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Die Heterotopien des William Forsythe

In diesem Sommer war William Forsythe zum Berliner Theatertreffen eingeladen, mit seiner Choreographie "Three Atmospheric Studies". Das Stück wurde von der Kritik als "seine bisher politischste choreographische Arbeit" bezeichnet, als eine Art Performance von Körpern, die Kriegsbilder erzeugen. In Zürich hat die Forsythe Company mit "Heterotopia" jetzt ein ganz anders geartetes Projekt erarbeitet.

Von Wiebke Hüster | 26.10.2006
    "Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war die Geschichte...Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Epoche des Raumes begreifen. Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit." So heißt es in einem Essay, den Michel Foucault 1967 in Tunesien schrieb. In "Des autres espaces" - "Von anderen Räumen" - umreißt er den Begriff der Heterotopie als einem Ort, an dem Verschiedenes zusammentreffe. Wenn William Forsythe jetzt seinen neuesten, in der Schiffbauhalle des Schauspiels Zürich uraufgeführten Abend nach Foucault "Heterotopia" nennt, dann in dem Bewusstsein, wiederum auf verschiedenen Ebenen mit diesem Bild zu spielen.

    Heterotopien sind bei Foucault etwa Bibliotheken, Schiffe oder auch Freudenhäuser. Der Choreograph Forsythe erweist sich einmal mehr als magischer Herrscher über die Geheimnisse des Theaters. Auf raffinierte Weise webt er in das Muster des Tanzes Anspielungen auf andere Heterotopien Foucaults ein. Yasutake Shimaji, unter den schauspielerisch durchweg hochbegabten Tänzern der Forsythe Company der jüngste, krächzt immer wieder anklagend wie ein Rabe. Ioannis Mantafounis sitzt neben der großartigen, unheimlichen Hexe, des Stücks, Jone San Martin, und meckert wie eine Ziege, mit tiefem Ernst, mit langen, nachdenklichen Pausen. Auch die verschraubten, oft wie vom Blitz getroffen zum Stillstand kommenden Bewegungen wecken Assoziationen an Tiere und ihre Geschmeidigkeit und Schreckhaftigkeit. Der Zoo ist eine Heterotopie, ein Gefängnis, in dem sich die traurigen zwangsverpflichteten Vertreter aussterbender Arten zusammengepfercht sehen. Vor allem aber, und das steht im Zentrum des zweistündigen Abends, ist Forsythes These über den Tanz, dass der Körper eine Heterotopie darstellen kann. In ihm drücken sich Menschliches und Animalisches, vor Leben vibrierende Energie und die aus dem Wahnsinn entspringende Todessehnsucht aus. Selbst in Wahnsinnige oder Tote können sich die Tänzer verwandeln - auch der Friedhof ist eine Foucaultsche Heterotopie, die Forsythe aufgreift.

    15 Tänzer verwandeln sich zwei Stunden lang in der riesigen Halle - vor nur einhundert Zuschauern, die sich frei im Raum bewegen dürfen. Alle sind Teil dieser Installation, kein Schritt bleibt unbeobachtet. Sehr nahe kommen sich die sonst getrennten Gruppen, so nahe, dass im grellen Licht der Szene ganz deutlich zu sehen ist, wie die Anstrengung den Tänzern die Röte ins Gesicht und den Schweiß aus den Poren treibt.

    Es erfordert Mut und einen gewissen Exhibitionismus, sich ohne jede schützende Distanz zum Publikum derart zu verausgaben. Männer arrangieren dreidimensionale Buchstaben auf einer aus Tischen zusammengeschobenen Spielfläche, doch einen Sinn ergeben diese Ketten nie. Die Zuschauer stehen betroffen drum herum. Was ist das? Eine Installation, eine Vorstellung? Eine Choreographie oder eine Improvisation?

    Wie immer bei William Forsythes Arbeiten liegt der Aufführung ein klares räumliches Konzept zugrunde. Ähnlich wie in dem legendären Abend "Kammer/Kammer", als das Publikum von oben auf eine in lauter Kammern abgeteilte Bühne schaute, wird hier ein Theaterspiel über Zeigen und Verbergen inszeniert. Ganz simpel, aber sehr effektiv.

    Der vordere Raum mit seinem aus zusammengeschobenen Tischen gebildeten Podest ist mit einem großen grauen Aushang von einem kleineren hinteren Raum getrennt. Verschiedene Welten: Vorne arrangiert David Kern Buchstaben zu sinnlosen Ketten, als wären es literarische Anweisungen für den Tanz hinten. Vorne raunt Christopher Roman wirre Sprachfetzen in ein Mikrophon, hinter dem Aushang wird zu dieser Wahnsinnssprecharie getanzt. Vorne beherrscht Amancio Gonzalez wie ein kalter Gigolo die Szene, hinten wickelt sich Jone San Martin wie ein Alien in ihre Kleider.

    Die Tänzer tauchen mit einer fanatischen Sekundenentschlossenheit unter Tische wie in den tiefsten Orkus. Ihre Stimmen keckern unheimliches, nicht enden wollendes Gelächter, Zungen werden mit irrem Blick in die äußersten Mundwinkel geschoben. Man redet wirr in unverständlichen Sprachfragmenten, als hätte man das Bewusstsein endlich auf den Müllhaufen der Menschheitsgeschichte geworfen. Keiner kann hier irgend etwas, irgendwen verstehen. Das aber fühlen diese Bühnenwesen noch, und es scheint sie in den Wahnsinn, in eine todessehnsüchtige Einsamkeit zu treiben. Foucaults Zeitalter der Gleichzeitigkeit treibt schreckliche Blüten.