Jedes Frühjahr und jeden Herbst erscheinen neue Romane, die in Berlin spielen. Und in vielen von ihnen ist die Stadt nicht nur eine undeutliche Kulisse, Hintergrundstaffage sozusagen, sondern viel mehr: So etwas wie eine Grundbedingung der erzählten Geschichte, eine Art Protagonistin fast. Und diese Romane spielen nicht nur in der Gegenwart, sondern in allen wichtigen historischen Epochen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts.
" Natürlich ist Berlin auch der Brennpunkt der deutschen Geschichte gewesen, in den letzten 150 Jahren. Alles, was sich in Berlin zugetragen hat, hat Auswirkung auf ganz Deutschland gehabt. Auf Europa sogar. Oder sogar auf die Welt. Also Berlin, das ist für mich, möchte ich sagen, Überschrift: so ein bisschen Reizklima. Da prallen die Welten aufeinander, und das hat sich immer wieder so ergeben. Gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Berlin: Viersektorenstadt, geteilte Stadt. Mauerbau und Mauerfall. Da braucht man gar nicht weiter zu erzählen, da hat sich Weltpolitik abgespielt. Und wenn man sich da auch noch gut auskennt in der Stadt, dann ist das für einen Autor natürlich besonders günstig. "
Klaus Kordon muss es wissen! Denn wenn einer das Recht hat unter den deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautoren, zu sagen "Ich bin ein Berliner", dann ist er es. Geboren 1943 in Berlin wuchs er im Osten der zerstörten Stadt auf, lebte dort fast dreißig Jahre und wurde nach einem Fluchtversuch mit seiner Familie und einem Jahr U-Haft 1972 vom Westen freigekauft. Aber schon 1988, ein Jahr vor der Wende, kehrte Klaus Kordon nach Berlin zurück. Ein Leben weit weg von seiner Heimatstadt - auf Dauer ging das nicht.
Berlin ist aber nicht nur Klaus Kordons Heimatstadt. Nicht nur Ort seiner Kindheit und Jugend, seiner Opposition gegen das DDR-Regime und Ziel seiner Sehnsüchte, solange er als freigekaufter Republik-Flüchtling im Rhein-Main-Gebiet lebte. Berlin ist auch sein literarischer Ort: Hier spielen viele seiner Kinder- und Jugendbücher und natürlich seine autobiographischen Werke. Hier spielen aber auch seine beiden historischen Trilogien. Die eine - noch unabgeschlossene - im 19.Jahrhundert, und die andere, die abgeschlossene "Trilogie der Wendepunkte" im zwanzigsten. Kein anderer Kinder- und Jugendbuchautor hat sich so intensiv mit der Stadt beschäftigt, ist ein so zuverlässiger Führer durch ihre Geschichte und ihre Topographie wie er.
" Ich sage immer, in Berlin gibt es so eine Art Reizklima. Ich weiß nicht, woher das jetzt kommt, das ist eigentlich immer schon so gewesen, dass in der Stadt immer alles sofort rauskommt, also hochgespielt wird. Während es in anderen Städten unter der Decke bleibt und gar nicht so erwähnt wird. In Berlin war es immer schon so gewesen, die Leute haben ihren Mund aufgemacht und ne Klappe riskiert, wie man so schön sagt. Und dann prallt es eben manchmal heftiger aufeinander."
Fräulein Eleonore lachte entwaffnend ... Sie stockte kurz und blickte erst Lotte, dann Mama an. Auf einmal tiefernst fuhr sie fort: "Ich würde so gerne Mathematik und Physik studieren und das Staatsexamen für das höhere Lehramt machen, aber ob das einmal gehen wird, weiß ich nicht. Christiane sagt, Fräulein Helene Lange kämpft als Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins für die Zulassung von Frauen zum Examen ... an der Universität. Doch auch Fräulein Lange befürchtet, dass es bis dorthin ein steiniger Weg sei. Bisher sei es in Berlin noch keiner Studentin gelungen, zur Staatsprüfung für das Höhere Lehramt zugelassen zu werden. Eine ihrer ehemaligen Schülerinnen der Gymnasialkurse, die als Gasthörerin Mathematik und Naturwissenschaften studiert hat, habe schon mehrfach vergebens den Antrag gestellt, Staatsexamen machen zu dürfen - ach, es ist ungerecht!
Berlin 1890. "Bülowstraße 80" ist der Titel von Gabriele Beyerleins Roman und die Adresse der Familie Dr. Schneider. Hier wohnt der jüdische Arzt mit seiner Frau Sophie und den drei Kindern Charlotte, Wilhelm und Richard in der Beletage eines großen Hauses. Man lebt gut- bis großbürgerlich, besucht Kaffeezirkel und Bälle, geht in die Oper und ins Theater, hat Bedienstete und viele Freiheiten. Aber letzteres gilt nur für die Männer. Denn Konventionen und Traditionen - oder aber der Ehemann beziehungsweise Vater - verbieten Frauen und Mädchen noch vieles: Romane schreiben und Fahrradfahren, Geld verdienen und verwalten schicken sich nicht. Frauen dürfen keine politischen Versammlungen besuchen, nicht wählen und nicht studieren. Doch ein Geruch von Widerstand, von Aufbegehren liegt schon in der Luft.
Kordon: " Dann haben wir 1890. Und da weiß man ja, dass zu dieser Zeit die Entwicklung rasant voran geschritten ist. Die haben noch keine Rechte erkämpft, das kam erst nach dem Ersten Weltkrieg. Aber dass es immer mehr Frauen gab, die das eingefordert haben, das ist eine Tatsache. "
"Bülowstraße 80a" erzählt von der erwachenden Emanzipation der Frau, wobei der Schwerpunkt nicht auf dem politischen, sondern im psychologischen Bereich liegt. Sophie, die Mutter, wird nach dem Tod ihres Mannes plötzlich viel mutiger und selbständiger, als sie je von sich gedacht hätte. Und ihre Tochter Charlotte kennt nur ein Ziel: Sie will studieren. Langsam aber stetig durchbohren liberale Gedanken die fest gefügten Mauern des Gründerzeit-Denkens. Und während die Arbeiter immer heftiger um eine soziale Gerechtigkeit kämpfen, wagen sich junge Frauen wie Charlotte Schneider vor in die heiligen Tempel der Bildung. Dass eine solche Entwicklung nur in einer Großstadt möglich ist, ist klar. Und in der Hauptstadt Berlin formiert sich mit Gertrud Bäumer und Helene Lange die Spitze der Bewegung. Nirgendwo in Deutschland ist das Klima so liberal wie hier an der Spree. Und nirgendwo in Deutschland überschlagen sich die politischen Prozesse in den nächsten Jahren in einer derartigen Geschwindigkeit.
