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Die Globalisierungsfalle

Constantin von Barloewen: Der Mensch im Cyberspace Vom Verlust der Metaphysik und dem Aufbruch in den virtuellen Raum Diederichs, 1998, 200 Seiten, 36 Mark

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Daniel Cohen: Fehldiagnose Globalisierung Die Neuverteilung des Wohlstands nach der dritten industriellen Revolution Campus, 1998, 206 Seiten, 36 Mark

    Hans-Peter Martin und Harald Schumann: Die Globalisierungsfalle Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand Rowohlt, 1996, 384 Seiten, 39,80 Mark

    Was einmal als "Transformierung des Durstes in ein Bedürfnis nach Coca Cola" begonnen hatte - wie der Philosoph Ivan Illich die Vereinheitlichung der Waren und deren weltweit gleiche Werbung im Prozeß der Globallsierung pointierte -, hat sich zu einem Netz bekannter Namen quer durch die Industrien und Kommunikationstechnologien verdichtet. Zugleich haben sich die Strategien der Durchsetzung auf dem Markt verfeinert, die Dynamik ist explosiver geworden und hat die ehemals dominierenden Regeln und Steuerungsformen des Staates an die Seite gedrängt.

    Diese Entwicklung führt - in der Perspektive der düsteren Visionen - zu einer grundlegenden Gefährdung der demokratischen Grundprinzipien und zu einer dramatischen Zuspitzung der Arbeitslosenquote. Als sich Ende 1995 in San Francisco die Weltelite aus Politik, Wirtschaft und Technologie traf, um einen (rücksichtslosen) Blick auf das 21. Jahrhundert zu werfen, lautete die im großen und ganzen einhellig vorgebrachte Formel für das Verhältnis von Menschen, die Arbeit haben, und Arbeitslosen "20 zu 80". Die Frage sei künftig, "to have lunch or to be lunch", zu essen haben oder gefressen zu werden. Die Wohlhabenden müßten sich in Zukunft etwas einfallen lassen, um die arbeitslose, frustrierte Bevölkerung bei Laune zu halten, in einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung - auch "tittytainment" genannt. Dies ist die Botschaft des erfolgreichen Buches "Die Globalisierungsfalle" der Journalisten Hans-Peter Martin und Harald Schumann.

    Selbst wenn solche, heute sehr verbreiteten Beschreibungen ein großes Maß an Ratlosigkeit offenbaren - wenn man sich nun für einen erbarmungslosen "Kampf der Kulturen" rüstet -, so lenken sie doch mit aller Deutlichkeit unseren Blick auf die dieser Entwicklung eigenen irrationalen Momente einer Globalisierung, die gerade nicht (wie es das Wort verheißt) zu einer Erweiterung, sondern zu einer Verengung der Lebensmöglichkeiten führt, dazu, daß die anvisierte eine Welt weniger ist als die Gesamtheit der vielen Welten. Größere räumliche Nähe erzeugt zugleich neue Polarisierungen und Entfremdungen.

    Die Sorge um die Zukunft vereinigt viele der zur Globalisierung angestellten Überlegungen. Obwohl Globalisierung aufs engste mit einer Zukunft zusammenhängt, die unsicher ist und die wir nicht wissen können, läßt sich heute eine extreme Berührungsangst gegenüber den Unsicherheiten, dem sogenannten Nichtrationalen und Nichtpragmatischen feststellen.

    Die vielleicht größte Schwierigkeit bei dem Versuch, Globalisierung zu verstehen, besteht darin, sich nicht in den Netzen scheinobjektiver Prozesse zu verfangen, sondern ebenso dem Gefühl und der Erfahrung Raum zu geben, daß es sich hier auch um Vorgänge handelt, die sich in unmittelbarer Nähe des Menschen, in seinen Lebensbezügen und in seiner Kultur abspielen. Wie läßt sich der Bogen schlagen von der beeindruckenden Obermacht weltpolitischer und ökonomischer Vorgänge, von dieser Welt des Nützlichen und der scheinbar rational legitimierten Zwänge zu der Welt des Individuellen, des im Individuellen sich zeigenden und gelebten Gesellschaftlichen und Kulturellen?

    Globalisierung ist ja nicht nur etwas, das auf einer äußeren Bühne geschieht; das Geschehen spielt sich auch auf der inneren Bühne eines jeden ab und berührt das Religiöse.

    Ist all das moderne und scheinbar ganz und gar unspirituelle Reden von Internet und Mailbox, von virtueller Realität und Simulation gar nur eine andere Form des Religiösen? Ist der virtuelle, der künstliche, der technisch realisierte Raum und Kraftort ebenso immateriell wie Gott? Nimmt man also im Glauben an das technisch Hergestellte wieder Fühlung auf mit Gott als reinem Geist - und entlastet sich solcherart vom realen Weltzustand, der geprägt ist von Kriegen, Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut? Bezeichnet man die Gesamtheit all dieser technischen Vorgänge um Virtualität und Simulation, um Bilderflut und Bilderwahn, um digitale Revolution und Globalisierung, um bioelektronische Neuerungen und Wissenskumulation mit dem Begriff Cyberspace, dann ist Cyberspace eine "technische Form Gottes", ein Ersatz für verlorengegangene Religiosität und Metaphysik.

    In einer solchen Perspektive, wie sie für das Buch "Der Mensch im Cyberspace" leitend ist, wird versucht, den Auseinanderfall von Technologiegläubigkeit und Religiosität als bloßen Schein zu entlarven. An die Stelle der scheinbaren Gegensätzlichkeit tritt die Frage, wie eine gelebte Spiritualität in Zukunft aussehen kann.

