Unsere Gegenwart ist extrabreit geworden. So jedenfalls beschreibt es der Kulturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht. Immer mehr Stile, Moden und Trends aus der Vergangenheit sind in ihr verfügbar gemacht. Wir haben uns mit ganzem Herzen dem Archiv verschrieben.
Besonders auffällig ist das in der Popkultur. Ausgerechnet, wo es doch bei ihr um die Verheißungen der Gegenwart gehen soll. Der inflationäre Gebrauch des Präfixes Re- belegt jedoch, dass die Zukunft des Pop immer unüberhörbarer in der Vergangenheit liegt und in der Vergegenwärtigung dessen, wie in der jüngeren Vergangenheit die einst gerade vergangene Vergangenheit geklungen oder sich angefühlt haben mag. Die Gegenwart dient nur noch als Behälter für all unsere Erinnerungen, für die Fotos, Platten, Starschnitte, Filmchen und Accessoires der letzten Jahrzehnte.
Im endlosen Loop des Remake/Remodel wird dabei von denen, deren Leben einst vom Rock'n Roll gerettet wurde, mit rabulistischer Verve das Neue behauptet, wiewohl es sich dabei meistens um nichts weiter handelt als um die diebische Freude an der Nuance. Um Distinktionsgewinn und Diskursmacht.
"Die Geschichte braucht einen Mülleimer, sonst wird sie zu einem Mülleimer, einer gigantischen, wuchernden Müllkippe",
sagt der britische Kulturwissenschaftler Simon Reynolds mit Blick auf das Netz, auf dessen enzyklopädische Verfassung, mit der die Erinnerung total zu werden droht. YouTube ist unterdessen zum weltumspannenden Amateur-Archiv schlechthin geworden, wo sich jeder mit den sagenhaften Konzerterlebnissen aus seiner Jugend dopen kann, gewissermaßen im Sinne des Eigenblutdoping.
"Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann" heißt folgerichtig Reynolds rund 450 Seiten starkes und kenntnisreiches Buch.
Auch frühere Epochen waren von der Vergangenheit besessen – angefangen bei der Ehrfurcht, die man in der Zeit der Renaissance vor der römischen und griechischen Antike hatte, bis hin zur Verehrung des Mittelalters während der englischen Romantik. Jedoch gab es bisher in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft, die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war. Das ist es, was Retro von der Begeisterung für Antiquitäten oder Historisches unterscheidet: die Faszination für Moden, Trends, Sounds und Stars, die man noch lebhaft in Erinnerung hat.
Wie jedes kulturelle Feld ist auch das des Pop von stillschweigenden Geboten und Verboten umstellt. Wer hätte es 1976 gewagt, alles, was musikalisch davor war – vor Punk – noch gutzuheißen? Wer heute noch der naiven Vorstellung anheimfällt, einfach nur Musik zu hören, ist für die Plattensammler-Galaxis verloren, denn dort beruht alles Hören darauf, vor allem anderen immer den Kommentar zu hören, sozusagen die Liner Notes. Obwohl gerade in der Plattensammler-Galaxis mit Vorliebe jener magische Moment gefeiert wird, der kraft Kennerschaft unausweichlich danach verlangt, dass man besonders laut aufdreht. Dann hat die ekstasis den Streber ergriffen.
"Das sophisticatete Gespräch über Platten muss hochkultiviert und kenntnisreich sein, sollte aber gleichzeitig leicht und witzig "rüberkommen". Auf keinen Fall darf es ins Penetrante abdriften. Bloß nicht zum "Nerd", also beckmesserisch und langweilig, werden",
schreibt die Berliner Poptheoretikerin Nadja Geer in einem Aufsatz mit dem schönen Titel "Über-Platten-reden als Kunst. Kultiviertes, autoritäres Sprechen zwischen Denkstil und Pose."