Was nicht nur für die Emanzipation der Frau gilt, sondern für sämtliche soziale Entwicklungen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wird Berlin zur riesigen Industriestadt mit großen Fabriken, einem hohen Arbeiteranteil und unzähligen engen, feuchten, dunklen Mietskasernen. In ihrem Roman "Drei Zeichen sind ein Wort" entwirft Waltraud Lewin ein sehr präzises Portrait dieser dunklen Rückseite der Metropole. Berlin 1923:
Sie geht über den Hof. Der Putz fällt von den Wänden, es stinkt nach Müll, und im Treppenhaus des Seitengebäudes, wo sie die drei Stiegen hochsteigt, ist wohl das letzte Mal vor zehn Jahren der Anstrich erneuert worden. Ein paar Scheiben sind kaputt. Das Regenwasser sammelt sich unter den Fensterbrettern auf dem Boden. Jemand hat mit Kreide an die Wand geschmiert: Luise geht mit Max ...
Kordon: " Es war also schon auch eine sehr arme Stadt damals. Das Problem ist, dass die Leute, immer wenn sie jetzt "Berlin" hören, Zwanziger Jahre, die "Goldenen Zwanziger", dann sehen sie immer nur Theater, Tanzcafés und den rasanten Verkehr, der in der Zeit auch immer stärker angewachsen ist. .. und diese Mischung aus Armut und Talmi-Glanz, von den Reichen, die da in Saus und Braus gelebt haben, gleichzeitig auch die Kunst- und Kulturstadt, ... die damals ja auch die Stadt in Europa war, was das betroffen hat, diese Mischung aus allem zusammen hat das Berlin der 20er Jahre ergeben. "
Waltraud Lewin schildert in ihrem Roman "Drei Zeichen sind ein Wort" beide Seiten der Großstadt: den Glanz und die Armut, das Theater und die Mietskasernen. Es ist, als begleite man ihre Protagonistin Leonie Lasker auf ihren Wanderungen durch die Straßen, schlendere mit ihr über den noblen Gendarmenmarkt, gehe mit ihr Unter den Linden spazieren und folge ihr ins jüdische Scheunenviertel. Denn dort spielt ein großer Teil der Geschichte, in einem jüdischen Theater, wie es viele gab in den Zwanziger Jahren. Leonie ist dort auf der Suche nach weitläufigen Verwandten, denn sie hat herausgefunden, dass auch sie selbst jüdische Wurzeln hat.
Bevor sie sich überhaupt richtig umschauen kann, stürzen sich Gerüche auf sie. Sie stauen sich in der Gasse - Knoblauch und Fisch, Urin, verfaulende Abfälle. Was ihr entgegenkommt auf dem Gehweg, riecht nach Schweiß und billigem, durchdringendem Parfüm.
Wo ist sie hingeraten? Als Erstes stößt sie auf eine Taubenhandlung, Gurren und Flügelschlagen, "Tauben aller Rassen" steht da. Daneben Entengeschnatter aus einer Bretterbude. Ist das ein Esel, der da auf einem Hinterhof durchdringend schreit?
Und dann die Häuserfassaden, verkommener, bröckelnder Putz, fast bis zum First bedeckt mit hebräischen und deutschen Schriftzeichen: "Beste Butter - Kolonialwaren - Holz und Heringe -Gänse, geschächtet - Schul - Hebräische Bücher", es rankt sich auch in den Durchgängen entlang, wo es zu den Hinterhöfen geht, finstere Schluchten. Sie steht und sieht sich um.
Auf einmal ist sie fast umzingelt. Mitten in der Gasse hineingeraten in eine Menschentraube. Lauter Männer in diesen schwarzen schleppenden Kaftanen, mit großen Hüten oder Pelzmützen, langen Bärten und Locken zu beiden Seiten des Gesichts...
Vor Schreck duckt Leonie sich ein bisschen, aber dann merkt sie, dass diese Männer sie gar nicht zur Kenntnis nehmen. Sie ist da rein zufällig hineingeraten, in irgendein großes Palaver. Die reden aufeinander ein, beinah ekstatisch, gestikulieren, gehen in kleinen Schritten umeinander herum. Es sieht aus wie ein merkwürdiger Tanz. Absurdes Theater.
Und wie sie reden! Ist das nun Deutsch oder nicht? Offenbar dies Jiddisch, von dem Isabelle gesprochen hat. Leonie versteht nur jedes zweite Wort. Sie bahnt sich einen Weg durch die diskutierende Männergruppe. Will weiterkommen. Aber nur ein paar Schritte und wieder ist es genauso voll in der engen Gasse.
Waltraud Lewins "Drei Zeichen sind ein Wort" ist eine Mischung aus historischem Roman, Abenteuer- und Liebesgeschichte und der erste Teil einer geplanten Trilogie. Und auch eine liebevolle Genrezeichnung des versunkenen jüdischen Lebens im Berlin der Zwanziger Jahre. Denn Berlin war Berlin gerade auch durch den jüdischen Anteil seiner Bevölkerung.
Kordon: " Und gerade das Scheunenviertel ist natürlich eine sehr interessante Gegend für diese Zeit auch gewesen, weil da sehr viele Juden aus den Ostländern, also aus Polen und Russland nach Berlin kamen. Viele wollten eigentlich weiter .. sie wollten nach Amerika, und sind dann aber hier hängen geblieben, einfach weil das Geld gefehlt hat oder irgendwelche anderen Gründe gewesen sind. Und das Interessante war ja, dass diese Ostjuden bei den eingestammten deutschen Juden auch nicht beliebt waren. Die hatten sich längst schon als Deutsche gefühlt und hatten das Gefühl, durch diese Ostjuden werden sie selber mit in Haftung genommen als Jude. "So sind eben Juden." Und die Ostjuden waren eben meistens auch sehr arm und lebten im Scheunenviertel entsprechend."
Auch in der Berlin-Literatur spielen Juden eine wichtige Rolle. Gabriele Beyerleins Dr.Schneider ist Jude, Leonie Lasker ist Jüdin, und auch Rita Moebius, die Protagonistin von Waltraud Lewins neuem Roman "Wiedersehen in Berlin" hatte eine jüdische Mutter. Diese wurde von Ritas Vater an die Gestapo verraten, weshalb Rita vor den Nazis floh, sich jahrelang mit ihrer kleinen Tochter in Marokko in den Bergen versteckte und erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die völlig zerstörte Heimatstadt zurückkehrt. Hier herrschen Hunger, Kälte und Krankheiten. Graue, dürre Menschen leben in Schutt und Trümmern, Ruinen und Kellern, man überlebt durch Diebstahl oder Tauschhandel. Zentrum des Treibens ist der Schwarzmarkt.
