Frau und Jüdin, die eine Zeit lang den Arabern die Stirn bot. Oder von den großen Gelehrten Nordafrikas, deren Vermittlung des antiken Erbes die europäische Renaissance auslöste. Eine besonders dramatische und farbige Epoche ist das 16. Jahrhundert, als das Mittelmeer von Kaperschiffen verschiedenster Nationen und Glücksritter beherrscht wurde und die Berber sich tatkräftig am Sklavenhandel beteiligten. Kommentar Sansals: "Ich schäme mich noch heute, fünf Jahrhunderte später, dafür."
Im 19. Jahrhundert arbeitet seine Inkarnation als Küchenjunge in einem türkischen Gasthaus in Cirta, dem heutigen Constantine. Boualem Sansals kleine Weltgeschichte des Maghreb ist immer eine Geschichte von unten, nie nimmt er die Perspektive der Macht ein, immer die derjenigen, die sich mit wechselnden Machthabern arrangieren müssen. Wie sein Küchenjunge, der die Eroberung Constantines durch die Franzosen miterlebt. Noch einmal beschwört Sansal, nicht ohne ironische Apartes, den Charme einer Mischzivilisation, für die die berberische exemplarisch steht:
"Auch bildeten wir uns ganz schön was ein auf unsere Relikte arabischer Hochkultur und unsere Kenntnis der neuen türkischen Kultur, Gedichte, Liebestrunkenes, großartige Exegesen, mystische Höhenflüge, raffinierte Speisen, seidene Gewänder, da kam einiges zusammen. Aber es wirkte sich auch auf unseren Charakter aus: Wachsam und misstrauisch, verschlossen, hochmütig, chauvinistisch, fremdenfeindlich. Das war das Kennzeichen und machte den Charme der damaligen Einwohner von Constantine aus. Und die Zeit wirkte sich veredelnd aus, lange galten der Bürger von Constantine und die schöne Constantinerin als Modell dafür, was die harmonische Verschmelzung der Berberkultur mit der jüdischen, arabischen, türkischen und französischen Kultur hervorzubringen vermöchte."
Das ist vorbei. Hinter jeder Beschwörung blühender Kulturen, die immer Mischkulturen sind, steht die Kritik an der Uniformisierung, wie sie der militante Islam propagiert und praktiziert, dessen Aufstieg der Autor mit Schrecken verfolgt.
"Gott bewahre uns vor aller Einförmigkeit, sie ist die Negation des Lebens schlechthin" ruft der Erzähler aus, als der militante Islam im 7. und 8. Jahrhundert Nordafrika überrennt. Das Echo dieses Rufes reicht bis in die Gegenwart, in der ein Autor wie Sansal in einem Provinzstädtchen sein Leben fristet, von der gesteuerten Presse seines Landes entweder ignoriert oder geschmäht wird und nicht wissen kann, ob um die Ecke nicht schon ein Attentäter auf ihn lauert.
Ein Autor, der seinen Landsleuten mit dieser poetischen Erkundung ihrer eigenen Geschichte ins Gedächtnis rufen will, was sie und die lange Reihe ihrer Vorfahren schon vergessen haben: Dass sie nicht bloß Teil einer islamischen Glaubensgemeinschaft sind, die arabisch dominiert ist, sondern eine eigene Identität haben, die sich aus vielen Quellen speist. Dass sie ihre Geschichte annehmen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen sollen.
Es ist ein melancholisches, manchmal tieftrauriges, manchmal sarkastisches und zorniges Buch. Geschichte macht selten fröhlich. Aber einen Funken Hoffnung gestattet Sansal sich doch. Schließlich hat es nach der Niederschrift den arabischen Frühling gegeben, was immer an Herbsten und Wintern auf ihn folgen mag. Hoffnung, so schließt der Autor sein Vorwort zur deutschen Ausgabe, ist etwas, was sich nie verwirklicht, doch immer wieder erneuert hat.
Boualem Sansal: Maghreb, eine kleine Weltgeschichte.
