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Die gläserne Grenze

Als ich in Santiago de Chile in einer der großen Buchhandlungen auf der Suche nach der neuesten Veröffentlichung des 1928 geborenen mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes war, führte mich die junge Buchhändlerin zu einem Regal, tippte mit dem Finger auf einige Buchrücken, zog ein Exemplar hervor und überreichte es mir mit strahlendem Lächeln: das sei das neuste. Wann ist es erschienen? fragte ich. Sie riß die Schutzhülle herunter und schaute im Impressum nach. 1998, sagte sie. Ich las ungläubig den spanischen Titel: "Landschaft in klarem Licht", wies sie darauf hin, daß dies lediglich die Neuauflage seines ersten Romans sei, der schon 1958 publiziert wurde, worauf sie aber nur mit den Achseln zuckte und bemerkte, dies sei eben das neuste Buch, das sie von Fuentes hätten, es sei gerade erst herausgekommen.

Martin Grzimek |
    Ich könnte mir denken, daß diese kleine Episode dem Autor gefallen würde. Er wird geschildert als ein Kosmopolit und Mann von Welt, der selbst nicht ungern flunkert, wobei ihm seine Redegewandtheit und seine Belesenheit helfen, seine Zuhörer davon zu überzeugen, daß er anscheinend stets die Wahrheit sage. Insoweit es seinen neuesten, auf deutsch übersetzten Roman betrifft, liegt dieser nun unter dem Titel "Die gläserne Grenze" in den Buchhandlungen aus. Wie in beinahe allen der zahlreichen Bücher dieses überaus produktiven Schriftstellers geht es um Mexiko, um die Identität des Mexikaners, um den Einfluß Nordamerikas auf seine Kultur und dieses Mal ganz konkret um die Grenze zwischen den beiden Staaten. Ein brisantes Thema, das uns Fuentes, den man in Lateinamerika den "mexikanischen Balzac" nennt, variantenreich in neun Erzählungen vorführt, wobei der Konfliktstoff, der seine Geschichten nährt, in der letzten Erzählung - "Río Grande, Río Bravo" - am eindrücklichsten abgehandelt wird:

    "Salvador Ayala, Bonitos Vater, (...) wurde ein Wetback, ein illegaler mexikanischer Auswanderer, der nachts den Fluß überquerte und auf der anderen Seite von der Grenzpatrouille aufgegriffen wurde. Sie setzten ihr Leben aufs Spiel. Er und die anderen. (...) Doch keinem ging es schlimmer als Salvador Ayala. (...) Ihn trafen die schlimmsten Repressalien, die Ausweisungen, die Säuberungsaktionen an der Grenze. Er wurde das Opfer brutaler Willkür. Der Chef entschied, wann man ihn als Vertragsarbeiter behandeln sollte und wann als Verbrecher, den man der Einwanderungsbehörde übergab. Salvador Ayala konnte sich nicht mehr wehren. Wenn er sich darauf berief, daß der Chef ihm illegal Arbeit gegeben habe, verurteilte er sich selber und hatte keine Beweise gegen ihn. Der Chef manipulierte die gefälschten Dokumente, um zu beweisen, daß Salvador ein legaler Arbeiter war, wenn es nötig war. Und er ließ die Dokumente verschwinden und Salvador abschieben, wenn es nötig war."

    Der Río Grande beziehungsweise Río Bravo aus mexikanischer Sicht bildet die mehr als 2000 km lange Grenze zwischen Texas und Mexiko, und sie gilt als eine der bestgesicherten der Welt, vor allem wenn sie große Städte trennt wie El Paso und Ciudad Juárez. Meterhohe Zäune, strengste Kontrollen, ein Heer von ständig patrouillierenden Grenzsoldaten, bewaffnet mit Nachtsichtgeräten und Hunden erwecken von amerikanischer Seite aus den Eindruck, es würde jenseits der dicken, tief in den Sand eingegrabenen Blechwände ein unsichtbarer Feind lauern. Doch dieser "Feind" ist nur allzu bekannt. Er heißt Armut, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung und Hoffnung auf ein besseres Leben. Vergangenes Jahr starben allein 200 Mexikaner beim Versuch, sich diese Hoffnung zu erfüllen und für ein paar Dollar Stundenlohn auf den Feldern der texanischen Großgrundbesitzer ihre unsichere Existenz zu fristen. Ein Leben in Blechhütten, ohne Strom und fließend Wasser, abgeschnitten von der Außenwelt, um nur nicht aufzufallen und der "Migra", der Immigrationspolizei der USA, in die Hände zu fallen. Wer mit falschen Papieren erwischt wird, kommt ins Gefängnis, die anderen werden binnen 24 Stunden dorthin abgeschoben, wo sie herkommen, wie etwa in der Erzählung "Die Arbeiterin Mariana". Sie lebt in einem der Vororte von Ciudad Juárez und muß von dort aus jeden Morgen mit dem Bus eine Stunde lang zu einer Montagefabrik fahren:

