Peter B. Schumann: In diesem Jahr blicken viele Lateinamerikaner auf den Beginn der Unabhängigkeit in ihren Ländern zurück und feiern ihr Bicentenario, 200 Jahre einer wechselvollen Geschichte und mitunter neuer Abhängigkeiten. Früher als in den meisten Staaten Europas übernahm man auf dem Subkontinent aufklärerische Postulate aus Frankreich und den USA und vollzog einen staatsrechtlichen Bruch mit der Vergangenheit. Doch die frühen Gründungsakte führten noch lange nicht zur Demokratie. Als diese endlich im 20. Jahrhundert durchgesetzt war, wurde sie immer wieder von Diktaturen geschwächt.
Die Unabhängigkeitsbewegungen schufen dennoch Grundlagen für die gesellschaftliche Entwicklung von heute. Sie wollen wir unter anderem im Lauf dieses Bicentenario-Jahres am Beispiel von Chile, Mexico und Argentinien untersuchen. Wir beginnen mit Chile.
Unser Gesprächspartner in dieser ersten Folge ist Alfredo Jocelyn-Holt, Professor für Geschichte an der staatlichen Universidad de Chile. Von seinen zahlreichen Publikationen ist die Universalgeschichte Chiles zu nennen, von der bisher drei Bände erschienen sind.
Herr Jocelyn-Holt, insgesamt zehn Länder feiern zwischen 2009 und 2011 ihr Bicentenario. Ist das ein zufälliges Zusammentreffen oder Ausdruck einer kontinentalen Unabhängigkeitsbewegung zwischen 1809 und 1811?
Alfredo Jocelyn-Holt: Tatsächlich beginnt diese Entwicklung bereits 1808 mit dem Einmarsch Napoleons in Spanien, also mit dem Zusammenbruch des spanischen Imperiums. Daraufhin bildeten sich, vor allem 1810, verschiedene nationale Regierungen in den spanischen Kolonien Amerikas. Aber die Präsenz der Spanier dauerte noch bis 1827: Es war ein langer Prozess bis zur endgültigen Unabhängigkeit. In Chile hat man nun den Beginn der Unabhängigkeit auf den 18. September 1810 datiert, als sich hier die erste Nationalregierung konstituierte. Daraus wurde unser Nationalfeiertag, den wir heute als Volksfest mit Karnevalcharakter begehen. Dabei hat damals doch nur eine Gruppe von Oligarchen die Beamten der spanischen Krone abgelöst. Das ist einer dieser seltsamen Widersprüche, die in der Geschichte oft vorkommen.
Schumann: Das hatte aber eigentlich noch nichts mit Unabhängigkeit zu tun, denn danach haben sich jahrelang die Königstreuen und die Patrioten heftig bekämpft. Die Spanier schickten sogar ihre Heerscharen zu Land und zu Wasser gegen die Chilenen los. Man spricht deshalb von einer Zeit der Reconquista, also der Rückeroberung durch die Spanier. Wann ist denn nun Chile wirklich gegründet worden?
Jocelyn-Holt: Die Unabhängigkeit wurde 1818 erklärt, nachdem eine spanische Invasion erfolgreich zurückgeschlagen worden war. Wir müssen uns vor Augen halten, dass der spanische Teil Südamerikas damals Vizekönigreich Peru hieß. Chile besiegte also Peru in einem kontinent-weiten Kampf gegen Spanien, denn daran nahmen auch südamerikanische Freiheitskämpfer teil wie Bolívar und San Martín.
Schumann: Danach wurde es aber auch nicht ruhig: Es kam zu blutigen Machtkämpfen, ja Bürgerkriegen zwischen den Konservativen - also den Großgrundbesitzern - und den Liberalen, der etwas weltaufgeschlosseneren Handelselite. Sind diese gewaltsamen Auseinandersetzungen typisch für diese frühe Zeit der Staatsgründung im spanischen Amerika?
Jocelyn-Holt: Chiles Entwicklung ist singulär, denn es ist das erste Land - so wird immer wieder gesagt -, das sich zu organisieren verstand nach dem Prozess der Unabhängigkeit. Wir hatten weniger Konflikte als das übrige Amerika. Denn Chile war noch kleiner als heute, umfasste damals nur ein Drittel unseres Gebiets. Und besaß eine Führungsschicht mit recht großer politischer Erfahrung, die sie in der Kolonialzeit gesammelt hatte. Sie war sehr gut vernetzt und vertrat Grundbesitzer-, Händler- und Mineninteressen. Es gab keine inneren Brüche, denn es war eine sehr pragmatische Elite in einem sehr kleinen, sehr armen Land. Ich glaube, dass sie sehr geschickt das Wenige verteilt haben.