Es ist das gleiche Bild wie gestern, das Gewimmel, die Grüppchen, die jungen Männer, manche mit Chromlederstiefeln und Trenchcoats, andere dagegen in langen schwarzen Mänteln, alle mit Hüten auf den Köpfen, und die jungen Frauen mit den Pelzen überm Arm oder den Koffern in der Hand. ...
Das Erste, was ich sehe, als wir von der Straße abbiegen und um die Ecke gehen, macht mich so perplex, dass ich stehen bleibe. Ich glaube meinen Augen nicht zu trauen. Auf einem eingezäunten Geviert herbstlich dürren Rasens stehen Kühe. Schwarzbunte Kühe mitten in Berlin. Ich starre die Kühe an und die Kühe wenden allesamt die Köpfe und starren mich an, während sie rhythmisch kauend ihre Mäuler bewegen.
Berlin 1947. Rita Moebius, die 23-jährige Heimkehrerin, erzählt ihrer kranken kleinen Tochter Alouette - und damit dem Leser - ihre kurze, intensive und spannende Liebes- und Lebensgeschichte. Sie erzählt Geschichte im doppelten Sinn des Wortes, als Historie der Nazi-Zeit und des Krieges wie als individuellen Leidensweg. Sie erzählt von Flucht und Angst, Liebe und Vertrauen, Haß und Sehnsucht nach Geborgenheit. Alouette, Ritas schwer kranke Tochter, ist ungefähr so alt, wie Klaus Kordon (damals war). Seine Erinnerungen und Rita Moebius' Erzählung haben viele Gemeinsamkeiten.
Kordon: " Also, das sind so ziemlich düstere Bilder, die in meinem Kopf da rumspuken, wenn ich an meine früheste Kindheit denke. Aber auch Bilder, die so das Überleben zeigen, wie die Menschen versucht haben, in dieser Zeit zu überleben, gerade die Mütter, die in dieser Zeit unwahrscheinlich viel leisten mussten. Die Männer waren im Krieg geblieben oder in Gefangenschaft geraten, sie hatten meistens Kinder, mehrere Kinder ... .die mussten versorgt werden, gleichzeitig musste man aber arbeiten gehen."
Frauen stehen auch im Mittelpunkt von Waltraud Lewins "Wiedersehen in Berlin". Sowohl in den Teilen, die im bunten Marokko angesiedelt sind, wie in denen, die im grauen Berlin spielen. Starke, mutige, sinnliche, aufrechte Frauen. Frauen die solidarisch sind untereinander, Frauen die die Verantwortung übernehmen für ihre Kinder und eine bessere Zukunft.
Kordon: " Es waren ja die Frauen, die nach dem Krieg wieder anpacken mussten, Männer waren ja nicht da. Fabriken in Gang setzen, Schutt wegräumen, neue Häuser bauen. Frauen als Maurerinnen ... Also diese Bilder, diese kaputte Stadt, die aber trotzdem von einem Überlebenswillen geprägt war, der bewundernswert ist!"
Und dieser Überlebenswille bleibt das Kennzeichen einer Stadt, deren beide Teile während des Kalten Krieges ums Überleben kämpfen mussten. Bezahlte der Westteil den steilen Weg nach oben mit der Isolierung, mit der Insellage im Feindesland, so bezahlte der Ostteil der Stadt seine herausgeputzten Vorzeigefassaden im Zentrum mit der Verödung der Wohnquartiere.
Kordon: " Wenn man dann nach Ost-Berlin rüberging ... da habe ich das Gefühl gehabt: hier stirbt alles. Denn die jungen Leute sind weggezogen, die sind in die Neubauwohnungen gezogen, denn man wollte ja ein bisschen Komfort haben, Zentralheizung und heißes Wasser aus der Leitung, und das war in den alten Häusern, weil die nicht saniert waren, nicht möglich Also sind junge Leute weggezogen, und die alten sind geblieben, und die Läden haben zugemacht .. also das war schon fast eine Gespensterstadt manchmal, wenn man durch den Prenzlauer Berg ging. Die alten Häuser unsaniert, die Läden zu, die Jalousien runter, und keine Jugend. Und wo keine Jugend ist, da sind auch keine Kinder. "
Berlin 1984. Mitten durch die Stadt zieht sich die Mauer. Sie trennt nicht nur zwei politische Systeme und zwei Welten, sie trennt vor allem auch die Menschen. In ihrem Buch "Zwischen uns die Mauer" erzählt Katja Hildebrand vom geteilten Berlin. Die sechzehnjährige Katja aus Westdeutschland lernt im Rahmen einer deutsch-deutschen Jugendbegegnung in Ostberlin den ein Jahr älteren Markus kennen. Gemeinsam streifen sie durch die Stadt.
Papiertüten mit süßem, fettigen Gebäck in den Händen, bummelten wir dann durch das herausgeputzte Nikolaiviertel. Ein paar renovierte Häuser und viele Neubauten, die den Stil der historischen Häuser imitierten, säumten ein Stück Fußgängerzone. Es war nicht gerade aufregend, aber freundlicher als die engen, grauen Straßenzüge, durch die wir später liefen. Dort schälte sich die Farbe von verwahrlosten Häusern mit verwitterten Fensterrahmen. In manchen Fassaden waren noch die Einschusslöcher des letzten Krieges zu erkennen. Ein muffiger Geruch wehte uns aus zerschlagenen Kellerfenstern entgegen.
Katja Hildebrand zeichnet in ihrem autobiographischen Buch "Zwischen uns die Mauer" ein sehr genaues Bild von West- und Ostberlin, schildert den Eindruck, den Mauer und Stacheldraht auf die Schüler aus Westdeutschland machen und erzählt von einer großen, ernsthaften Liebe. Nach dem ersten Kennen lernen entwickelt sich zwischen Katja und Markus ein intensiver, ebenso zärtlicher wie verzweifelter Briefwechsel. Sie besucht ihn heimlich in Ostberlin, sie schmieden Fluchtpläne, geben sich trügerischen Hoffnungen hin, sehnen sich schmerzlich nacheinander und scheitern schließlich doch an den politischen Verhältnissen. Zunächst zumindest. Was sie nicht ahnen: Dass vier Jahre später die Mauer fallen wird. Und 1989 gibt es ein nach der Wende ein wunderbares Wiedersehen ...
Liebe in Berlin. Immer wieder muss sie scheitern in diesen Romanen, oder ist zumindest zutiefst gefährdet. Als biete die in sich zerrissene Stadt ihren Bewohnern und deren Gefühlen nicht genügend Schutz. Oder als fordere sie das Unmögliche geradezu heraus: Ob Doktorsfrau und Assistent des Ehemannes in "Bülowstraße 80a"; ob deutsche Halbjüdin und französischer Widerstandskämpfer in "Wiedersehen in Berlin" oder Katja und Markus in "Zwischen uns die Mauer". Bestand die Mauer zwischen den Liebenden früher aus Standesdünkel und Konventionen, ist sie später aus Stein und Stacheldraht.