    "Sie schaffte den ersten Bus in der Calle de Cadmio und versuchte wie jeden Morgen, über die Siedlung aus Erdhaufen und Hütten hinauszublicken. (...) Schließlich sah sie immer zur Uferböschung hinüber, die steil zum Fluß abfiel und die ihren Blick mit dem Gesetz der Schwerkraft anzog, als stürzten sogar im tiefsten Inneren der Seele alle Dinge ständig nach unten. Schon um diese Zeit sahen die Flußufer in Juárez wie Ameisenhaufen aus. Die ärmsten Viertel wachten früh auf, und ihr lebhaftes Treiben floß mit dem Gewimmel zusammen, das sich aus den Hütten und von den Abhängen am Rand des schmalen Flusses ergoß und von dort auf die andere Seite hinübergelangen wollte. Dann drehte sie das Gesicht weg, ohne daß sie wußte, ob das, was sie sah, unangenehm war, ob es sie beschämte, ihr Mitleid erregte oder ihr den Wunsch eingab, es wie jene zu machen, die auf die andere Seite gingen."

    Carlos Fuentes ist bekannt dafür, daß er in seinen oft aktuelle Themen aufgreifenden Büchern versucht, die Perspektiven gerecht zu verteilen. So auch in "Die gläserne Grenze". Als eine, durchaus unsympathisch gezeichnete Hauptfigur taucht in vielen der neun Erzählungen der wohlhabende Leonardo Barroso auf. Der Großgrundbesitzer, Fabrikherr, Manager und Lebemann hat weitreichenden Einfluß. Er überquert die Grenze vor allem, um Geschäfte mit den Amerikanern zu machen oder um es sich in den Luxushotels auf der anderen Seite gut gehen zu lassen. Begleitet wird er dabei von seiner Schwiegertochter, die er zu seiner Liebhaberin gemacht hat. Sein Sohn ist unfähig, sich am Geschäftsleben zu beteiligen, sein Bruder lebt als menschliches Wrack in Texas, die Familie ist auseinandergebrochen. Auch alle anderen Gestalten in den Erzählungen weisen stets etwas Morbides auf, als würde die Grenzgegend denen, die dort leben, ein Stigma aufprägen. In dem Monolog "Die Linie des Vergessens", dem vielleicht eindrucksvollsten Stück dieses Buches, wird uns in stakkatohaften Sätzen das gescheiterte Leben von Leonardos Bruder vorgeführt. Emiliano wanderte schon früh in die USA aus und versuchte, seiner Familie dort ein besseres Leben zu ermöglichen. Doch er scheiterte an seinen kommunistischen Ideen, konnte seine Ideale nicht verwirklichen und wird sogar von seinen Kindern verlassen, die lieber bei dem reichen mexikanischen Onkel Schutz suchen. Am Ende findet sich der gelähmte Emiliano auf seinem Rollstuhl an der Grenze, über die er einst gelangte, wieder, ausgesetzt, namenlos, ohne Papiere, ein vor sich hin brabbelnder Alter, der in abgerissenen Sätzen nicht nur seine eigene Situation, sondern die einer ganzen Region zum Ausdruck bringt.

    "Wie heiße ich? Wie heißt mein Bruder? Ich kann erst antworten, wenn ich weiß, wie alle und jeder einzelne meiner namenlosen Brüder heißen. Warum gehen sie über die Grenze? Für alle haben wir unterschiedliche Argumente. Er: Die Gringos haben ein Recht darauf, ihre Grenze zu schützen. Ich: Man kann nicht von einem freien Markt sprechen und dann den Arbeiter, der auf die Nachfrage reagiert, am Grenzübertritt hindern. Er: Sie verletzen das Gesetz. Ich: Sie sind Arbeiter. Er: Sie kommen in ein fremdes Land, sie müssen es respektieren. Ich: Sie kehren in ihr eigenes Land zurück, wir waren eher hier. (...) Es wird Tag. Es wird Tag, und Umrisse erscheinen, die ich von meinem Stuhl aus sehe. Masten und Kabel. Drahtsperren. Asphalt. Abfallgruben. Blechdächer. Papphäuser, die an den Bergen kleben, Fernsehantennen, die an den Schluchten kratzen. Müllkippen. Endlose Müllkippen. Latifundien des Mülls. Hunde. Die sollen mir nicht zu nahe kommen. Und die Geräusche von Füßen. Sie rennen. Überqueren die Grenze. Geben das Land auf. Suchen die Welt. Immer Erde und Welt. Wir haben kein anderes Zuhause. Und sitzen unbeweglich, allein gelassen, an der Linie des Vergessens."

