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Die Gigawatt-Gezeiten

Energietechnik. - Gezeitenkraftwerke sind keine neue Entwicklung, doch in ihrer bisherigen Form konnten sie sich nicht durchsetzen. Mit Einzelturbinen, die tief im Meer stehen wagen Ingenieure jetzt einen neuen Versuch, die gewaltige Kraft von Ebbe und Flut nutzbar zu machen.

Von Frank Grotelüschen |
    Nordirland, die Meerenge von Strangford Lough. Verzweifelt kämpft das Kajak gegen eine Strömung an. Der Mann beherrscht das Paddeln, dennoch kommt er keinen Meter vorwärts, so schnell fließt das Wasser. Doch keine drei Stunden später ist es ruhig wie auf einem See. Denn das, was den Paddler verzweifeln ließ, ist eine Gezeitenströmung, verursacht durch Ebbe und Flut. Für Ingenieure wie James Ives von der irischen Firma OpenHydro sind diese Gezeitenströme eine viel versprechende Energiequelle für die Zukunft, denn:

    "Gezeitenenergie ist präzise berechenbar. Wir kennen die Umlaufbahn des Mondes genau und können Monate im voraus berechnen, wann Ebbe und Flut herrschen und wie viel Energie sich daraus gewinnen lässt."

    Genau das unterscheidet die Gezeitenenergie von Strom aus Windrädern und Solaranlagen: Ihre Stromerzeugung hängt vom Wetter ab, und das ist nun mal deutlich launischer als der Mond. Doch wie lässt sich die Energie aus dem Gezeitenstrom abzapfen? James Ives setzt auf eine spezielle Art von Turbine.

    "Unser Anlage sieht so ähnlich aus wie das Düsentriebwerk eines Flugzeugs. Sie steht auf dem Meeresboden in rund 30 Metern Tiefe – tief genug, um den Schiffsverkehr nicht zu stören. Von Land aus ist die Turbine weder zu sehen noch zu hören – ein Vorteil für die Menschen, die dort leben. Außerdem besticht unsere Turbine durch ihre Einfachheit. Es gibt nur ein Bauteil, dass sich bewegt, und das ist der Rotor, der Ring mit den Turbinenschaufeln. Dadurch ist die Anlage äußerst robust und läuft sehr zuverlässig."

    Anders als ein Flugzeugtriebwerk besitzt die Strömungsturbine in der Mitte ein großes Loch – der Fluchtweg für Fische. Im letzten Winter hat OpenHydro vor der Küste der Bretagne den ersten kommerziellen Prototypen installiert. 16 Meter Durchmesser hat die Turbine, ist also groß wie ein Haus. Sie leistet bis zu zwei Megawatt, soviel wie ein Windrad. Ives:

    "Das ist die erste von vier Turbinen, die wir bis 2014 vor der Bretagne installieren werden. Gemeinsam werden sie den ersten Strömungsturbinen-Park der Welt bilden, der Strom ins Netz speist."

    Doch die Technik hat Konkurrenz – und zwar Turbinen, die nicht aussehen wie Flugzeugtriebwerke, sondern wie Unterwasser-Windräder. SeaGen, so heißt der bislang größte Prototyp, betrieben von der Siemens-Tochter MCT. Er besteht aus einem Metallturm, an dem zwei Rotoren hängen, jeder 16 Meter groß. Seit vier Jahren läuft SeaGen in Nordirland, in der Meerenge von Strangford Lough, also genau dort, wo Paddler mitunter ihre Probleme haben. Denn hier fließt mit Geschwindigkeiten von bis zu fünf Metern pro Sekunde einer der schnellsten Gezeitenströme Europas, sagt Jochen Bard, Meeresenergie-Experte vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik in Kassel.

    "Die Seagen-Anlage produziert munter Strom. Sie hat schon viele 1000 Stunden abgeliefert und ist die Basis für eine ganze Reihe von Farmprojekten, die in der Zukunft geplant sind."

    Zwei Unterwasser-Parks mit bis zu 6 Rotoren sollen 2016 vor Schottland entstehen. Später sind Farmen mit bis zu 50 Anlagen geplant. Doch welches Konzept wird sich durchsetzen – die Unterwasser-Windräder von SeaGen oder die triebwerksähnlichen Turbinen von OpenHydro? Letztere sind mechanisch einfacher und damit robuster. Bei SeaGen dagegen lassen sich die Rotorblätter verstellen, dadurch kann die Anlage der Strömung besser angepasst werden. Die Folge, so Jochen Bard:

    "Man hat eine etwas höhere Komplexität. Aber auf die Leistung bezogen produziert die Anlage relativ viel Strom im Verhältnis zu einer Anlage, die nicht regelbar ist."

    Einfaches, aber robustes Design gegen effektive, aber empfindlichere Technik – so das Duell. Wie es ausgeht, scheint derzeit noch völlig offen.