Berlin 2003. Auch Jupps Liebe zu Jenny in "Jenny, die Mauer und die Liebe" ist mehr als schwierig. Jupp studiert in Berlin, er ist Musiker, Gitarrist, und lernt bei einem Casting Jenny kennen, die ohrenbetäubende Schlagzeugerin. Schon Jupps Eltern Holger und Isabelle haben in Berlin studiert, und Jupp selbst ist in Berlin geboren.
Und als die Mauer fiel, als Pink Floyd, ganz wie Honecker und Genossen das immer befürchtet hatten, ihren Triumph des freien Rock 'n' Roll über den Sozialismus in den Berliner Himmel malten und ihre altbekannte Sau fliegen ließen, da hielt Holger nichts in Bayreuth. Er packte Isabelle und mich ins Auto und so wurden wir ein Teil dieses großen Taumels, der in jenen Tagen Berlin schwindelig machte. Ich saß stundenlang auf seinen Schultern und wedelte mit zwei bunten Leuchtstäbchen durch die Nacht. Wenn ich nach unten in sein Gesicht fasste, spürte ich, dass seine Backen von Glückstränen feucht waren.
In Berlin wird heftiger gelitten und sehnsuchtsvoller geliebt, böser gehungert und glücklicher gefeiert als in anderen Städten. Zumindest in den Jugendbücher. Berlin ist noch immer schneller und frecher. Schnell, frech und lebendig, aber auch sehr liebevoll und anrührend erzählt Reinhold Ziegler in "Jenny, die Mauer und die Liebe" gleich zwei Liebes-Geschichten. Die von Jennys Eltern im Jahr 1984, die letztendlich kaputt geht an den Folgen der deutschen Teilung. Und die von Jupp und Jenny im Jahr 2003. Heimliche Protagonistin aber bleibt die Stadt selbst, mit der Mauer als Wunde, mit der Wende, mit ihren In-Vierteln Kreuzberg und Prenzlauer Berg, mit ihren WGs, Kneipen und Currywurst-Buden. Und mit ihren noch immer unüberbrückbaren West-Ost-Gegensätzen, die nur schwer zusammenwachsen.
Kordon: " Na ja, das wird noch ein bisschen dauern. Also Zusammenwachsen .. Also für jemanden, der vielleicht von woanders kommt, aus München oder Hamburg nach Berlin kommt, der wird vielleicht gar nicht so genau sehen, wo denn damals mal die beiden Stadthälften aufeinander geprallt sind. Als Berliner sieht man es natürlich, ganz klar, wenn auch vieles inzwischen so ist, dass man nicht mehr unbedingt drauf hingewiesen wird in manchen Gegenden. Aber zusammenwachsen heißt ja mehr als dass da nur die Straßen wieder zügig verlaufen, dass die S-Bahn wieder überall durchfährt. Zusammenwachsen heißt ja vor allem auch, dass die Menschen zusammenwachsen mit ihrem Denken. ... und darum glaube ich, dass dieses Zusammenwachsen noch ein bisschen dauern wird. "
Gelungen ist das Zusammenwachsen schon in den grenznahen Bezirken, wo nicht nur Ossis und Wessis sich durchmischen. Wo Türken und Deutsche, Studenten und Künstler nebeneinander wohnen. Wo es weniger eine Rolle spielt, welchen Job jemand hat oder welche Hautfarbe, wie viel man verdient oder was man anhat. Wo das Leben mehr Tempo hat, cooler ist, manchmal crazy.
Wir fuhren zum Prenzlauer Berg. Auf der Schönhauser Allee dröhnte aus jedem Laden Musik. Sandra wollte noch schnell zu H&M, was abgreifen. Bis ich geschnallt habe, dass sie es ernst meint, hatte sie schon ein hauchdünnes Kleid unterm T-Shirt ...
Wir standen wieder auf der Schönhauser und kniffen die Augen zusammen; Sandra mit ihrer neuen Abendgarderobe. Es roch nach Currywurst, Döner und Pennerpisse. Wir wurden angerempelt, angebettelt, jemand drückte uns Zettel vom Tierschutzverein in die Hand. Darauf war ein gerupftes Kaninchen zu sehen, dem man zu viel Lippenstift in die Augen geschmiert hatte. Sandra rannte ein Klappschild um: "70 Prozent weniger Hornhaut in 21Tagen!" Aus dem Computerladen an der Ecke rief eine Stimme aus dem Lautsprecher über der Tür: "54-mal schneller im Internet ... Hol es dir ... . Jetzt!"
Berlin heute. In Beate Döllings Debüt "Alles bestens" ist die Stadt sehr jung, verführerisch und gefährlich zugleich. Johannes hat sich zu Hause ausgeschlossen, steht ohne Geld und Klamotten da. So beginnt ein wilder, zielloser und grotesker Trip durch die Hauptstadt. Er stolpert durch Parties, Klubs und Szenekneipen, lernt in diesen Tagen viele verschiedene Mädchen kennen, Gewalt, Drogen - und sich selbst. Schrill, witzig und sensibel zugleich erzählt er von Weltschmerz und Einsamkeit, Glück und Verliebtsein in der glitzernden Kneipen-, Künstler- und In-Szene Berlins.
Denn in Berlin weht noch immer die berühmte Berliner "Luft, Luft, Luft". In Berlin hat man immer noch die berüchtigte "Schnauze". Nach Berlin zieht es immer mehr Künstler, Schauspieler, Schriftsteller und Verlage. Berlin bleibt in Bewegung. Berlin ist in, immer noch und wieder. Auch im Jugendbuch.