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
Berlin University Press 2012. 128 S., 19.90 Euro
Ein kritischer Wegbegleiter des arabischen Frühlings, ein Beobachter nicht von außen, sondern von innen heraus, ist der Schriftsteller Boualem Sansal. Der französisch schreibende Algerier ist einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden, als er im vergangenen Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Der Mann mit dem Alt-68er-Look - Pferdeschwanz, Nickelbrille, legere Kleidung - sprach auf allen Kanälen über die Chancen und Gefahren der politischen Umwälzungen in Nordafrika.
Sansal lebt in Bourmedès, einer Kleinstadt an der Küste des Mittelmeeres. Seine Regierung, der er lange gedient hatte - der promovierte Volkswirt war Generaldirektor im Industrieministerium -, hat er sich zum Feind gemacht durch seine Bücher, die gegen sämtliche Comments und Tabus Algeriens verstoßen. So weist er in seinem Roman "Das Dorf des Deutschen" darauf hin, dass die algerische Revolution von alten Nazis unterstützt wurde. Im selben Roman setzt er sich auf emphatische Weise mit dem Holocaust auseinander, eine in der arabischen Welt einzigartige Tat. Und natürlich eine Provokation, die ihn für viele zum "sale juif", zum Judenfreund und Mossad-Agenten macht.
Offen kritisiert er sowohl die Regierung, die seiner Ansicht nach hinter einer demokratischen Fassade von Militär und Geheimdienst beherrscht werde, und die Islamisten, die sich nach jahrelangem Bürgerkrieg mit dem Militär die Macht längst geteilt hätten. Sansal, einer der besten Autoren der arabischen Welt, ist in seinem eigenen Land zur Unperson geworden. Erstaunlich, dass er immer noch dort lebt. Man kann nur hoffen, dass ihn der Friedenspreis vor physischer Bedrohung schützt.
In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche hatte Sansal auch die Geschichtsvergessenheit Algeriens kritisiert. Man verleugne die Tradition der Vielfalt zugunsten einer künstlichen und unwahren Einheitsgesellschaft:
"Algerien hat eine außerordentlich reiche und bereichernde Geschichte; es hat mit allen Kulturen des Mittelmeerraums in Kontakt gestanden und sie alle leidenschaftlich geliebt und sich zu eigen gemacht, und sie doch auch alle voller Stolz bekämpft, die griechische Kultur, die phönizische, die römische, die vandalische, die byzantinische, die arabische, die osmanische, die spanische, die französische ... doch bei der Unabhängigkeit, als der Moment gekommen war, all die Völker des Landes zu vereinen, inklusive auch die zuletzt angekommenen, die europäischstämmigen Pied-Noirs, und alle Kräfte zu mobilisieren, um vorwärtszukommen, da hat das Land mit einem Schlag, in einem unerklärlichen Akt des Selbsthasses, nicht nur seine uralte berberische und jüdisch-berberische Identität, sondern überhaupt alles verleugnet, was ihm durch seine jahrtausendealte Geschichte zuteil geworden war - und hat sich in einen engen historischen Rahmen gesperrt und sich dabei ausgiebig bei der Mythologie bedient, aber kaum bei der Realität."
Sansal selbst hat in einem Buch versucht, diese Geschichtsvergessenheit zu korrigieren. Es ist 2007 in Frankreich erschienen und jetzt auch ins Deutsche übersetzt worden. "Maghreb - eine kleine Weltgeschichte" zeigt mit dem etwas paradoxen Titel, den der deutsche Verlag dem Buch gegeben hat, dass es zwar um eine Region geht, den Maghreb, dass sich in dieser Region aber Weltgeschichte abgespielt hat, von den ägyptischen Hochkulturen über den Sturmlauf des Islam, von den Kaperfahrten der Mittelmeerpiraten bis hin zum europäischen Kolonialismus.
Ein Geschichtsbuch sollte der Leser allerdings nicht erwarten. "Petit éloge de la mémoire" heißt der Titel des französischen Originals, Kleines Lob der Erinnerung, mit dem Untertitel "4001 Jahre der Nostalgie". Es ist ein schwärmerisches, subjektives Buch, ein Werk der Literatur mehr als der Historiografie. Kalliope, die Muse der epischen Dichtung, führt dem Autor die Hand, nicht die Muse der Geschichtsschreibung Klio.