Schumann: Sie haben dafür ein schönes Bild geschaffen: erdbebensichere Politik.
Jocelyn-Holt: Chile ist ein Land ständiger Erdbeben. Und unsere Politiker gehen wie Ingenieure ans Werk: Sie betreiben sozusagen eine antiseismische, eine erbeben-sichere Politik. Wir besaßen sehr gute politische Ingenieure, die sehr gute Institutionen geschaffen haben. Das ist ein wichtiger Faktor, der die Stabilität Chiles erklärt, aber die Bürgerkriege im 19. Jahrhundert nicht ausschließt. Doch im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern bricht die Elite dabei nicht zusammen. Das ist entscheidend für unsere Entwicklung.
Schumann: Und das unterscheidet Chile beispielsweise von seinem Nachbarland Argentinien.
Jocelyn-Holt: Dort gab es große politische Wirren im 19. Jahrhundert, denn die Grundbesitzerelite auf dem Land war völlig anders als die Handelselite in Buenos Aires. Außerdem hat sich am Ende der Unabhängigkeit das argentinische Staatsgebiet immer noch weiter ausgedehnt. Das heißt, es gab neues Land zu verteilen. In Chile war dagegen alles längst verteilt, weshalb sich keine derartigen Konflikte innerhalb der Elite bildeten.
Schumann: Hat also der Pragmatismus der heutigen chilenischen Politik der Concertación seine Wurzeln im 19. Jahrhundert?
Jocelyn-Holt: Ja, und dieser Pragmatismus ist in der gesamten Geschichte des republikanischen Chiles bis in unsere Tage festzustellen. Diego Portales, eine sehr wichtige Gestalt des 19. Jahrhunderts, hat in einem seiner berühmten Briefe beklagt, dass im Land nur noch Ruhe herrsche, nur Masse im Stillstand, keine Kritiker und keine Abweichler. Deshalb - so meinte er - könne man problemlos den Weg in die Moderne einschlagen, brauche also keine Angst zu haben vor politischen Parteien, einem Parlament oder der öffentlichen Meinung, vor der Eisenbahn oder dem Kapitalismus. Man müsse sich nach außen öffnen, in diesem fernen Chile.
Schumann: Portales war einer der Vordenker der Rechten. Manche halten ihn für einen Diktator, andere für den Gründer der Republik. Ist aus dem Zusammenbruch des spanischen Kolonialreichs diese Republik notwendigerweise entstanden?
Jocelyn-Holt: Nach dem Fall des Imperiums bedurfte die politische Ordnung einer neuen Legitimation, und da blieb nur die Republik als Alternative mit all diesen jakobineschen Ideen der Französischen Revolution. Sie wurden hier allerdings von einer traditionellen, aristokratischen, oligarchischen Elite umgesetzt. Sie war sehr autoritär orientiert, vor allem was die gesellschaftliche Ordnung betraf. Politisch war sie Experimenten wie regelmäßigen Wahlen, Gewaltenteilung, Verfassung et cetera nicht abgeneigt. In der politischen Praxis des 19. Jahrhunderts wurden sie jedoch nur beschränkt realisiert.
Schumann: Damals wurden auch Parteien gegründet, aber wozu, Herr Jocelyn-Holt, wenn es doch den großen Interessenausgleich gab, den Sie beschrieben haben?
Jocelyn-Holt: Es herrschte zwar die gleiche Gruppe politischer Führer, aber sie vertraten allmählich immer unterschiedlichere Interessen, die sie bald in politischen Parteien artikulierten, Parteien nach europäischen, nach französischen oder englischen Vorbildern. So entstanden die Konservativen mit ihrer Anlehnung an die katholische Kirche. Dann gab es die Liberalen und schließlich als Abspaltung die Radikalen mit stark französischem Einschlag. Im 20. Jahrhundert kamen dann die linken Parteien hinzu: die Kommunistische Partei, eine der wichtigsten in der westlichen Welt und in Amerika.