" Ich finde, es ist gut, wenn sich so eine Szene aneinander messen kann. Wenn man sich kennen lernen kann, wenn man sich dann gegenseitig voranbringen kann. Ich glaube, so ein Zentrum ist gut. Es muss nicht so sein, wie es mal war, dass nun alles nach Berlin strömt, und dass man andere Städte abtut unter Provinz usw. Das wird auch nicht mehr kommen ... aber so ein Brennpunkt, wo sich die Geister treffen und streiten miteinander und gegenseitig vorwärts bringen, das halte ich auch für sehr reizvoll. "
" Natürlich ist Berlin auch der Brennpunkt der deutschen Geschichte gewesen, in den letzten 150 Jahren. Alles, was sich in Berlin zugetragen hat, hat Auswirkung auf ganz Deutschland gehabt. Auf Europa sogar. Oder sogar auf die Welt. Also Berlin, das ist für mich, möchte ich sagen, Überschrift: so ein bisschen Reizklima. Da prallen die Welten aufeinander, und das hat sich immer wieder so ergeben. Gerade nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges: Berlin: Viersektorenstadt, geteilte Stadt. Mauerbau und Mauerfall. Da braucht man gar nicht weiter zu erzählen, da hat sich Weltpolitik abgespielt. Und wenn man sich da auch noch gut auskennt in der Stadt, dann ist das für einen Autor natürlich besonders günstig. "
Klaus Kordon muss es wissen! Denn wenn einer das Recht hat unter den deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchautoren, zu sagen "Ich bin ein Berliner", dann ist er es. Geboren 1943 in Berlin wuchs er im Osten der zerstörten Stadt auf, lebte dort fast dreißig Jahre und wurde nach einem Fluchtversuch mit seiner Familie und einem Jahr U-Haft 1972 vom Westen freigekauft. Aber schon 1988, ein Jahr vor der Wende, kehrte Klaus Kordon nach Berlin zurück. Ein Leben weit weg von seiner Heimatstadt - auf Dauer ging das nicht.
Berlin ist aber nicht nur Klaus Kordons Heimatstadt. Nicht nur Ort seiner Kindheit und Jugend, seiner Opposition gegen das DDR-Regime und Ziel seiner Sehnsüchte, solange er als freigekaufter Republik-Flüchtling im Rhein-Main-Gebiet lebte. Berlin ist auch sein literarischer Ort: Hier spielen viele seiner Kinder- und Jugendbücher und natürlich seine autobiographischen Werke. Hier spielen aber auch seine beiden historischen Trilogien. Die eine - noch unabgeschlossene - im 19.Jahrhundert, und die andere, die abgeschlossene "Trilogie der Wendepunkte" im zwanzigsten. Kein anderer Kinder- und Jugendbuchautor hat sich so intensiv mit der Stadt beschäftigt, ist ein so zuverlässiger Führer durch ihre Geschichte und ihre Topographie wie er.
" Ich sage immer, in Berlin gibt es so eine Art Reizklima. Ich weiß nicht, woher das jetzt kommt, das ist eigentlich immer schon so gewesen, dass in der Stadt immer alles sofort rauskommt, also hochgespielt wird. Während es in anderen Städten unter der Decke bleibt und gar nicht so erwähnt wird. In Berlin war es immer schon so gewesen, die Leute haben ihren Mund aufgemacht und ne Klappe riskiert, wie man so schön sagt. Und dann prallt es eben manchmal heftiger aufeinander."
Fräulein Eleonore lachte entwaffnend ... Sie stockte kurz und blickte erst Lotte, dann Mama an. Auf einmal tiefernst fuhr sie fort: "Ich würde so gerne Mathematik und Physik studieren und das Staatsexamen für das höhere Lehramt machen, aber ob das einmal gehen wird, weiß ich nicht. Christiane sagt, Fräulein Helene Lange kämpft als Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins für die Zulassung von Frauen zum Examen ... an der Universität. Doch auch Fräulein Lange befürchtet, dass es bis dorthin ein steiniger Weg sei. Bisher sei es in Berlin noch keiner Studentin gelungen, zur Staatsprüfung für das Höhere Lehramt zugelassen zu werden. Eine ihrer ehemaligen Schülerinnen der Gymnasialkurse, die als Gasthörerin Mathematik und Naturwissenschaften studiert hat, habe schon mehrfach vergebens den Antrag gestellt, Staatsexamen machen zu dürfen - ach, es ist ungerecht!
Berlin 1890. "Bülowstraße 80" ist der Titel von Gabriele Beyerleins Roman und die Adresse der Familie Dr. Schneider. Hier wohnt der jüdische Arzt mit seiner Frau Sophie und den drei Kindern Charlotte, Wilhelm und Richard in der Beletage eines großen Hauses. Man lebt gut- bis großbürgerlich, besucht Kaffeezirkel und Bälle, geht in die Oper und ins Theater, hat Bedienstete und viele Freiheiten. Aber letzteres gilt nur für die Männer. Denn Konventionen und Traditionen - oder aber der Ehemann beziehungsweise Vater - verbieten Frauen und Mädchen noch vieles: Romane schreiben und Fahrradfahren, Geld verdienen und verwalten schicken sich nicht. Frauen dürfen keine politischen Versammlungen besuchen, nicht wählen und nicht studieren. Doch ein Geruch von Widerstand, von Aufbegehren liegt schon in der Luft.
Kordon: " Dann haben wir 1890. Und da weiß man ja, dass zu dieser Zeit die Entwicklung rasant voran geschritten ist. Die haben noch keine Rechte erkämpft, das kam erst nach dem Ersten Weltkrieg. Aber dass es immer mehr Frauen gab, die das eingefordert haben, das ist eine Tatsache. "
"Bülowstraße 80a" erzählt von der erwachenden Emanzipation der Frau, wobei der Schwerpunkt nicht auf dem politischen, sondern im psychologischen Bereich liegt. Sophie, die Mutter, wird nach dem Tod ihres Mannes plötzlich viel mutiger und selbständiger, als sie je von sich gedacht hätte. Und ihre Tochter Charlotte kennt nur ein Ziel: Sie will studieren. Langsam aber stetig durchbohren liberale Gedanken die fest gefügten Mauern des Gründerzeit-Denkens. Und während die Arbeiter immer heftiger um eine soziale Gerechtigkeit kämpfen, wagen sich junge Frauen wie Charlotte Schneider vor in die heiligen Tempel der Bildung. Dass eine solche Entwicklung nur in einer Großstadt möglich ist, ist klar. Und in der Hauptstadt Berlin formiert sich mit Gertrud Bäumer und Helene Lange die Spitze der Bewegung. Nirgendwo in Deutschland ist das Klima so liberal wie hier an der Spree. Und nirgendwo in Deutschland überschlagen sich die politischen Prozesse in den nächsten Jahren in einer derartigen Geschwindigkeit.
Was nicht nur für die Emanzipation der Frau gilt, sondern für sämtliche soziale Entwicklungen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wird Berlin zur riesigen Industriestadt mit großen Fabriken, einem hohen Arbeiteranteil und unzähligen engen, feuchten, dunklen Mietskasernen. In ihrem Roman "Drei Zeichen sind ein Wort" entwirft Waltraud Lewin ein sehr präzises Portrait dieser dunklen Rückseite der Metropole. Berlin 1923:
Sie geht über den Hof. Der Putz fällt von den Wänden, es stinkt nach Müll, und im Treppenhaus des Seitengebäudes, wo sie die drei Stiegen hochsteigt, ist wohl das letzte Mal vor zehn Jahren der Anstrich erneuert worden. Ein paar Scheiben sind kaputt. Das Regenwasser sammelt sich unter den Fensterbrettern auf dem Boden. Jemand hat mit Kreide an die Wand geschmiert: Luise geht mit Max ...