Für die von Reynolds diagnostizierte Retromania ist Kennerschaft der Schlüsselbegriff. Denn sie erst versetzt in die Lage, die Regeln der Kunst erfolgreich zu beherrschen. Es geht, wie Bourdieu erschöpfend gezeigt hat, um Positionskämpfe der Akteure. Ein generativer und infiniter Prozess, der über den Charme verfügt, mit jeder weiteren Differenzbehauptung auch weiteren Bedeutungsüberschuss zu generieren. In der Ökonomie nennt man das Mehrwert. An der fortwährenden Bedeutungsverschiebung wird sich dann jedenfalls in den einschlägigen Debatten, Blogs und Feuilletons mit Ehrgeiz abgearbeitet. Referenzhölle ist dieses Spiel benannt, dessen einziges Problem darin besteht, dass es um nichts geht. Außer um eine Stilisierung der Emotion. Um byzantinisches Gefühl. Um die Philosophie des Als-ob.
Den Kampf um die besten Positionen besteht freilich nur, wer über ein feingliedriges Instrumentarium verfügt. Denn wer die fundamentalen Normen popkultureller Schicklichkeit missachtet, ist auf günstige Bedingungen im Kontext angewiesen, wenn er mit seiner Strategie Erfolg haben will. In seinem Aufsatz "Le Naturalisme au théâtre" aus dem Jahr 1881 schreibt der Schriftsteller Émile Zola:
"Ein Werk ist nichts anderes als eine den Konventionen gelieferte Schlacht."
Was Zola für das literarische Feld reklamiert, gilt besonders für das popkulturelle Milieu, in dem ja die marxistische Idee der permanenten Revolution als Phantom weiterspukt. Die Bühne soll nach jedem Auftritt gründlich entrümpelt, die Konventionen und Hörgewohnheiten andauernd gebrochen und schon dem kleinsten Verdacht auf Sklerose vorgebeugt werden. Allerdings popförmig, will sagen genussvoll reflexiv. Das erfordert einen Innovationsfuror, der sich am Ende zwangsläufig selbst verschlingt.
Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann? Weil Pop dazu verdammt ist, unbedingt modern zu sein. Und modern ist hier im Sinne von Avantgarde verstanden, immer vor der Linie.
Aber was bedeutet das? Das bedeutet, dass heute, wo sich die Kraft des Pop insofern erschöpft hat, als kein jugendliches Leben mehr davon ernsthaft umgestürzt wird, dass heute vor der Linie hinter der Linie meint. Hinten ist das neue Vorne, könnte man auch sagen. Oder: Die Backlist ist die neue Frontline. So konstatiert es Simon Reynolds, der freilich nicht verhehlt, von der Nostalgie des Fans selbst betroffen zu sein.
"Das unermüdlich sich fortsetzende Labyrinth aus kulturellem Amateur-Altmaterial auf YouTube ist ein einmaliges Beispiel für die Krise der Überdokumentation, die von den digitalen Medien ausgelöst wurde. Seit die kulturelle Datenmenge nicht mehr an ein physisches Material gebunden ist, sind unsere Kapazitäten, diese zu lagern, zu sortieren und darauf zuzugreifen, unglaublich gestiegen. Die Komprimierung von Text, Bild und Ton führt dazu, dass Raum- und Kostenfragen uns nicht mehr davon abhalten, alles und jedes, was auch nur annähernd interessant und unterhaltsam scheint, zu konservieren."
Bekanntlich ist niemand in der Lage, ohne Rückgriff auf Bestehendes etwas Neues zu schaffen. Wer Distinktionsgewinne verbuchen will, schüttet also gern das Kind mit dem Bade aus und macht den Konzepten von Originalität und Autorschaft gleich generell den Prozess. Der Autor, wiewohl schon öfters abgeschafft, verschwindet ein weiteres Mal in der Tapetentür des Remixes und wird im Sinn des Reissues in den popkulturellen Diskurs reinvestiert. Was früher Band hieß, heißt heute Konzept und Projekt.
Infolgedessen bedeutet Neues nun nicht mehr, dass zunächst einmal lediglich ein Verlust zu verbuchen ist, nämlich der Verlust des Alten, es bedeutet vielmehr eine Wiederbeatmung des Vergangenen zum lebenden Toten, zum Zombie und Wiedergänger. Sag einfach Revival dazu. Oder Reunion.