Schumann: Warum war sie so wichtig?
Jocelyn-Holt: Sie war gut organisiert und erreichte einen hohen Zuspruch: bis zu 18 Prozent. Dann ist die Sozialistische Partei zu nennen, eine Partei der Mittelschicht, der Facharbeiter und Intellektuellen. Die Kommunisten waren dagegen eine Kaderpartei mit proletarischen Wurzeln. Außerdem spalteten sich in den 30er-Jahren die Christdemokraten von den Konservativen ab. Mit Eduardo Frei, dem Vater, erreichten sie 1964 die absolute Mehrheit. Aber anders als in Europa war sie eine Mitte-Links-Partei. Danach kam es bei den Sozialisten und den Kommunisten zu Spaltungen, was beide Parteien nicht daran hinderte, sich in den 40er-Jahren in den Straßen von Santiago zahlreiche Schießereien, wirklich harte Konfrontationen, zu liefern.
Schumann: Solche Auseinandersetzungen gab es ja auch im Deutschland der 20er-Jahre.
Jocelyn-Holt: Es ging dabei um die Politik in Europa, beispielsweise um die Molotow-Ribbentrop-Übereinkunft, den Nichtangriffspakt. In Chile haben deshalb zeitweise Nazis und Kommunisten paktiert, denn die Sozialisten nahmen eine völlig konträre Position ein. Später erwies sich Allende als der große Baumeister einer Allianz zwischen der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei. Sie war fast ausschließlich sein Werk, und das sollte sich niemals mehr wiederholen.
Schumann: Sie sprechen jetzt von der Unidad Popular, der Regierung der Volkseinheit, in den Jahren 1970 bis 1973.
Jocelyn-Holt: Ja, aber auch dort gingen die Konflikte weiter. Die Kommunistische Partei zeigte sich in der Unidad-Popular-Regierung moderat, während die Sozialisten in sich zerstritten und schwer kontrollierbar waren. Das war ein sehr schwieriges Szenarium, das bis 1973 dauerte. Danach begann die Entwicklung, die bis heute reicht. Die Sozialistische Partei erneuerte sich im Exil, in Europa und dann auch in Chile. Sie ging 1988 beim Plebiszit über das Ende der Diktatur diese ungewöhnliche Allianz mit ihrem ehemaligen Feind, der Christdemokratischen Partei, ein. Daraus entstand das Regierungsbündnis der Concertación. Von allem ausgeschlossen blieb die Kommunistische Partei.
Schumann: Warum? Es war doch eine moderate Partei - wie Sie selbst gesagt haben.
Jocelyn-Holt: Die Kommunistische Partei hat sich damals jedoch verändert, was die anderen Parteien nicht akzeptiert haben. Sie entschied sich nämlich Anfang der 80er-Jahre doch noch und erstmals klar für den bewaffneten Kampf gegen die Diktatur. Damals - zwischen 1983 und 1986 - brach eine derart ernste Wirtschaftskrise aus, dass die Diktatur beinahe in einem Bürgerkrieg geendet hätte. Aber diese Vorstellung entsetzte die anderen Teile der Linken. Es war auch seltsam, denn während der Unidad Popular hatte die KP stets den bewaffneten Weg ausgeschlossen. Von da an wurde die Kommunistische Partei marginalisiert. Ein schwerer Fehler dieser Übergangszeit.
Schumann: Die KP wurde so weit ausgegrenzt, dass es ihr noch nicht einmal gelang, ins Parlament einzuziehen. Aber eine ganz andere Frage: Welche Rolle haben denn die Militärs in diesem Demokratisierungsprozess Chiles gespielt? Wann haben sie erstmals aktiv in die Politik eingegriffen? War das in den 20er-Jahren?
Jocelyn-Holt: 1920 war bereits eine sehr kritische Situation entstanden. Ein neuer, populistischer Kandidat kam an die Macht: Arturo Alessandri. Er war ein linksliberaler Vertreter der Mittelschicht, der aber die gravierenden sozialen Probleme nicht lösen konnte. Deshalb putschten 1924 junge Militärs. Sie zwangen ihn zum Rücktritt, holten ihn dann wieder ins Amt und jagten ihn später wieder fort. Eine Militärdiktatur war die Folge. Die soziale Krise wurde durch eine politische Krise verstärkt. Das machte die Situation immer instabiler. Eine neue Verfassung erschien als Ausweg. Sie wurde 1925 in Kraft gesetzt und beendete das parlamentarische System, das bereits 1860 etabliert worden war. An seine Stelle trat ein starkes Präsidialsystem. Es beruhte auf einer zivil-militärischen Übereinkunft zwischen den fortschrittlichen bürgerlichen Kräften und den Militärs.