Kordon: " Es war also schon auch eine sehr arme Stadt damals. Das Problem ist, dass die Leute, immer wenn sie jetzt "Berlin" hören, Zwanziger Jahre, die "Goldenen Zwanziger", dann sehen sie immer nur Theater, Tanzcafés und den rasanten Verkehr, der in der Zeit auch immer stärker angewachsen ist. .. und diese Mischung aus Armut und Talmi-Glanz, von den Reichen, die da in Saus und Braus gelebt haben, gleichzeitig auch die Kunst- und Kulturstadt, ... die damals ja auch die Stadt in Europa war, was das betroffen hat, diese Mischung aus allem zusammen hat das Berlin der 20er Jahre ergeben. "
Waltraud Lewin schildert in ihrem Roman "Drei Zeichen sind ein Wort" beide Seiten der Großstadt: den Glanz und die Armut, das Theater und die Mietskasernen. Es ist, als begleite man ihre Protagonistin Leonie Lasker auf ihren Wanderungen durch die Straßen, schlendere mit ihr über den noblen Gendarmenmarkt, gehe mit ihr Unter den Linden spazieren und folge ihr ins jüdische Scheunenviertel. Denn dort spielt ein großer Teil der Geschichte, in einem jüdischen Theater, wie es viele gab in den Zwanziger Jahren. Leonie ist dort auf der Suche nach weitläufigen Verwandten, denn sie hat herausgefunden, dass auch sie selbst jüdische Wurzeln hat.
Bevor sie sich überhaupt richtig umschauen kann, stürzen sich Gerüche auf sie. Sie stauen sich in der Gasse - Knoblauch und Fisch, Urin, verfaulende Abfälle. Was ihr entgegenkommt auf dem Gehweg, riecht nach Schweiß und billigem, durchdringendem Parfüm.
Wo ist sie hingeraten? Als Erstes stößt sie auf eine Taubenhandlung, Gurren und Flügelschlagen, "Tauben aller Rassen" steht da. Daneben Entengeschnatter aus einer Bretterbude. Ist das ein Esel, der da auf einem Hinterhof durchdringend schreit?
Und dann die Häuserfassaden, verkommener, bröckelnder Putz, fast bis zum First bedeckt mit hebräischen und deutschen Schriftzeichen: "Beste Butter - Kolonialwaren - Holz und Heringe -Gänse, geschächtet - Schul - Hebräische Bücher", es rankt sich auch in den Durchgängen entlang, wo es zu den Hinterhöfen geht, finstere Schluchten. Sie steht und sieht sich um.
Auf einmal ist sie fast umzingelt. Mitten in der Gasse hineingeraten in eine Menschentraube. Lauter Männer in diesen schwarzen schleppenden Kaftanen, mit großen Hüten oder Pelzmützen, langen Bärten und Locken zu beiden Seiten des Gesichts...
Vor Schreck duckt Leonie sich ein bisschen, aber dann merkt sie, dass diese Männer sie gar nicht zur Kenntnis nehmen. Sie ist da rein zufällig hineingeraten, in irgendein großes Palaver. Die reden aufeinander ein, beinah ekstatisch, gestikulieren, gehen in kleinen Schritten umeinander herum. Es sieht aus wie ein merkwürdiger Tanz. Absurdes Theater.
Und wie sie reden! Ist das nun Deutsch oder nicht? Offenbar dies Jiddisch, von dem Isabelle gesprochen hat. Leonie versteht nur jedes zweite Wort. Sie bahnt sich einen Weg durch die diskutierende Männergruppe. Will weiterkommen. Aber nur ein paar Schritte und wieder ist es genauso voll in der engen Gasse.
Waltraud Lewins "Drei Zeichen sind ein Wort" ist eine Mischung aus historischem Roman, Abenteuer- und Liebesgeschichte und der erste Teil einer geplanten Trilogie. Und auch eine liebevolle Genrezeichnung des versunkenen jüdischen Lebens im Berlin der Zwanziger Jahre. Denn Berlin war Berlin gerade auch durch den jüdischen Anteil seiner Bevölkerung.
Kordon: " Und gerade das Scheunenviertel ist natürlich eine sehr interessante Gegend für diese Zeit auch gewesen, weil da sehr viele Juden aus den Ostländern, also aus Polen und Russland nach Berlin kamen. Viele wollten eigentlich weiter .. sie wollten nach Amerika, und sind dann aber hier hängen geblieben, einfach weil das Geld gefehlt hat oder irgendwelche anderen Gründe gewesen sind. Und das Interessante war ja, dass diese Ostjuden bei den eingestammten deutschen Juden auch nicht beliebt waren. Die hatten sich längst schon als Deutsche gefühlt und hatten das Gefühl, durch diese Ostjuden werden sie selber mit in Haftung genommen als Jude. "So sind eben Juden." Und die Ostjuden waren eben meistens auch sehr arm und lebten im Scheunenviertel entsprechend."
Auch in der Berlin-Literatur spielen Juden eine wichtige Rolle. Gabriele Beyerleins Dr.Schneider ist Jude, Leonie Lasker ist Jüdin, und auch Rita Moebius, die Protagonistin von Waltraud Lewins neuem Roman "Wiedersehen in Berlin" hatte eine jüdische Mutter. Diese wurde von Ritas Vater an die Gestapo verraten, weshalb Rita vor den Nazis floh, sich jahrelang mit ihrer kleinen Tochter in Marokko in den Bergen versteckte und erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die völlig zerstörte Heimatstadt zurückkehrt. Hier herrschen Hunger, Kälte und Krankheiten. Graue, dürre Menschen leben in Schutt und Trümmern, Ruinen und Kellern, man überlebt durch Diebstahl oder Tauschhandel. Zentrum des Treibens ist der Schwarzmarkt.
Es ist das gleiche Bild wie gestern, das Gewimmel, die Grüppchen, die jungen Männer, manche mit Chromlederstiefeln und Trenchcoats, andere dagegen in langen schwarzen Mänteln, alle mit Hüten auf den Köpfen, und die jungen Frauen mit den Pelzen überm Arm oder den Koffern in der Hand. ...
Das Erste, was ich sehe, als wir von der Straße abbiegen und um die Ecke gehen, macht mich so perplex, dass ich stehen bleibe. Ich glaube meinen Augen nicht zu trauen. Auf einem eingezäunten Geviert herbstlich dürren Rasens stehen Kühe. Schwarzbunte Kühe mitten in Berlin. Ich starre die Kühe an und die Kühe wenden allesamt die Köpfe und starren mich an, während sie rhythmisch kauend ihre Mäuler bewegen.