All Tomorrow's Parties haben 45 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung alle längst schon stattgefunden - in deiner Jugend.
Reynolds zitiert in "Retromania" Steven Ellison, dessen Flying Lotus-Projekt als typischer Ausdruck von einer Musik gewertet wird, der alle Vergangenheit zur Verfügung steht: Netzmusik. Ellison sagt:
"Warum soll man nicht alle Sachen aus der Vergangenheit mit der neuesten Technologie vermischen, und so mit dem Abgefahrensten aufwarten, das man sich vorstellen kann?"
Wie die digitale Revolution zu einem enormen Demokratisierungsschub der kulturellen Praktiken geführt hat, bei dem die Trennung zwischen Produzent und Konsument aufgehoben und die Vormundschaft des Dilettanten ausgerufen ist, hat im Pop der Kommentar das Original verschlungen. Pop bedeutet heute, dass der Amateur für uns alle die Plattensammlung kuratiert. Das zeigt sich in der ubiquitären Auflegerei, im Culture Jamming. Im Free Jazz des Pop.
Doch im Meer all der sampel- und skalierbaren Möglichkeiten droht die Musik selbst unterzugehen. Ihr Gefühltes, Emotionales, ihr Tragisches und Komisches, folglich das, was für alle Zeichen den unhintergehbaren Horizont bildet, ihr Odem ist.
Pop hat durch die Digitalisierung an Bedeutung verloren – ganz egal, ob es sich dabei um Musik oder Fernsehen oder um Filme handelt. Damit meinen wir nicht, dass weniger fern geguckt oder Musik gehört wird, sondern, dass alles das beiläufiger geschieht. Im Hintergrund, während man eine SMS tippt oder Facebook nach neuen Mitteilungen abfragt. Pop hat nur noch soviel Feuer wie das Feuer d'Annunzios. Pop, und damit ist seine avancierte Form gemeint, ist zum Fummel ohne Körper geworden, zur Wahrnehmung ohne mich. Musik für Gehirne im Tank.
Seinen Aufstieg hat Pop der Babyboomer-Generation zu verdanken. In Deutschland speziell derjenigen, die unter der amerikanischen Besatzung großgeworden ist. Die Vertreter dieser Generation sind nun ergraut, wollen sich aber ihrer gesammelten Großtaten würdig erinnert sehen. Für Aufbruch und Neuerung lässt sich so nicht begeistern. Von daher ist es kein Wunder, dass Popmusik die Rolle des Leitmediums eingebüßt hat. Die Akteure, die auf diesem Feld agieren, kämpfen hartnäckig um die Wiederbelebung ihrer Leiche. Indes sind all die mp3, mit denen wir überflutet worden sind, nicht mehr zurückzuholen. Die Travestie frisst ihre Kinder.
Das weiß natürlich auch Simon Reynolds, der in seinem sympathischen, klugen und materialreichen Buch - vom Mainzer Ventil-Verlag aufwendig kuratiert - bekennt, dass er sich bisweilen um seine riesige Plattensammlung sorgt. Was soll aus ihr werden, wenn er einmal abgetreten sein wird?
Pop-Nerd Didi Neidhart, Herausgeber der Musikzeitschrift "skug", hat ein kluges Vorwort zu Reynolds Retromania beigesteuert: "Immer Ärger mit dem Rückspiegel". Darin heißt es:
"Pop schaute immer schon mit einem Auge in den Rückspiegel und hörte mit einem Ohr in die Vergangenheit. Einerseits um richtig rückwärts einzuparken, andererseits, um überholen zu können. Problematisch wird das jedoch, wenn die Bewegungen des Einparkens und Überholens immer weniger zu unterscheiden sind. Nur ist das nicht immer so leicht zu differenzieren, kann doch die Frage "Bin ich noch Retro oder schon Future bzw. bin ich noch Future oder schon wieder Retro?" meist nur retrospektiv beantwortet werden."
Eben.
Simon Reynolds: "Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann"
Aus dem Englischen von Chris Wilpert.