Schumann: Hatten diese meist jüngeren Offiziere nicht auch progressive Vorstellungen, ähnlich wie ihre brasilianischen Waffenbrüder damals?
Jocelyn-Holt: Die Militärs wollten in den 20er-Jahren eine soziale Revolution entfachen, die auf gewissen korporativen Elementen beruhte, auf Vorstellungen, wie sie in verschiedenen Teilen der Welt zirkulierten. Da sie sich nicht durchsetzen konnten, suchten sie eine zivil-militärische Allianz. Sie macht auch verständlich, wieso Allende später, in der Notsituation von 1973, Militärs in die Regierung berief. Trotzdem kam es zum Putsch, denn General Pinochet verriet General Prats, den Oberkommandierenden, und ließ ihn später sogar in Buenos Aires ermorden.
Schumann: General Prats galt als verfassungstreu.
Jocelyn-Holt: Prats war ein Mann der Linken, was die Sache weiter komplizierte. Denn in der Zeit des Kalten Krieges waren die neuen, jüngeren Offiziere in den USA ausgebildet worden. Und nun kollidierte die linke Tradition der älteren chilenischen Offiziere mit den in den USA ausgeprägten Werten anderer Teile des Offizierskorps.
Schumann: Was Sie als eine zivil-militärische Allianz in den 20er-Jahren beschrieben haben, Herr Jocelyn-Holt, das erinnert mich doch sehr an den Pakt, der 1989 zwischen der Mitte-Links-Koalition und den Militärs geschlossen wurde, um einen friedlichen Übergang zur Demokratie zu ermöglichen.
Jocelyn-Holt: Es war eigentlich eine Allianz zwischen der Concertación und der Diktatur, die es erlaubte, das Erbe der Diktatur fortzuführen, vor allem die Verfassung von 1980 und das Wirtschaftsmodell. Eine Allianz zwischen der Rechten, den Putschisten, den Militärs und der Christdemokratischen sowie der Sozialistischen Partei. Und in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Verfassung auch nicht wesentlich verändert. Die zivil-militärische Regierungsform besteht weiter. Zwar wurden einige Vergünstigungen der Militärs beseitigt, aber alle Klauseln, die sich auf die nationale Sicherheit beziehen, sind ein Blankoscheck für die Militärs. Ganz zu schweigen vom Neoliberalismus: die Mitte-Linken der Concertación und die Christdemokraten sind oft neoliberaler als die Chicago Boys. Zusätzlich begünstigt das binominale Wahlsystem die herrschenden Parteien.
Schumann: Und vor allem die Rechte.
Jocelyn-Holt: Das binominale System sorgt für Stimmengleichheit. Ich glaube, dies ist ein in rechts und links geteiltes Land. Mit einem sehr starken Präsidialsystem, das auf der Verfassung von 1980 beruht. Aber das gefällt der Linken wie der Rechten und auch dem Zentrum. Denn Chile ist ein sehr autoritäres Land. Pinochet garantierte nun der Rechten nach dem Plebiszit von 1988 einen Stimmenanteil von 44 Prozent, in dem sich ein sehr hoher Prozentsatz von Pinochet-Anhängern befindet. Das hat verhindert, dass die chilenische Rechte in den letzten 20 Jahren weniger liberal wurde, als sie heute sein könnte. Sie hat sich auch nie vom Erbe der Diktatur wirklich distanziert.
Schumann: Aber gibt es nicht innerhalb der jüngeren Generation der Rechten, unter den jüngeren Unternehmern Leute, die mit dieser Vergangenheit brechen wollen?