Für Boualem Sansal steht das menschliche Gedächtnis im Zentrum, eine fehlbare Instanz. Aber durch sie lebt Geschichte, sonst bliebe sie toter Buchstabe. Und es ist kein nüchternes Erinnern, sondern ein höchst emotionales: Das meint der Autor mit seinem Schlüsselbegriff der Nostalgie. Es ist ihm nicht gleichgültig, was seiner Heimat - und die erstreckt sich für ihn sehr großzügig vom Roten Meer bis zum Atlantik - im Verlauf der letzten vier Jahrtausende widerfahren ist. Er leidet mit, während er sich erinnert, an die wenigen großen und die viele schlimmen Momente der Vergangenheit, vor allem an die verpassten Chancen. Nostalgie: das bedeutet nicht nur melancholisches Erinnern daran, wie es einmal gewesen ist, sondern auch das Bedauern darüber, dass es nicht anders gewesen ist, das Spiel der Phantasie, was hätte sein können.
Es ist außerdem ein sinnliches Erinnern. Ein Erinnern, das alle Sinne bemüht, auch den, dem man die intensivste Bewahrungskraft nachsagt: den Geruchssinn. Die folgende Passage, die uns in die altägyptische Stadt Theben versetzt, ist von einer olfaktorischen Präsenz, die hinter Patrick Süskinds "Parfüm" nicht zurücksteht:
"Es ist dieser penetrante Geruch, der die ganze Stadt einhüllte und dem niemand entkommen konnte, falls er das überhaupt wollte, diese sehr spezielle Mischung, die aus den Ausdünstungen der schlammigen Fluten des heiligen Flusses bestand, dem Modergeruch des fauligen Uferholzes, dem Frittiergeruch der Fische, die man allenthalben unter freiem Himmel in Gänseschmalz briet, dem Schweißgeruch des in seinem Mist versinkenden Viehs, den Duftschwaden, die den Läden der Herboristen und Parfümeure, der Hersteller von Salböl und Balsamharz entströmten, den berauschenden Düften, die den zahllosen Kneipen entwichen, die ununterbrochen Zith ausschenkten, jenes saure, beim einfachen Volk so überaus beliebte Bier, während der Adel sich lieber an raffinierten Weinen delektierte, die man aus sagenumwobenen Ländern importierte, aus dem katzenartig geschmeidigen, intriganten Assyrien, dem fernen Kreta, wo der legendäre Minotaurus hauste, dem hochmütigen, sinnenverwirrenden Babylon oder dem intellektuellen, berückend schönen Ninive. Und über allem schwebte der Geruch von Weihrauch und jener betörende Duft des Todes, dem das ewige Ägypten in einem immerwährenden Kult huldigte."
"War denn der Autor dabei?", möchte man da fragen. Die Antwort: Ja, er war dabei, denn er gibt seiner Erinnerung menschliche Gestalt in Form verschiedener Inkarnationen. Zu dem auktorialen Geschichtenerzählerduktus, den Sansal manchmal wählt, wenn er Abstand zu seinem Stoff sucht und zu Deutungen ansetzt, tritt so ein anderer, direkterer, persönlicherer Ton. Die erste dieser - übrigens immer namenlosen - Inkarnationen ist der Sohn eines Wagenmachers, der zum Schreiber ausgebildet wird und später als Wanderpriester Ägypten durchstreift. Er stößt in den Provinzen auf allerlei Missstände, die er aber mit Rücksicht auf die Mächtigen nicht offen anspricht, sondern in Fabeln und Geschichten fasst. Wenn man so will, der erste Dichter-Dissident. Später heiratet er eine schöne Nubierin, und beide bekommen viele Kinder.