Ventil Verlag, Mainz 2012
424 Seiten, Euro 29,90
Besonders auffällig ist das in der Popkultur. Ausgerechnet, wo es doch bei ihr um die Verheißungen der Gegenwart gehen soll. Der inflationäre Gebrauch des Präfixes Re- belegt jedoch, dass die Zukunft des Pop immer unüberhörbarer in der Vergangenheit liegt und in der Vergegenwärtigung dessen, wie in der jüngeren Vergangenheit die einst gerade vergangene Vergangenheit geklungen oder sich angefühlt haben mag. Die Gegenwart dient nur noch als Behälter für all unsere Erinnerungen, für die Fotos, Platten, Starschnitte, Filmchen und Accessoires der letzten Jahrzehnte.
Im endlosen Loop des Remake/Remodel wird dabei von denen, deren Leben einst vom Rock'n Roll gerettet wurde, mit rabulistischer Verve das Neue behauptet, wiewohl es sich dabei meistens um nichts weiter handelt als um die diebische Freude an der Nuance. Um Distinktionsgewinn und Diskursmacht.
"Die Geschichte braucht einen Mülleimer, sonst wird sie zu einem Mülleimer, einer gigantischen, wuchernden Müllkippe",
sagt der britische Kulturwissenschaftler Simon Reynolds mit Blick auf das Netz, auf dessen enzyklopädische Verfassung, mit der die Erinnerung total zu werden droht. YouTube ist unterdessen zum weltumspannenden Amateur-Archiv schlechthin geworden, wo sich jeder mit den sagenhaften Konzerterlebnissen aus seiner Jugend dopen kann, gewissermaßen im Sinne des Eigenblutdoping.
"Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann" heißt folgerichtig Reynolds rund 450 Seiten starkes und kenntnisreiches Buch.
Auch frühere Epochen waren von der Vergangenheit besessen – angefangen bei der Ehrfurcht, die man in der Zeit der Renaissance vor der römischen und griechischen Antike hatte, bis hin zur Verehrung des Mittelalters während der englischen Romantik. Jedoch gab es bisher in der Geschichte der Menschheit keine Gesellschaft, die so von den kulturellen Artefakten ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit besessen war. Das ist es, was Retro von der Begeisterung für Antiquitäten oder Historisches unterscheidet: die Faszination für Moden, Trends, Sounds und Stars, die man noch lebhaft in Erinnerung hat.
Wie jedes kulturelle Feld ist auch das des Pop von stillschweigenden Geboten und Verboten umstellt. Wer hätte es 1976 gewagt, alles, was musikalisch davor war – vor Punk – noch gutzuheißen? Wer heute noch der naiven Vorstellung anheimfällt, einfach nur Musik zu hören, ist für die Plattensammler-Galaxis verloren, denn dort beruht alles Hören darauf, vor allem anderen immer den Kommentar zu hören, sozusagen die Liner Notes. Obwohl gerade in der Plattensammler-Galaxis mit Vorliebe jener magische Moment gefeiert wird, der kraft Kennerschaft unausweichlich danach verlangt, dass man besonders laut aufdreht. Dann hat die ekstasis den Streber ergriffen.
"Das sophisticatete Gespräch über Platten muss hochkultiviert und kenntnisreich sein, sollte aber gleichzeitig leicht und witzig "rüberkommen". Auf keinen Fall darf es ins Penetrante abdriften. Bloß nicht zum "Nerd", also beckmesserisch und langweilig, werden",
schreibt die Berliner Poptheoretikerin Nadja Geer in einem Aufsatz mit dem schönen Titel "Über-Platten-reden als Kunst. Kultiviertes, autoritäres Sprechen zwischen Denkstil und Pose."