Jocelyn-Holt: Die jungen Unternehmer sind zwar kosmopolitischer, denn sie sind international vernetzt, haben im Ausland, meist in den USA studiert und führen ihre Unternehmen sehr effizient. Sie sind wirtschaftlich gesehen Spitze und haben das System der Globalisierung internalisiert. Aber wenn man mit ihnen über Homo-Ehen spricht, sagen sie nein, Abtreibung: nein, allenfalls therapeutische Abtreibung. Kosmopolitische Leute Ende 20, Mitte 30 mit solchen Vorstellungen sind beängstigend. Auch pflegen sie ausgesprochen autoritäre Umgangsformen in diesen privaten Unternehmen. Das fällt besonders Ausländern auf.
Diese Jungunternehmer sind von einer Präpotenz, die jene der Argentinier längst in den Schatten gestellt hat. Ich führe das darauf zurück, dass sie in sehr konservativen Schulen erzogen wurden, die von sehr konservativen katholischen Orden geführt werden, dem Opus Dei beispielsweise. Von ihnen ist keine Erneuerung zu erwarten.
Schumann: Die kleine Schicht der Unternehmer zählt zu den großen Profiteuren des neoliberalen Wirtschaftsmodells in Chile. Das hängt auch damit zusammen, dass sie bisher wenig Rücksicht nehmen musste auf die Interessen der Arbeiterschaft. Was ist aus der vor einem Jahrhundert so starken und kämpferischen Arbeiterklasse geworden?
Jocelyn-Holt: Die chilenische Arbeiterklasse weist eine Reihe von Besonderheiten auf. Sie hat sich am Anfang des 20. Jahrhunderts politisch profiliert. Zuvor verfolgte sie eine Strategie der Generalstreiks, die meist in schrecklichen Massakern endeten. Das führte zu einer Kehrtwende, zur Herausbildung von kommunalen Organisationen, dann zu Gewerkschaften und schließlich zu Arbeiterparteien wie der Kommunistischen Partei. Sie funktionierten hervorragend innerhalb des Systems. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre die Industrialisierung als Antwort auf die Wirtschaftskrise einsetzte. Eine Fülle neuer privater Unternehmen, aber auch halbstaatliche und Staatsbetriebe wurden geschaffen. Bei ihnen konnten die Arbeiter nicht selten mitbestimmen wie zum Beispiel bei der CORFO, dem großen Verband zur Wirtschaftsförderung. In einigen Betriebsleitungen waren die Gewerkschaften vertreten. Das war eine sehr wichtige Entwicklung.
Schumann: Sie war zeitweise beispielhaft für Lateinamerika. Aber die Diktatur beseitigte die meisten Privilegien der Gewerkschaften.
Jocelyn-Holt: Ganze Branchen wie zum Beispiel die Textilindustrie wurden liquidiert oder entscheidend geschwächt. Viele Staatsbetriebe wurden privatisiert. Die Arbeitsgesetze wurden völlig verändert, der Aktionsraum der Gewerkschaften stark beschnitten. Die Arbeiterbewegung geriet immer mehr in die Defensive. Dann haben die kommunistischen Parteien mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer große Veränderungen durchgemacht, gerade auch die chilenischen Kommunisten, die traditionell sehr moskauhörig waren. Außerdem veränderte sich die Wirtschaft völlig: Sie basiert heute hauptsächlich auf Dienstleistungen. Und nach wie vor gibt es große Beschränkungen für die Gewerkschaften: bei der Durchführung von Streiks ebenso wie am Verhandlungstisch. Von einer Position der Gleichheit sind wir weit entfernt.
Schumann: Der CUT, der Dachverband der Gewerkschaften, wurde in den 50er-Jahren gegründet und war einst eine starke Vertretung der Arbeiterbewegung.
Jocelyn-Holt: Ihm wurde von der Diktatur hart zugesetzt. Er wurde systematisch verfolgt in diesem Polizeistaat. Doch danach, in den letzten 20 Jahren, hat es so gut wie keine Veränderungen an der Führungsspitze gegeben.
Schumann: Das ist ja wie bei der argentinischen CGT, dem peronistischen Gewerkschaftsbund.
Jocelyn-Holt: Genau so. Und deshalb hat die Concertación heute mit der gesamten Arbeiterführung leichtes Spiel. Sollte die Rechte, sollte Piñera sich bei den Präsidentschaftswahlen wirklich durchsetzen, dürfte er allerdings auf etwas größeren Widerstand treffen als die bisherige Mitte-Links-Koalition. Und dann dürften auch die neuen Gewerkschaften im Dienstleistungssektor stärker hervortreten. Dort gibt es einige bemerkenswerte junge Köpfe in der Führungsschicht, die sehr viel schwieriger zu integrieren sind. Doch man darf auch nicht vergessen, dass unsere Arbeitervertretungen immer sehr eng mit dem Staat liiert waren, wie die in Argentinien oder in Mexico. Hinzu kommt, dass in Chile die Arbeitsgesetze noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammen.
