Sommer 2003: Der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi empfahl dem deutschen Europa-Abgeordneten Martin Schulz die Rolle des Kapo in einem KZ-Film, weil dieser zuvor Berlusconis Interessenkonflikt kritisiert hatte. Nicht wenige in Italien klatschten Beifall. Ein Aachener Buchhändler? Gegen den großen Milliardär und Impresario Silvio Berlusconi? Das ging nicht. Es war auch das Jahr, in dem ein rechtspopulistischer Tourismus-Staatssekretär von "supernationalistischen Blonden" sprach, die im Sommer lärmend über Italiens Strände herfielen.
Sommer 2013: Noch immer sitzen die Blonden an Italiens Stränden, den Staatssekretär gibt es längst nicht mehr, und der inzwischen verurteilte Berlusconi hat heute ganz andere Probleme als die Auseinandersetzungen mit Martin Schulz. Nur: Deutschlands Ruf ist mitten in der Eurokrise südlich der Alpen so schlecht wie nie. Der Deutsche gilt heute als Austeritäts-Fanatiker, der - so vermuten es viele Italiener – ihrem Land wider besseren Wissens seine Dogmen von Stabilität und Sparen aufzwingen will. Der Zeitpunkt ist also ideal für "Cuore tedesco", das Deutschland-Buch des Philosophen und Germanisten Angelo Bolaffi.
"Es wächst eine Germanophobie, und diese Dämonisierung lässt alte Stereotype und böse Vorurteile wieder emporkommen. Viele glauben, dass, so wie Deutschland in der Vergangenheit versucht hat, seine Dominanz über Europa mit Panzern zu erreichen, sie das gleiche Ziel heute mit der gemeinsamen Währung versuchen."
Deutschland, so die weitverbreitete Meinung, habe zwar vieles richtig und möglicherweise auch besser gemacht als Italien – aber trotzdem sollte die Bundeskanzlerin "piu morbida" im Umgang mit ihrem Nachbarn sein – ein wenig weicher also. Und: Deutschland werde qua Austeritätspolitik zu einem neuen, gefährlichen Hegemon. Einerseits. Andererseits: Man darf sich gerne etwas mehr in der europäischen Krisenpolitik engagieren. Schließlich trage man ja: Verantwortung.
Der italienische Blick auf Deutschland ist widersprüchlich in diesen Krisenzeiten, und Bolaffi hilft, diese Widersprüche aufzulösen.
Herausgekommen ist ein Buch über die Geschichte des Euro, die zwangsläufig auf eine Geschichte der Wiedervereinigung hinausläuft und die Frage, welchen Platz dieses wiedervereinigte Land in Europa haben soll. Der Euro war von Anfang an ein Mittel, so Bolaffi, die Macht der alten Mark "zu neutralisieren". Kalkulierte Hegemonie? Kaum.
Italien dagegen hätte, so der Autor, die Chance gehabt, sich im Zuge der Euro-Einführung zu erneuern. Sein politisches System zu überdenken, seine überkommenen sozio-ökonomischen Strukturen mit all ihren archaischen Abhängigkeiten auszumisten. Stattdessen: Die Schulden stiegen, damit das Defizit, notwendige Reformen blieben stecken. Auch deshalb verlassen junge Italiener heute in Massen ihr Land – es gibt für sie dort nichts mehr zu tun. Während Deutschland umbaute, kreiste der Süden jahrelang um einen Mann, seine wirtschaftlichen Interessen, politischen Machtspiele und nächtlichen Orgien.
"Heute wissen wir, dass Italien die Herausforderungen des Euro im Grunde verloren hat. Für diese Niederlage tragen in erster Linie Silvio Berlusconi und seine Partner von der Lega Nord die Verantwortung."
Angelo Bolaffi ist Deutschland-Kenner. Von 2007 bis 2011 leitete er das Italienische Kulturinstitut in Berlin, und auch deshalb kann er seinem italienischen Publikum Innenansichten aus einem Land bieten, das den meisten dort immer noch fremd ist. Dem italienischen System setzt Bolaffi so die ökonomischen Funktionsmechanismen eines Nachkriegsdeutschland entgegen, das er genau zwischen dem angelsächsisch geprägten Liberalismus und dem südeuropäischen Klientelismus verortet: den an Interessensausgleich und betrieblicher Mitbestimmung orientierten rheinischen Kapitalismus. Der italienischen Gesellschaft stellt er ein zweifelhaftes Zeugnis aus, indem er eine "politische, soziale, wirtschaftliche und geistige Krise" diagnostiziert.
"Es gibt die Verantwortung der Führungseliten, aber auch das Fehlen eines kollektiven Bewusstseins und einer Zivilgesellschaft. (…). Natürlich gibt es inakzeptable soziale Ungleichheiten. Es gibt aber auch eine weitverbreitete Illegalität der Massen, die ein hohes Defizit an öffentlicher Moral aufzeigt."
Antideutsche Ressentiments – seit Berlusconi hatten sie in Rom eine politische Heimat, und so ist es kein Zufall, welches politische Lager Bolaffis Buch in den vergangenen Wochen zur Lektüre empfahl. "Der populistische, antideutsche Provinzialismus" werde nicht zufällig in erster Linie von Berlusconi verkörpert, schreibt Mario Pirani in der linksliberalen "La Repubblica". Und Paolo Valentino weist im "Corriere della Sera" darauf hin: Deutschland sei, aller Kritik zum Trotz, nun mal "auch demografisch gesehen das entscheidende Land" in Europa.
Eine der Lehren aus "Cuore tedesco" lautet daher: Bisher war der größte politische Gegner der Italiener: die Italiener selbst. Nun ist es an der Zeit, diese seit Jahren praktizierte, selbstzerstörerische Tradition aufzubrechen. Ein zweites Deutschland südlich der Alpen sollte dabei nicht entstehen – das europäische Gleichgewicht braucht nämlich beides: Deutschland und ein italienisches Italien.