Für die von Reynolds diagnostizierte Retromania ist Kennerschaft der Schlüsselbegriff. Denn sie erst versetzt in die Lage, die Regeln der Kunst erfolgreich zu beherrschen. Es geht, wie Bourdieu erschöpfend gezeigt hat, um Positionskämpfe der Akteure. Ein generativer und infiniter Prozess, der über den Charme verfügt, mit jeder weiteren Differenzbehauptung auch weiteren Bedeutungsüberschuss zu generieren. In der Ökonomie nennt man das Mehrwert. An der fortwährenden Bedeutungsverschiebung wird sich dann jedenfalls in den einschlägigen Debatten, Blogs und Feuilletons mit Ehrgeiz abgearbeitet. Referenzhölle ist dieses Spiel benannt, dessen einziges Problem darin besteht, dass es um nichts geht. Außer um eine Stilisierung der Emotion. Um byzantinisches Gefühl. Um die Philosophie des Als-ob.
Den Kampf um die besten Positionen besteht freilich nur, wer über ein feingliedriges Instrumentarium verfügt. Denn wer die fundamentalen Normen popkultureller Schicklichkeit missachtet, ist auf günstige Bedingungen im Kontext angewiesen, wenn er mit seiner Strategie Erfolg haben will. In seinem Aufsatz "Le Naturalisme au théâtre" aus dem Jahr 1881 schreibt der Schriftsteller Émile Zola:
"Ein Werk ist nichts anderes als eine den Konventionen gelieferte Schlacht."
Was Zola für das literarische Feld reklamiert, gilt besonders für das popkulturelle Milieu, in dem ja die marxistische Idee der permanenten Revolution als Phantom weiterspukt. Die Bühne soll nach jedem Auftritt gründlich entrümpelt, die Konventionen und Hörgewohnheiten andauernd gebrochen und schon dem kleinsten Verdacht auf Sklerose vorgebeugt werden. Allerdings popförmig, will sagen genussvoll reflexiv. Das erfordert einen Innovationsfuror, der sich am Ende zwangsläufig selbst verschlingt.
Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann? Weil Pop dazu verdammt ist, unbedingt modern zu sein. Und modern ist hier im Sinne von Avantgarde verstanden, immer vor der Linie.
Aber was bedeutet das? Das bedeutet, dass heute, wo sich die Kraft des Pop insofern erschöpft hat, als kein jugendliches Leben mehr davon ernsthaft umgestürzt wird, dass heute vor der Linie hinter der Linie meint. Hinten ist das neue Vorne, könnte man auch sagen. Oder: Die Backlist ist die neue Frontline. So konstatiert es Simon Reynolds, der freilich nicht verhehlt, von der Nostalgie des Fans selbst betroffen zu sein.
"Das unermüdlich sich fortsetzende Labyrinth aus kulturellem Amateur-Altmaterial auf YouTube ist ein einmaliges Beispiel für die Krise der Überdokumentation, die von den digitalen Medien ausgelöst wurde. Seit die kulturelle Datenmenge nicht mehr an ein physisches Material gebunden ist, sind unsere Kapazitäten, diese zu lagern, zu sortieren und darauf zuzugreifen, unglaublich gestiegen. Die Komprimierung von Text, Bild und Ton führt dazu, dass Raum- und Kostenfragen uns nicht mehr davon abhalten, alles und jedes, was auch nur annähernd interessant und unterhaltsam scheint, zu konservieren."
Bekanntlich ist niemand in der Lage, ohne Rückgriff auf Bestehendes etwas Neues zu schaffen. Wer Distinktionsgewinne verbuchen will, schüttet also gern das Kind mit dem Bade aus und macht den Konzepten von Originalität und Autorschaft gleich generell den Prozess. Der Autor, wiewohl schon öfters abgeschafft, verschwindet ein weiteres Mal in der Tapetentür des Remixes und wird im Sinn des Reissues in den popkulturellen Diskurs reinvestiert. Was früher Band hieß, heißt heute Konzept und Projekt.
Infolgedessen bedeutet Neues nun nicht mehr, dass zunächst einmal lediglich ein Verlust zu verbuchen ist, nämlich der Verlust des Alten, es bedeutet vielmehr eine Wiederbeatmung des Vergangenen zum lebenden Toten, zum Zombie und Wiedergänger. Sag einfach Revival dazu. Oder Reunion.