Schumann: Ein völlig anderes Problem mit historischen Wurzeln stellen die Mapuche dar. Sie gehören zu den ältesten, indigenen Völkern im südlichsten Amerika und sind das größte autochthone Volk Chiles. Sie haben ihre Siedlungsgebiete im 15. Jahrhundert erfolgreich gegen die Inkas verteidigt, haben im 16. Jahrhundert mehrfach die Spanier geschlagen, später den Chilenen heftigen Widerstand geleistet. Und heute, im 21. Jahrhundert, scheint sich der Konflikt wieder zuzuspitzen. Warum hat ihn die Concertación, diese große Parteienkoalition, nicht gelöst, Herr Jocelyn-Holt?
Jocelyn-Holt: Die Concertación hatte anfangs klare Vorstellungen, die sie aber nicht erfüllt hat. Dazu gehörte die konstitutionelle Anerkennung der Mapuche als Volk, was weitreichende Konsequenzen gehabt hätte. Stattdessen gehört die Region, in der heute die Mehrheit von denen lebt, die sich als Mapuche bezeichnen, noch immer zu den ärmsten Chiles. Der Name Mapuche bedeutet übrigens Menschen der Erde. Doch von dieser Erde wurden sie immer wieder vertrieben. Sie wurden ihres Landes und ihrer Rechte beraubt.
Schumann: Dass eine Militärdiktatur kein Interesse daran hat, sich um Ureinwohner zu kümmern, die nicht einmal touristisch etwas hermachen, weil sie keine Baudenkmäler geschaffen haben, leuchtet vielleicht noch ein. Doch gilt das Verdikt von Pinochet auch heute noch, der einmal sagte: Ich kenne keine Ureinwohner, nur Chilenen?
Jocelyn-Holt: Chile stellt auch in dieser Frage einen Sonderfall dar. Überall in Lateinamerika ist es den Spaniern leicht gefallen, mit der indigenen Welt fertig zu werden. Ganze Imperien sind dabei zusammengebrochen: die Azteken, die Inkas. Auf größte Schwierigkeiten trafen sie jedoch in Chile und im Süden Argentiniens, wo die Mapuche ebenfalls siedelten. Dabei besaßen diese - anders als die Azteken und die Inkas - noch nicht einmal besonders ausgeprägte Organisationsformen. Seltsamerweise wurden sie von den Spaniern als einzigartig und sogar als gleichgestellt betrachtet, obwohl die Kolonisatoren mit den besten Soldaten Europas anrückten. Das war eine recht bemerkenswerte Anerkennung.
Schumann: Sie fand ja damals, im 16. Jahrhundert, bereits einen literarischen Niederschlag in dem Poem La Araucana von Alonso de Ercilla. Dieser spanische Schriftsteller sollte eigentlich die Heldentaten der spanischen Eroberer preisen, beschrieb jedoch den Heldenmut der Araukaner, also der Mapuche.
Jocelyn-Holt: Er hat sie nicht nur als Ebenbürtige anerkannt, sondern sogar als den Spaniern im Krieg Überlegene. Diese Bewunderung hat sich in der Politik der spanischen Krone ausgedrückt. Sie zog am Rio Bio Bio eine Grenze zwischen ihrem Einflussbereich und dem der Mapuche. Damit wollten sie verhindern, dass die Mapuche bis nach Santiago gelangten. Das Verhältnis der Spanier zu den Mapuche war also in der Kolonialzeit ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Machtverhältnis. Ihr Gebiet wurde als eine Art unabhängige Republik betrachtet und nie erobert. Erst Jahrhunderte später, 1880, wurden sie von einer chilenisch-argentinischen Armee besiegt. Das heißt, die Ressentiments des Volks der Mapuche richten sich seither hauptsächlich gegen die chilenische Republik, denn sie hat Einwanderer und Landbesetzer zu ihnen geschickt.