    Das neue Buch des in Paris lebenden Anthropologen Constantin von Barloewen ist von einem Erkenntniswunsch, der das Pathos nicht scheut, und von einem angesichts der technikgläubigen Schein-Avantgarde geradezu hehren Ton des Geistigen, Ethischen und Würdevollen geprägt.

    Der Autor versucht einen ungewöhnlichen Balanceakt: sich im Detail auf die Sprache, die Ideen, Ideale und Idole der Medientechnologen und global players einzulassen - eine Geschichte des Virtuellen und der Simulation zu schreiben, den neuen Technozentrismus zu erfassen - und doch unterhalb all dieser scheinbar so vernünftigen und rationalitätsverbundenen Aktivitäten einer ganz anderen Spur zu folgen: der des Transzendenten (den Kräften also, die die materielle Welt übersteigen), der des Heiligen und Religiösen, des Mythischen und Ursprünglichen. Sind denn, so seine Frage, diese sich vernünftig gebenden Aktivitäten nicht bloß versteckter Ausdruck einer Sehnsucht und eines Wunsches nach etwas ganz Anderem? Kann man sich denn überhaupt vorstellen, daß der Mensch sein Leben in Dienstleistungen und im Verfolgen ökonomischer Interessen, in marktwirtschaftlichen und technischen Überlegungen erfüllt sieht; daß er sich in Lagerhäusern für Daten und Informationen zu Hause fühlt und sich von den hohlen Versprechungen blenden läßt, im Cyberspace erfahre er ganz neu seine Individualität und die Gesellschaft würde wahrhaft demokratisch, weil sie global an alle Märkte angeschlossen werde? Ist es nicht vielmehr so, daß Cyberspace selbst mythisch und religiös überhöht, mit Phantasien des Religiösen und Geistigen hoch besetzt wird? Ist es nicht ein Ort, an dem das Heilige und Metaphysische neu aufscheinen?

    Das Religiöse ist fortan nichts mehr klar Definiertes. Religion gibt es nur noch im Plural, in Vermischungen und Überschneidungen zwischen der technischen und der traditionell-kulturellen Welt, zwischen der westlichen und der östlichen Welt. Mythische Erzählungen von der Entstehung und dem Sinn der Welt, traditionelle Naturverbundenheit, Achtsamkeit und Ökologie, Meditations- und Ekstasetechniken, alte Geheimlehren und Kraftorte werden wiederbelebt und ins eigene Leben einbezogen.

    Barloewen aber ist skeptisch gegenüber dieser Wiederverzauberung der Welt durch die neue religiöse Subkultur. Er sieht in der "Renaissance des Religiösen", die an den traditionellen Kirchen und Konfessionen vorbeigeht und zu einer "Entchristlichung des Religiösen" führt einen "religiösen Eklektizismus", der sich die Enttäuschungen und Selbstentfremdungen durch Fortschritts- und Technikideologien zunutze macht.

    Wie aber kann man dem Religiösen und der Metaphysik zutrauen, daß sie die Selbstentfremdungen des Menschen, die "Versteppung der emotionalen Lebenskultur" überwindet, wenn ihr doch zugleich von Barloewen ihr "nebulöser mystisch-esoterischer" touch vorgehalten wird.

    Warum glaubt von Barloewen - was ja heute von Denkern ganz unterschiedlicher Richtung vertreten wird -, daß das 21. Jahrhundert nur als ein spirituelles Jahrhundert eine Chance habe? "Es bleibt als Frage, ob die neue Sinngebung und Metaphysik, die Resakralisierung aus den westlichen Gesellschaften selbst erwachsen kann (ob sie noch genügend Substanz und innovative Kraft haben) oder ob diese Erneuerung mithilfe einer Art Anleihe bei den außereuropäischen Kulturen geschehen muß."

    Ganz und gar unberührt von solchen Reflexionen ist das neue Buch des in Paris lehrenden Wirtschaftswissenschaftlers Daniel Cohen. Der Autor versucht in seiner "Fehldiagnose Globalisierung" dem Leser die Globalisierung gerade als Teil einer neuen industriellen Revolution schmackhaft zu machen. Nach der Revolution der Transportmittel durch Eisenbahn, Auto und Flugzeug müsse die jetzt anstehende Computerrevolution die Menschen nicht erschrecken. Man vernimmt die Botschaft gern - allein, es fehlt der Glaube. Cohens Denken bewegt sich in einem sehr engen Rahmen einiger Fragen nach der neuen Arbeitsorganisation und nach Veränderungen des sozialen Lebens. Die Welt werde nicht gleichförmiges, meint der Autor und beläßt es bei diesem Glaubensbekenntnis. Und seiner Überlegung, daß doch mit den Techniken, die man exportiert, auch Inhalte wie die Demokratie verbreitet würden, läßt Cohen keine weiterreichenden Reflexionen folgen.

    Liest man als Nicht-Wirtschaftswissenschaftler, als einer, der sich den Fragen der Globalisierung und der Zukunft unserer Gesellschaften mehr aus einem allgemeinen gesellschaftskritischen Interesse und aus einem geisteswissenschaftlichen Gesichtswinkel zuwendet, dann ist man überrascht von der Unbekümmertheit, mit der hier ein Universitätsprofessor von Fortschritt, Reichtum und Wohlstand spricht und ohne jede Einschränkung Voraussagen für die nächsten zwanzig Jahre zitiert, so, als wisse überhaupt jemand, was auch nur in fünf oder zehn Jahren geschehen wird. An Prognosen über Wachstumsraten in Europa oder Asien bis zum Jahre 2018 zu glauben, zeugt schon von einer gehörigen Portion an Naivität.