All Tomorrow's Parties haben 45 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung alle längst schon stattgefunden - in deiner Jugend.
Reynolds zitiert in "Retromania" Steven Ellison, dessen Flying Lotus-Projekt als typischer Ausdruck von einer Musik gewertet wird, der alle Vergangenheit zur Verfügung steht: Netzmusik. Ellison sagt:
"Warum soll man nicht alle Sachen aus der Vergangenheit mit der neuesten Technologie vermischen, und so mit dem Abgefahrensten aufwarten, das man sich vorstellen kann?"
Wie die digitale Revolution zu einem enormen Demokratisierungsschub der kulturellen Praktiken geführt hat, bei dem die Trennung zwischen Produzent und Konsument aufgehoben und die Vormundschaft des Dilettanten ausgerufen ist, hat im Pop der Kommentar das Original verschlungen. Pop bedeutet heute, dass der Amateur für uns alle die Plattensammlung kuratiert. Das zeigt sich in der ubiquitären Auflegerei, im Culture Jamming. Im Free Jazz des Pop.
Doch im Meer all der sampel- und skalierbaren Möglichkeiten droht die Musik selbst unterzugehen. Ihr Gefühltes, Emotionales, ihr Tragisches und Komisches, folglich das, was für alle Zeichen den unhintergehbaren Horizont bildet, ihr Odem ist.
Pop hat durch die Digitalisierung an Bedeutung verloren – ganz egal, ob es sich dabei um Musik oder Fernsehen oder um Filme handelt. Damit meinen wir nicht, dass weniger fern geguckt oder Musik gehört wird, sondern, dass alles das beiläufiger geschieht. Im Hintergrund, während man eine SMS tippt oder Facebook nach neuen Mitteilungen abfragt. Pop hat nur noch soviel Feuer wie das Feuer d'Annunzios. Pop, und damit ist seine avancierte Form gemeint, ist zum Fummel ohne Körper geworden, zur Wahrnehmung ohne mich. Musik für Gehirne im Tank.
Seinen Aufstieg hat Pop der Babyboomer-Generation zu verdanken. In Deutschland speziell derjenigen, die unter der amerikanischen Besatzung großgeworden ist. Die Vertreter dieser Generation sind nun ergraut, wollen sich aber ihrer gesammelten Großtaten würdig erinnert sehen. Für Aufbruch und Neuerung lässt sich so nicht begeistern. Von daher ist es kein Wunder, dass Popmusik die Rolle des Leitmediums eingebüßt hat. Die Akteure, die auf diesem Feld agieren, kämpfen hartnäckig um die Wiederbelebung ihrer Leiche. Indes sind all die mp3, mit denen wir überflutet worden sind, nicht mehr zurückzuholen. Die Travestie frisst ihre Kinder.
Das weiß natürlich auch Simon Reynolds, der in seinem sympathischen, klugen und materialreichen Buch - vom Mainzer Ventil-Verlag aufwendig kuratiert - bekennt, dass er sich bisweilen um seine riesige Plattensammlung sorgt. Was soll aus ihr werden, wenn er einmal abgetreten sein wird?
Pop-Nerd Didi Neidhart, Herausgeber der Musikzeitschrift "skug", hat ein kluges Vorwort zu Reynolds Retromania beigesteuert: "Immer Ärger mit dem Rückspiegel". Darin heißt es:
"Pop schaute immer schon mit einem Auge in den Rückspiegel und hörte mit einem Ohr in die Vergangenheit. Einerseits um richtig rückwärts einzuparken, andererseits, um überholen zu können. Problematisch wird das jedoch, wenn die Bewegungen des Einparkens und Überholens immer weniger zu unterscheiden sind. Nur ist das nicht immer so leicht zu differenzieren, kann doch die Frage "Bin ich noch Retro oder schon Future bzw. bin ich noch Future oder schon wieder Retro?" meist nur retrospektiv beantwortet werden."
Eben.
Simon Reynolds: "Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann"
Aus dem Englischen von Chris Wilpert.
Ventil Verlag, Mainz 2012
424 Seiten, Euro 29,90