Sansals Protagonisten, seine Erinnerungs-Inkarnationen sind alles Berber, denn die Berber sind für ihn die ursprünglichen und eigentlichen Bewohner Nordafrikas. Nicht im Sinne einer ethnischen Präferenz natürlich, schon gar nicht im Sinne eines Reinheitsgebots. Die Berber, Sansals Berber, sind ein offenes, anpassungsfähiges und aufnahmewilliges Volk. Sie stammen aus den Tiefen Afrikas, sind nach einer mythischen Naturkatastrophe nach Ägypten gezogen und dort ohne große Umstände aufgenommen worden (es genügte, dass sie die dortigen Götter anerkannten). Die ägyptische Hochkultur lebte von den Beiträgen vieler Völker, und umgekehrt nahmen die Berber auf, was sie gut und sinnvoll fanden, und immer mischte sich alles mit allem. Einer von ihnen brachte es unter dem Namen Scheschonq gar selbst zum Pharao.
"Die Geschichte hat zwei Pforten, ein gewaltiges Einfallstor für die Eroberer und Erbauer von Weltreichen, und eine morsche Hintertür, durch welche die Verlierer und Nichtstuer entschwinden."
Die Berber waren meist Letzteres. Nach dem Untergang des ägyptischen Reiches machten sie sich nach Westen auf, in einem Zug, der dem der Israeliten mit Moses durch die Wüste ähnelt. Sie lassen sich in Numidien nieder, das die Gebiete der heutigen Staaten Libyen, Tunesien und Algerien umfasst. Sie prägen es weniger, als dass sie selbst geprägt werden: nun von den Phöniziern, tüchtigen Händlern und Schiffsbauern, die Handwerk und Kultur und Reichtum in die karge Gegend bringen.
Es folgen die uns aus dem Geschichtsunterricht bekannten punischen Kriege, heftigen Auseinandersetzungen zwischen Rom und Karthago, die Numidien zum ersten Mal auf die Vorderbühne der Weltgeschichte bringen. Boualem Sansal greift hier korrigierend ein: Die numidischen Kriege müsste man sie nennen, denn zwei numidische Königreiche, das der Massylier und das der Massäsylier, seien maßgeblich daran beteiligt gewesen, in wechselnden Allianzen, und der Massylierkönig Massinissa sei gar der erste numidische, also berberische, Held. Hier schlägt der Autor ganz bewusst einen heroisierenden Ton an, den man zugleich wie eine Parodie des heroischen Genres lesen kann.
"Er war jung, er war schön, und er war wendig wie eine Katze, listig wie ein Affe, stark wie ein Löwe. Er hat die schlimmsten Niederlagen und die strahlendsten Siege erlebt. An der Spitze seiner Truppen, der legendären Reiternomaden, die den Staub ganz Numidiens aufgewirbelt haben, hat er Afrika und Iberien, Karthago und Italien durchstreift. Er wurde geächtet und er wurde mit Ehren überhäuft, er wurde wieder geächtet und wieder mit Ehren überhäuft. Am Ende seines bewegten Lebens hat er, der in allen Ländern rings ums Mittelmeer gerühmt und von den Seinen geliebt wurde, die er zu einem einzigen Volk zusammengeführt hatte, einen berühmten, bis heute berühmt gebliebenen Ausruf getan, Afrika den Afrikanern, ein Wunsch, der bis heute nicht in Erfüllung gegangen ist, jedenfalls nicht so, wie es ihm vorschwebte, denn Afrika gehört heute zwar den Afrikanern, aber seine Könige und Präsidenten haben Afrikas Reichtümer nach Amerika geschafft, und ihre Kinder verpulvern sie in Europa."
Die Passage zeigt, wie mühelos Sansal den Stil wechselt, vom Pseudo-Heroischen bis zum sarkastischen Kommentar zur Gegenwart. Massinissa ist der Erste in einer Galerie herausragender Berber, die allerdings alle eint, dass sie mit ihrem Bemühen, einen unabhängigen Berberstaat zu schaffen, scheitern - aus Unfähigkeit, Größenwahn, inneren Streitigkeiten oder zu großer Übermacht der Gegner. Sansal ist jedes Heldenpathos fremd; bestimmend in seiner Erinnerungsreise ist die Trauer um das Nie-Gelungene. Wenn er sich an Schlachten erinnert, sind es Niederlagen, denen höchstens kurze, über das Ende hinwegtäuschende Siegesscharmützel vorausgegangen sind. Die Niederlagen speisen aber nicht, wie etwa die Fixierung der Serben auf die Schlacht am Amselfeld gegen die Türken, Ressentiment und Rachegelüste, sondern eben: die Nostalgie.