Angelo Bolaffi: Cuore tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea.
Verlag Dozelli, 265 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-8860367365
Sommer 2013: Noch immer sitzen die Blonden an Italiens Stränden, den Staatssekretär gibt es längst nicht mehr, und der inzwischen verurteilte Berlusconi hat heute ganz andere Probleme als die Auseinandersetzungen mit Martin Schulz. Nur: Deutschlands Ruf ist mitten in der Eurokrise südlich der Alpen so schlecht wie nie. Der Deutsche gilt heute als Austeritäts-Fanatiker, der - so vermuten es viele Italiener – ihrem Land wider besseren Wissens seine Dogmen von Stabilität und Sparen aufzwingen will. Der Zeitpunkt ist also ideal für "Cuore tedesco", das Deutschland-Buch des Philosophen und Germanisten Angelo Bolaffi.
"Es wächst eine Germanophobie, und diese Dämonisierung lässt alte Stereotype und böse Vorurteile wieder emporkommen. Viele glauben, dass, so wie Deutschland in der Vergangenheit versucht hat, seine Dominanz über Europa mit Panzern zu erreichen, sie das gleiche Ziel heute mit der gemeinsamen Währung versuchen."
Deutschland, so die weitverbreitete Meinung, habe zwar vieles richtig und möglicherweise auch besser gemacht als Italien – aber trotzdem sollte die Bundeskanzlerin "piu morbida" im Umgang mit ihrem Nachbarn sein – ein wenig weicher also. Und: Deutschland werde qua Austeritätspolitik zu einem neuen, gefährlichen Hegemon. Einerseits. Andererseits: Man darf sich gerne etwas mehr in der europäischen Krisenpolitik engagieren. Schließlich trage man ja: Verantwortung.
Der italienische Blick auf Deutschland ist widersprüchlich in diesen Krisenzeiten, und Bolaffi hilft, diese Widersprüche aufzulösen.
Herausgekommen ist ein Buch über die Geschichte des Euro, die zwangsläufig auf eine Geschichte der Wiedervereinigung hinausläuft und die Frage, welchen Platz dieses wiedervereinigte Land in Europa haben soll. Der Euro war von Anfang an ein Mittel, so Bolaffi, die Macht der alten Mark "zu neutralisieren". Kalkulierte Hegemonie? Kaum.
Italien dagegen hätte, so der Autor, die Chance gehabt, sich im Zuge der Euro-Einführung zu erneuern. Sein politisches System zu überdenken, seine überkommenen sozio-ökonomischen Strukturen mit all ihren archaischen Abhängigkeiten auszumisten. Stattdessen: Die Schulden stiegen, damit das Defizit, notwendige Reformen blieben stecken. Auch deshalb verlassen junge Italiener heute in Massen ihr Land – es gibt für sie dort nichts mehr zu tun. Während Deutschland umbaute, kreiste der Süden jahrelang um einen Mann, seine wirtschaftlichen Interessen, politischen Machtspiele und nächtlichen Orgien.
"Heute wissen wir, dass Italien die Herausforderungen des Euro im Grunde verloren hat. Für diese Niederlage tragen in erster Linie Silvio Berlusconi und seine Partner von der Lega Nord die Verantwortung."
Angelo Bolaffi ist Deutschland-Kenner. Von 2007 bis 2011 leitete er das Italienische Kulturinstitut in Berlin, und auch deshalb kann er seinem italienischen Publikum Innenansichten aus einem Land bieten, das den meisten dort immer noch fremd ist. Dem italienischen System setzt Bolaffi so die ökonomischen Funktionsmechanismen eines Nachkriegsdeutschland entgegen, das er genau zwischen dem angelsächsisch geprägten Liberalismus und dem südeuropäischen Klientelismus verortet: den an Interessensausgleich und betrieblicher Mitbestimmung orientierten rheinischen Kapitalismus. Der italienischen Gesellschaft stellt er ein zweifelhaftes Zeugnis aus, indem er eine "politische, soziale, wirtschaftliche und geistige Krise" diagnostiziert.
"Es gibt die Verantwortung der Führungseliten, aber auch das Fehlen eines kollektiven Bewusstseins und einer Zivilgesellschaft. (…). Natürlich gibt es inakzeptable soziale Ungleichheiten. Es gibt aber auch eine weitverbreitete Illegalität der Massen, die ein hohes Defizit an öffentlicher Moral aufzeigt."
Antideutsche Ressentiments – seit Berlusconi hatten sie in Rom eine politische Heimat, und so ist es kein Zufall, welches politische Lager Bolaffis Buch in den vergangenen Wochen zur Lektüre empfahl. "Der populistische, antideutsche Provinzialismus" werde nicht zufällig in erster Linie von Berlusconi verkörpert, schreibt Mario Pirani in der linksliberalen "La Repubblica". Und Paolo Valentino weist im "Corriere della Sera" darauf hin: Deutschland sei, aller Kritik zum Trotz, nun mal "auch demografisch gesehen das entscheidende Land" in Europa.
Eine der Lehren aus "Cuore tedesco" lautet daher: Bisher war der größte politische Gegner der Italiener: die Italiener selbst. Nun ist es an der Zeit, diese seit Jahren praktizierte, selbstzerstörerische Tradition aufzubrechen. Ein zweites Deutschland südlich der Alpen sollte dabei nicht entstehen – das europäische Gleichgewicht braucht nämlich beides: Deutschland und ein italienisches Italien.
Angelo Bolaffi: Cuore tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea.
Verlag Dozelli, 265 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-8860367365