    So eindringlich diese Sätze klingen und dieses gesamte Prosastück in einer Beckettiade den Nerv des Themas trifft, um so bedauerlicher ist es, daß die meisten der neun Erzählungen dieses Niveau merklich unterschreiten und nur wenig dazu beitragen, in den einzelnen Texten die Teile eines Romans erkennen zu können. "Freundinnen", zum Beispiel, erzählt von einer Mexikanerin, die bei einer reichen Witwe im Norden Amerikas als Hausmädchen arbeitet, um den Anwalt ihres Mannes zu bezahlen, der unter Mordanklage im Gefängnis sitzt. Man fragt sich, warum Fuentes, diese Geschichte in die Textsammlung aufgenommen hat. Daß es sich um Mexikaner handelt, die hier vorgeführt werden, genügt nicht. Oder benutzt er sie dazu, uns klar zu machen, wie eingebildete Nordamerikaner ihre südamerikanischen Nachbarn sehen?

    "Es waren andere Menschen. Miss Amy versuchte, mit ihrem Verstand die schwarzen Augen, das dunkle Fleisch, das breite Lächeln der Freunde ihres Dienstmädchens, der Mexikaner zu durchdringen. Sie waren undurchdringlich. Sie spürte, daß sie eine Kaktusmauer ansah, als wäre jeder einzelne von ihnen tatsächlich ein Stachelschwein. Sie verletzten Miss Amys Blick, wie deren Hände sie verletzt hätten, wenn sie ihnen zu nahe gekommen wäre. Das waren Leute, die einem das Fleisch zerschnitten, wie eine unvorstellbare, nur aus Rasiermessern bestehende Kugel. Sie hatten nichts, wo man sie packen konnte. Sie waren anders, sie waren fremd, und sie bestätigten das Fräulein in seiner Abneigung, seinem Vorurteil..."

    In der Geschichte "Die Beute" schickt Fuentes den mexikanischen Gastronom Dionisio ‘Bacchus’ Rangel auf eine Vortragsreise durch amerikanische Universitäten und findet dabei reichlich Gelegenheit, sich über die Unterschiede der nordamerikanischen und mexikanischen Küche auszulassen. Er teilt seinen Lesern sogar einige Rezepte mit, etwa das für Pueblaner Maisfladen mit Knochenmark, wozu man sagen könnte, daß Horst Siebeck in dieser Beziehung seine Kunden besser bedient. Fuentes benutzt diese Erzählung hauptsächlich, um die Fast-Food-Mentalität des Nachbarstaates bloßzustellen und ergießt sich in einer, durchaus amüsant runtergeschriebenen Suada über die "Dicken":

    "Vierzig Millionen dicker Gringos! Waren sie nur die Folge schlechter Ernährung? Warum gab es sie nur in den Vereinigten Staaten - und nicht in Spanien, Mexiko oder Italien, trotz der Schwartenmägen, Tamales und Bandnudeln? Im Bauch jedes vorübergehenden Dickwanstes, so stellte sich Dionisio vor, steckten Millionen Zellophantüten, die in dem Hohlraum am Rippenfell sorgfältig Milliarden Kartoffelchips aufbewahrten, dazu Popkorn, mit Nüssen und Schokolade überzogene Honigkuchen, knackiges Müsli, dreifarbige, von Erdnüssen und heißem Karamelzucker gekrönte Eisberge, Hamburger aus Hundefleisch, die hart und dünn wie Schuhsohlen waren, doch inmitten aus Grabhügeln aus dickem, geschmacklosem, aufgedunsenem Brot serviert wurden, jene mit Ketchup (dies ist mein Blut) beschmierte und mit Kalorien (dies ist mein Leib) geladene nationale Hostie Nordamerikas.... Schwammige Hintern, feuchte und wie Gelatine durchsichtige Hände, eine rosa Schuppenhaut, die eine eitrige, blutige Masse enthielt und am Austreten hinderte (...): So sah er sie vorbeiziehen."