Sehr selten in Sansals Erinnerungsreise sind die Phasen, über die er sagen kann: "Zu jener Zeit ließ es sich in Numidien gut leben." Eine solche Phase muss es unter Juba II. gegeben haben, als die Region schon zum Römischen Reich gehörte, als Provinz Africa. Juba arrangierte sich mit der Pax Romana und heiratete Kleopatra Selene, eine Tochter der letzten ägyptischen Königin und Marc Antons. Über diesen Juba, der Künste und Wissenschaften förderte, Griechisch und Latein sprach, schrieb Plutarch, und das ist eine der wenigen Quellen, die Boualem Sansal wörtlich zitiert:
"Aus dem numidischen Barbaren ist der feinsinnigste aller griechischen Intellektuellen Roms geworden."
Meist lebten die Numider nicht gut, sondern unter der Fuchtel wechselnder Eroberer, gegen die sie sich mit erstaunlicher Hartnäckigkeit, und fast immer erfolglos, auflehnten, unter der Führung von Männern wie Jugurtha, der für Sansal das Modell für alle Rebellen im römischen Imperium darstellte, oder Tacfarinas, der die Guerilla-Taktik erfunden habe. Erfolgreicher waren die Berber auf geistigem oder genauer: geistlichem Gebiet. Die neue Religion aus dem Osten, das Christentum, wurde angenommen und fand Vertreter, die über die Region hinaus von Bedeutung waren, manche bis heute: etwa Cyprian, der Bischof von Karthago, oder Donatus, Auslöser der ersten Kirchenspaltung. Vor allem aber Augustinus, Sohn romanisierter Berber und einer der großen Kirchenlehrer. Seine Rolle in der Geschichte findet nicht Sansals uneingeschränkte Zustimmung. Augustinus habe, statt das Unabhängigkeitsstreben seines Volkes zu unterstützen, die Unterordnung unter die Obrigkeit, also das römische Reich, gelehrt. Ich frage mich, fährt Sansal fort, nun nicht mit der Stimme einer historischen Inkarnation, sondern unverkennbar mit seiner eigenen, der Autorenstimme, ich frage mich,
"... wie viel Unheil seine Theorie eines "nützlichen Schreckens", mit der er staatliche Repression zum Zwecke der Rückführung verirrter Schafe in den Schoss der Kirche legitimierte, wohl weltweit angerichtet hat und bis heute in unseren ausgebluteten Ländern anrichten mag, wo der "nützliche Schrecken" zur etablierten Religion geworden ist und der islamistische Nihilismus zur letzten Zuflucht der Armen."
Wo es also geht, schlägt Boualem Sansal den Bogen von historischen Ereignissen zu aktuellen Zuständen, ohne große Hoffnung allerdings, dass irgendjemand irgendeine Lehre daraus ziehen würde. Die Geschichte, wie sie sich in Nordafrika abgespielt hat, zeigt ihm vielmehr: Alles wiederholt sich endlos, und nach kurzen Aufschwüngen fällt alles wieder in Lethargie zurück. Besonders seinen Berbern geht es so; neue Eroberer, neue Einflüsse, die bekämpft und dann doch übernommen werden, neue Hybridkulturen, neue geistige Höhenflüge, neue Abstürze.