Berlin 1947. Rita Moebius, die 23-jährige Heimkehrerin, erzählt ihrer kranken kleinen Tochter Alouette - und damit dem Leser - ihre kurze, intensive und spannende Liebes- und Lebensgeschichte. Sie erzählt Geschichte im doppelten Sinn des Wortes, als Historie der Nazi-Zeit und des Krieges wie als individuellen Leidensweg. Sie erzählt von Flucht und Angst, Liebe und Vertrauen, Haß und Sehnsucht nach Geborgenheit. Alouette, Ritas schwer kranke Tochter, ist ungefähr so alt, wie Klaus Kordon (damals war). Seine Erinnerungen und Rita Moebius' Erzählung haben viele Gemeinsamkeiten.
Kordon: " Also, das sind so ziemlich düstere Bilder, die in meinem Kopf da rumspuken, wenn ich an meine früheste Kindheit denke. Aber auch Bilder, die so das Überleben zeigen, wie die Menschen versucht haben, in dieser Zeit zu überleben, gerade die Mütter, die in dieser Zeit unwahrscheinlich viel leisten mussten. Die Männer waren im Krieg geblieben oder in Gefangenschaft geraten, sie hatten meistens Kinder, mehrere Kinder ... .die mussten versorgt werden, gleichzeitig musste man aber arbeiten gehen."
Frauen stehen auch im Mittelpunkt von Waltraud Lewins "Wiedersehen in Berlin". Sowohl in den Teilen, die im bunten Marokko angesiedelt sind, wie in denen, die im grauen Berlin spielen. Starke, mutige, sinnliche, aufrechte Frauen. Frauen die solidarisch sind untereinander, Frauen die die Verantwortung übernehmen für ihre Kinder und eine bessere Zukunft.
Kordon: " Es waren ja die Frauen, die nach dem Krieg wieder anpacken mussten, Männer waren ja nicht da. Fabriken in Gang setzen, Schutt wegräumen, neue Häuser bauen. Frauen als Maurerinnen ... Also diese Bilder, diese kaputte Stadt, die aber trotzdem von einem Überlebenswillen geprägt war, der bewundernswert ist!"
Und dieser Überlebenswille bleibt das Kennzeichen einer Stadt, deren beide Teile während des Kalten Krieges ums Überleben kämpfen mussten. Bezahlte der Westteil den steilen Weg nach oben mit der Isolierung, mit der Insellage im Feindesland, so bezahlte der Ostteil der Stadt seine herausgeputzten Vorzeigefassaden im Zentrum mit der Verödung der Wohnquartiere.
Kordon: " Wenn man dann nach Ost-Berlin rüberging ... da habe ich das Gefühl gehabt: hier stirbt alles. Denn die jungen Leute sind weggezogen, die sind in die Neubauwohnungen gezogen, denn man wollte ja ein bisschen Komfort haben, Zentralheizung und heißes Wasser aus der Leitung, und das war in den alten Häusern, weil die nicht saniert waren, nicht möglich Also sind junge Leute weggezogen, und die alten sind geblieben, und die Läden haben zugemacht .. also das war schon fast eine Gespensterstadt manchmal, wenn man durch den Prenzlauer Berg ging. Die alten Häuser unsaniert, die Läden zu, die Jalousien runter, und keine Jugend. Und wo keine Jugend ist, da sind auch keine Kinder. "
Berlin 1984. Mitten durch die Stadt zieht sich die Mauer. Sie trennt nicht nur zwei politische Systeme und zwei Welten, sie trennt vor allem auch die Menschen. In ihrem Buch "Zwischen uns die Mauer" erzählt Katja Hildebrand vom geteilten Berlin. Die sechzehnjährige Katja aus Westdeutschland lernt im Rahmen einer deutsch-deutschen Jugendbegegnung in Ostberlin den ein Jahr älteren Markus kennen. Gemeinsam streifen sie durch die Stadt.
Papiertüten mit süßem, fettigen Gebäck in den Händen, bummelten wir dann durch das herausgeputzte Nikolaiviertel. Ein paar renovierte Häuser und viele Neubauten, die den Stil der historischen Häuser imitierten, säumten ein Stück Fußgängerzone. Es war nicht gerade aufregend, aber freundlicher als die engen, grauen Straßenzüge, durch die wir später liefen. Dort schälte sich die Farbe von verwahrlosten Häusern mit verwitterten Fensterrahmen. In manchen Fassaden waren noch die Einschusslöcher des letzten Krieges zu erkennen. Ein muffiger Geruch wehte uns aus zerschlagenen Kellerfenstern entgegen.
Katja Hildebrand zeichnet in ihrem autobiographischen Buch "Zwischen uns die Mauer" ein sehr genaues Bild von West- und Ostberlin, schildert den Eindruck, den Mauer und Stacheldraht auf die Schüler aus Westdeutschland machen und erzählt von einer großen, ernsthaften Liebe. Nach dem ersten Kennen lernen entwickelt sich zwischen Katja und Markus ein intensiver, ebenso zärtlicher wie verzweifelter Briefwechsel. Sie besucht ihn heimlich in Ostberlin, sie schmieden Fluchtpläne, geben sich trügerischen Hoffnungen hin, sehnen sich schmerzlich nacheinander und scheitern schließlich doch an den politischen Verhältnissen. Zunächst zumindest. Was sie nicht ahnen: Dass vier Jahre später die Mauer fallen wird. Und 1989 gibt es ein nach der Wende ein wunderbares Wiedersehen ...
Liebe in Berlin. Immer wieder muss sie scheitern in diesen Romanen, oder ist zumindest zutiefst gefährdet. Als biete die in sich zerrissene Stadt ihren Bewohnern und deren Gefühlen nicht genügend Schutz. Oder als fordere sie das Unmögliche geradezu heraus: Ob Doktorsfrau und Assistent des Ehemannes in "Bülowstraße 80a"; ob deutsche Halbjüdin und französischer Widerstandskämpfer in "Wiedersehen in Berlin" oder Katja und Markus in "Zwischen uns die Mauer". Bestand die Mauer zwischen den Liebenden früher aus Standesdünkel und Konventionen, ist sie später aus Stein und Stacheldraht.
Berlin 2003. Auch Jupps Liebe zu Jenny in "Jenny, die Mauer und die Liebe" ist mehr als schwierig. Jupp studiert in Berlin, er ist Musiker, Gitarrist, und lernt bei einem Casting Jenny kennen, die ohrenbetäubende Schlagzeugerin. Schon Jupps Eltern Holger und Isabelle haben in Berlin studiert, und Jupp selbst ist in Berlin geboren.