Schumann: Wer heute die beiden führenden Zeitungen, "Mercurio" oder "La Tercera", liest oder die Nachrichtensendungen des Fernsehens verfolgt, gewinnt den Eindruck, die Mapuche seien Terroristen, die Lastwagen anzünden und ihre Kinder als Schutzschilde gegen Angriffe der Carabineros benutzen.
Jocelyn-Holt: Die Printmedien bilden ein Oligopol aus zwei großen Gruppen der Rechten. Die Concertación hat es versäumt, alternative Medien zu schaffen. Am Ende der Diktatur hatten wir eine größere Meinungsvielfalt als heute. Ganz zu schweigen vom Fernsehen, wo es noch mehr Zensur gibt. Und diese Medien bestreiten bis heute, dass es überhaupt ein Mapuche-Problem gibt. Dabei ist die Bedeutung des Volks der Mapuche immer evidenter geworden. Immerhin ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die Mapuche etwa zehn Prozent der Bevölkerung umfassen. Einzelne Teile ihrer Führerschaft gehören zu den fähigsten Köpfen des Landes. Einige der besten chilenischen Dichter von heute stammen von den Mapuche ab.
Schumann: Sie sprechen aber jetzt von jenem kleinen Teil, der sich in die bürgerliche chilenische Gesellschaft integriert hat, gut ausgebildet ist und Universitäten besuchen kann. Der viel größere Teil ist jedoch als Gelegenheitsarbeiter oder Arbeitsloser in Santiago zu Hause oder lebt meist unter ärmlichen Verhältnissen in Araukanien.
Jocelyn-Holt: Ja, das ist eines der ärmsten Gebiete Chiles, mit einer sehr starken militärischen Präsenz, und zwar einer Präsenz von Carabineros. Diese haben in Chile nicht nur Polizeiaufgaben, sondern bestehen auch aus paramilitärischen Truppen. Ihre Anwesenheit gleicht einer Besetzung des Gebiets der Mapuche. Denn es gibt in Chile nur drei Zentren mit starker Militärpräsenz: im äußersten Norden, im äußersten Süden - aus Gründen des Grenzschutzes - und in Araukanien.
Schumann: Herr Jocelyn-Holt, wir haben in diesem Gespräch oft von der Concertación gesprochen, dem Bündnis von Christ- und Sozialdemokraten. Es ist der politische Teil des chilenischen Modells. Bei den Präsidentschaftswahlen am 13. Dezember, dem ersten Wahlgang, hat der christdemokratische Kandidat der Concertación nun eine herbe Niederlage erlitten, und es ist wenig wahrscheinlich, dass er den zweiten Wahlgang Mitte dieses Monats gewinnt. Hat die Concertación abgewirtschaftet?
Jocelyn-Holt: Zum ersten Mal können wir das Ende der Concertación absehen. Sie war eine sehr erfolgreiche Koalition und hat seit 1989 alle Wahlen gewonnen. Und alle aktuellen Kandidaten haben irgendeine Beziehung zu dieser Koalition. Sebastían Piñera von der Rechten gehörte früher zu den Christdemokraten. Jorge Arrate von den Linken, den Kommunisten, war Minister und Botschafter der Concertación. Marco Enríquez, der unabhängige Kandidat, war bis zu diesem Jahr Parlamentsabgeordneter der Sozialisten.
Schumann: Lauter Dissidenten. Also noch einmal: Löst sich die Concertación auf?
Jocelyn-Holt: Der Verschleiß der Regierung ist gewaltig. Das Ausmaß an Korruption ist immer größer geworden und überall sichtbar. Dabei gab es bisher in Chile nur relativ wenig Korruption, denn es war ein relativ armes Land. Doch mit dem Ausmaß an Reichtum stieg auch der Grad an Korruption in der Regierung. Selbst der Staatsapparat ist immer ineffizienter geworden, weil die Funktionen nach Quote und nicht nach Fähigkeit vergeben werden. Das binominale System repräsentiert längst nicht mehr die Gesellschaft, die immer pluralistischer geworden ist. Eine Mehrheit der Chilenen stellt heute die Concertación infrage, genauso wie das binominale System und überhaupt die Kohabitation zwischen Rechts und Mitte-Links.
Die Unabhängigkeitsbewegungen schufen dennoch Grundlagen für die gesellschaftliche Entwicklung von heute. Sie wollen wir unter anderem im Lauf dieses Bicentenario-Jahres am Beispiel von Chile, Mexico und Argentinien untersuchen. Wir beginnen mit Chile.