Manchmal überspringt Sansal in seinem Parcours drei ganze Jahrhunderte, manchmal sagt eine seiner Inkarnationen: "Ich habe kaum Erinnerungen an diese Periode". Dann wieder schwärmt er von Lichtgestalten wie al-Kahina, der Königin von Dscharawa, eine Frau und Jüdin, die eine Zeit lang den Arabern die Stirn bot. Oder von den großen Gelehrten Nordafrikas, deren Vermittlung des antiken Erbes die europäische Renaissance auslöste. Eine besonders dramatische und farbige Epoche ist das 16. Jahrhundert, als das Mittelmeer von Kaperschiffen verschiedenster Nationen und Glücksritter beherrscht wurde und die Berber sich tatkräftig am Sklavenhandel beteiligten. Kommentar Sansals: "Ich schäme mich noch heute, fünf Jahrhunderte später, dafür."
Im 19. Jahrhundert arbeitet seine Inkarnation als Küchenjunge in einem türkischen Gasthaus in Cirta, dem heutigen Constantine. Boualem Sansals kleine Weltgeschichte des Maghreb ist immer eine Geschichte von unten, nie nimmt er die Perspektive der Macht ein, immer die derjenigen, die sich mit wechselnden Machthabern arrangieren müssen. Wie sein Küchenjunge, der die Eroberung Constantines durch die Franzosen miterlebt. Noch einmal beschwört Sansal, nicht ohne ironische Apartes, den Charme einer Mischzivilisation, für die die berberische exemplarisch steht:
"Auch bildeten wir uns ganz schön was ein auf unsere Relikte arabischer Hochkultur und unsere Kenntnis der neuen türkischen Kultur, Gedichte, Liebestrunkenes, großartige Exegesen, mystische Höhenflüge, raffinierte Speisen, seidene Gewänder, da kam einiges zusammen. Aber es wirkte sich auch auf unseren Charakter aus: Wachsam und misstrauisch, verschlossen, hochmütig, chauvinistisch, fremdenfeindlich. Das war das Kennzeichen und machte den Charme der damaligen Einwohner von Constantine aus. Und die Zeit wirkte sich veredelnd aus, lange galten der Bürger von Constantine und die schöne Constantinerin als Modell dafür, was die harmonische Verschmelzung der Berberkultur mit der jüdischen, arabischen, türkischen und französischen Kultur hervorzubringen vermöchte."
Das ist vorbei. Hinter jeder Beschwörung blühender Kulturen, die immer Mischkulturen sind, steht die Kritik an der Uniformisierung, wie sie der militante Islam propagiert und praktiziert, dessen Aufstieg der Autor mit Schrecken verfolgt.
"Gott bewahre uns vor aller Einförmigkeit, sie ist die Negation des Lebens schlechthin" ruft der Erzähler aus, als der militante Islam im 7. und 8. Jahrhundert Nordafrika überrennt. Das Echo dieses Rufes reicht bis in die Gegenwart, in der ein Autor wie Sansal in einem Provinzstädtchen sein Leben fristet, von der gesteuerten Presse seines Landes entweder ignoriert oder geschmäht wird und nicht wissen kann, ob um die Ecke nicht schon ein Attentäter auf ihn lauert.
Ein Autor, der seinen Landsleuten mit dieser poetischen Erkundung ihrer eigenen Geschichte ins Gedächtnis rufen will, was sie und die lange Reihe ihrer Vorfahren schon vergessen haben: Dass sie nicht bloß Teil einer islamischen Glaubensgemeinschaft sind, die arabisch dominiert ist, sondern eine eigene Identität haben, die sich aus vielen Quellen speist. Dass sie ihre Geschichte annehmen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen sollen.
Es ist ein melancholisches, manchmal tieftrauriges, manchmal sarkastisches und zorniges Buch. Geschichte macht selten fröhlich. Aber einen Funken Hoffnung gestattet Sansal sich doch. Schließlich hat es nach der Niederschrift den arabischen Frühling gegeben, was immer an Herbsten und Wintern auf ihn folgen mag. Hoffnung, so schließt der Autor sein Vorwort zur deutschen Ausgabe, ist etwas, was sich nie verwirklicht, doch immer wieder erneuert hat.
Boualem Sansal: Maghreb, eine kleine Weltgeschichte.
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe
Berlin University Press 2012. 128 S., 19.90 Euro