Und als die Mauer fiel, als Pink Floyd, ganz wie Honecker und Genossen das immer befürchtet hatten, ihren Triumph des freien Rock 'n' Roll über den Sozialismus in den Berliner Himmel malten und ihre altbekannte Sau fliegen ließen, da hielt Holger nichts in Bayreuth. Er packte Isabelle und mich ins Auto und so wurden wir ein Teil dieses großen Taumels, der in jenen Tagen Berlin schwindelig machte. Ich saß stundenlang auf seinen Schultern und wedelte mit zwei bunten Leuchtstäbchen durch die Nacht. Wenn ich nach unten in sein Gesicht fasste, spürte ich, dass seine Backen von Glückstränen feucht waren.
In Berlin wird heftiger gelitten und sehnsuchtsvoller geliebt, böser gehungert und glücklicher gefeiert als in anderen Städten. Zumindest in den Jugendbücher. Berlin ist noch immer schneller und frecher. Schnell, frech und lebendig, aber auch sehr liebevoll und anrührend erzählt Reinhold Ziegler in "Jenny, die Mauer und die Liebe" gleich zwei Liebes-Geschichten. Die von Jennys Eltern im Jahr 1984, die letztendlich kaputt geht an den Folgen der deutschen Teilung. Und die von Jupp und Jenny im Jahr 2003. Heimliche Protagonistin aber bleibt die Stadt selbst, mit der Mauer als Wunde, mit der Wende, mit ihren In-Vierteln Kreuzberg und Prenzlauer Berg, mit ihren WGs, Kneipen und Currywurst-Buden. Und mit ihren noch immer unüberbrückbaren West-Ost-Gegensätzen, die nur schwer zusammenwachsen.
Kordon: " Na ja, das wird noch ein bisschen dauern. Also Zusammenwachsen .. Also für jemanden, der vielleicht von woanders kommt, aus München oder Hamburg nach Berlin kommt, der wird vielleicht gar nicht so genau sehen, wo denn damals mal die beiden Stadthälften aufeinander geprallt sind. Als Berliner sieht man es natürlich, ganz klar, wenn auch vieles inzwischen so ist, dass man nicht mehr unbedingt drauf hingewiesen wird in manchen Gegenden. Aber zusammenwachsen heißt ja mehr als dass da nur die Straßen wieder zügig verlaufen, dass die S-Bahn wieder überall durchfährt. Zusammenwachsen heißt ja vor allem auch, dass die Menschen zusammenwachsen mit ihrem Denken. ... und darum glaube ich, dass dieses Zusammenwachsen noch ein bisschen dauern wird. "
Gelungen ist das Zusammenwachsen schon in den grenznahen Bezirken, wo nicht nur Ossis und Wessis sich durchmischen. Wo Türken und Deutsche, Studenten und Künstler nebeneinander wohnen. Wo es weniger eine Rolle spielt, welchen Job jemand hat oder welche Hautfarbe, wie viel man verdient oder was man anhat. Wo das Leben mehr Tempo hat, cooler ist, manchmal crazy.
Wir fuhren zum Prenzlauer Berg. Auf der Schönhauser Allee dröhnte aus jedem Laden Musik. Sandra wollte noch schnell zu H&M, was abgreifen. Bis ich geschnallt habe, dass sie es ernst meint, hatte sie schon ein hauchdünnes Kleid unterm T-Shirt ...
Wir standen wieder auf der Schönhauser und kniffen die Augen zusammen; Sandra mit ihrer neuen Abendgarderobe. Es roch nach Currywurst, Döner und Pennerpisse. Wir wurden angerempelt, angebettelt, jemand drückte uns Zettel vom Tierschutzverein in die Hand. Darauf war ein gerupftes Kaninchen zu sehen, dem man zu viel Lippenstift in die Augen geschmiert hatte. Sandra rannte ein Klappschild um: "70 Prozent weniger Hornhaut in 21Tagen!" Aus dem Computerladen an der Ecke rief eine Stimme aus dem Lautsprecher über der Tür: "54-mal schneller im Internet ... Hol es dir ... . Jetzt!"
Berlin heute. In Beate Döllings Debüt "Alles bestens" ist die Stadt sehr jung, verführerisch und gefährlich zugleich. Johannes hat sich zu Hause ausgeschlossen, steht ohne Geld und Klamotten da. So beginnt ein wilder, zielloser und grotesker Trip durch die Hauptstadt. Er stolpert durch Parties, Klubs und Szenekneipen, lernt in diesen Tagen viele verschiedene Mädchen kennen, Gewalt, Drogen - und sich selbst. Schrill, witzig und sensibel zugleich erzählt er von Weltschmerz und Einsamkeit, Glück und Verliebtsein in der glitzernden Kneipen-, Künstler- und In-Szene Berlins.
Denn in Berlin weht noch immer die berühmte Berliner "Luft, Luft, Luft". In Berlin hat man immer noch die berüchtigte "Schnauze". Nach Berlin zieht es immer mehr Künstler, Schauspieler, Schriftsteller und Verlage. Berlin bleibt in Bewegung. Berlin ist in, immer noch und wieder. Auch im Jugendbuch.
" Ich finde, es ist gut, wenn sich so eine Szene aneinander messen kann. Wenn man sich kennen lernen kann, wenn man sich dann gegenseitig voranbringen kann. Ich glaube, so ein Zentrum ist gut. Es muss nicht so sein, wie es mal war, dass nun alles nach Berlin strömt, und dass man andere Städte abtut unter Provinz usw. Das wird auch nicht mehr kommen ... aber so ein Brennpunkt, wo sich die Geister treffen und streiten miteinander und gegenseitig vorwärts bringen, das halte ich auch für sehr reizvoll. "
Bücherliste
- Gabriele Beyerlein: Bülowstraße 80a, Thienemann Verlag
- Waltraud Lewin: Drei Zeichen sind ein Wort. cbj.
- Waltraud Lewin: Wiedersehen in Berlin. Ravensburger Verlag
- Katja Hildebrand: Zwischen uns die Mauer, Thienemann Verlag
- Reinhold Ziegler: Jenny, die Mauer und die Liebe. Verlag Überreuther
- Beate Dölling: Alles bestens. Verlag Beltz & Gelberg
- Waltraud Lewin: Drei Zeichen sind ein Wort. cbj.
- Waltraud Lewin: Wiedersehen in Berlin. Ravensburger Verlag
- Katja Hildebrand: Zwischen uns die Mauer, Thienemann Verlag
- Reinhold Ziegler: Jenny, die Mauer und die Liebe. Verlag Überreuther
- Beate Dölling: Alles bestens. Verlag Beltz & Gelberg