    Auch hier eine Grenze, könnte man sagen, diesmal die kulinarische, physisch-ästhetische zwischen Mexikanern und Nordamerikanern, und natürlich gibt es auch noch viele andere Differenzierungen. Allen voran die der Kulturen. Was hätten etwa die Vereinigten Staaten aufzuweisen gegenüber den Schätzen, die Mexiko beherbergt? Die jedes Jahr Millionen von Touristen über die Grenze bringen. Die Pyramiden und Tempel der Azteken, die Masken- und Totenfeste, die Musik der Mariachis? Was gibt es demgegenüber an Vergleichbarem in den Staaten? In der Erzählung, die dem Roman den Titel gibt, befindet sich eine Gruppe mexikanischer Arbeiter per Flugzeug auf dem Weg nach New York, um dort eines der Bürohochhäuser zu reinigen. Leonardo Barroso, begleitet natürlich von seiner Geliebten und Schwiegertochter, hat diesen legalen Transfer vermittelt, weil es den amerikanischen Betreibern des Mietkomplexes um ein Drittel billiger kommt, mexikanische Gastarbeiter einfliegen zu lassen, als Arbeitskräfte im eigenen Land zu heuern. Unter den Mexikanern ist auch Lisandro Chávez, der zum ersten Mal mit dieser Kulisse des Reichtums konfrontiert wird.

    "(Er) weigerte sich, wie ein Hinterwäldler die vierzig Stockwerke nach oben zu blicken, er fragte sich lediglich, wie sie wohl die Fenster mitten in einem Schneesturm putzen sollten, der es manchmal schaffte, sogar die Silhouette des Bauwerks zu verwischen, als wäre auch der Wolkenkratzer aus Eis. Er war ein Blendwerk. Als der Tag allmählich heller wurde, konnte man ein Gebäude ganz aus Glas erblicken, ohne einen einzigen Werkstoff, der nicht durchsichtig war: eine unermeßliche, aus Spiegeln bestehende Spieldose, durch die ihr eigenes verchromtes, vernickeltes Glas zusammengehalten; ein Palast aus gläsernen Spielkarten, ein Spielzeug aus quecksilbernen Labyrinthen."

    Lisandro Chávez, der aus Mexiko angeheuerte Fensterputzer, hat in diesem Spiegelkabinett eine Begegnung mit der Frau eines nordamerikanischen Unternehmers. Sie sehen sich in dieser Zufallsbegegnung durch das sie trennende Fensterglas hindurch an, die frustrierte Unternehmerin und der schmucke mexikanische Hilfsarbeiter. Die gläserne Grenze ist demnach nichts als eine Glasscheibe, die Klischees trennt. So hält Carlos Fuentes in seinem "Roman aus neun Erzählungen" für jeden Geschmack etwas bereit: der reiche, marode Boß, der in der Schlußszene natürlich von der Drogenmafia ermordet wird, das arme Fabrikmädchen, das von ihrem Freund mit einer Gringa betrogen wird, den schwulen in den Staaten studierenden Medizinstudenten in der Erzählung "Der Schmerz", der sich den konservativen Vorurteilen nicht mehr aussetzen will und deshalb nach Mexiko zurückkehrt - Carlos Fuentes hat die Karten bestens gemischt, um uns ein Potpourri aus Schmerz und Sehnsucht, Nostalgie und Patriotismus zu servieren, dem man sich allerdings in einzelnen Passagen dieses Erzählwerks nicht entziehen kann und möchte. Im Endeffekt aber wirkt vieles aufgesetzt und dieses zugleich reizvolle und aufregende Thema in der Perspektive eines Romans verschenkt. Seinem von Thomas Mann abgeleiteten Anspruch, demnach ein Roman "die Fäden vieler menschlicher Schicksale in der Kette einer einzigen Idee zusammenziehen" solle, wird Fuentes in der "gläsernen Grenze" nur zum Teil gerecht, weil viele der Schicksale, mit denen er uns konfrontiert, zu oberflächlich gestaltet sind. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA, das Leben der Menschen jenseits des Rio Bravo ist zu sehr von Armut, Elend und verzweifelter Hoffnung bestimmt, als daß diese "Idee" des Romans es zuließe, sie zu trivialisieren. Aber wir wissen ja, daß Fuentes dazu neigt, sich in brillanten Formulierungen zu gefallen und gern auch einmal - wenn auch nicht ohne Selbstironie - zu übertreiben:

    "Es gab Millionen mexikanischer Arbeiter in den Vereinigten Staaten, und dreißig Millionen Einwohner der USA sprachen Spanisch. Wie viele Mexikaner sprachen dagegen ein korrektes Englisch? Dionisio kannte nur zwei, Jorge Castañeda und Carlos Fuentes, und darum kamen ihm diese zwei Herrschaften verdächtig vor."