Unser Gesprächspartner in dieser ersten Folge ist Alfredo Jocelyn-Holt, Professor für Geschichte an der staatlichen Universidad de Chile. Von seinen zahlreichen Publikationen ist die Universalgeschichte Chiles zu nennen, von der bisher drei Bände erschienen sind.
Herr Jocelyn-Holt, insgesamt zehn Länder feiern zwischen 2009 und 2011 ihr Bicentenario. Ist das ein zufälliges Zusammentreffen oder Ausdruck einer kontinentalen Unabhängigkeitsbewegung zwischen 1809 und 1811?
Alfredo Jocelyn-Holt: Tatsächlich beginnt diese Entwicklung bereits 1808 mit dem Einmarsch Napoleons in Spanien, also mit dem Zusammenbruch des spanischen Imperiums. Daraufhin bildeten sich, vor allem 1810, verschiedene nationale Regierungen in den spanischen Kolonien Amerikas. Aber die Präsenz der Spanier dauerte noch bis 1827: Es war ein langer Prozess bis zur endgültigen Unabhängigkeit. In Chile hat man nun den Beginn der Unabhängigkeit auf den 18. September 1810 datiert, als sich hier die erste Nationalregierung konstituierte. Daraus wurde unser Nationalfeiertag, den wir heute als Volksfest mit Karnevalcharakter begehen. Dabei hat damals doch nur eine Gruppe von Oligarchen die Beamten der spanischen Krone abgelöst. Das ist einer dieser seltsamen Widersprüche, die in der Geschichte oft vorkommen.
Schumann: Das hatte aber eigentlich noch nichts mit Unabhängigkeit zu tun, denn danach haben sich jahrelang die Königstreuen und die Patrioten heftig bekämpft. Die Spanier schickten sogar ihre Heerscharen zu Land und zu Wasser gegen die Chilenen los. Man spricht deshalb von einer Zeit der Reconquista, also der Rückeroberung durch die Spanier. Wann ist denn nun Chile wirklich gegründet worden?
Jocelyn-Holt: Die Unabhängigkeit wurde 1818 erklärt, nachdem eine spanische Invasion erfolgreich zurückgeschlagen worden war. Wir müssen uns vor Augen halten, dass der spanische Teil Südamerikas damals Vizekönigreich Peru hieß. Chile besiegte also Peru in einem kontinent-weiten Kampf gegen Spanien, denn daran nahmen auch südamerikanische Freiheitskämpfer teil wie Bolívar und San Martín.
Schumann: Danach wurde es aber auch nicht ruhig: Es kam zu blutigen Machtkämpfen, ja Bürgerkriegen zwischen den Konservativen - also den Großgrundbesitzern - und den Liberalen, der etwas weltaufgeschlosseneren Handelselite. Sind diese gewaltsamen Auseinandersetzungen typisch für diese frühe Zeit der Staatsgründung im spanischen Amerika?
Jocelyn-Holt: Chiles Entwicklung ist singulär, denn es ist das erste Land - so wird immer wieder gesagt -, das sich zu organisieren verstand nach dem Prozess der Unabhängigkeit. Wir hatten weniger Konflikte als das übrige Amerika. Denn Chile war noch kleiner als heute, umfasste damals nur ein Drittel unseres Gebiets. Und besaß eine Führungsschicht mit recht großer politischer Erfahrung, die sie in der Kolonialzeit gesammelt hatte. Sie war sehr gut vernetzt und vertrat Grundbesitzer-, Händler- und Mineninteressen. Es gab keine inneren Brüche, denn es war eine sehr pragmatische Elite in einem sehr kleinen, sehr armen Land. Ich glaube, dass sie sehr geschickt das Wenige verteilt haben.
Schumann: Sie haben dafür ein schönes Bild geschaffen: erdbebensichere Politik.
Jocelyn-Holt: Chile ist ein Land ständiger Erdbeben. Und unsere Politiker gehen wie Ingenieure ans Werk: Sie betreiben sozusagen eine antiseismische, eine erbeben-sichere Politik. Wir besaßen sehr gute politische Ingenieure, die sehr gute Institutionen geschaffen haben. Das ist ein wichtiger Faktor, der die Stabilität Chiles erklärt, aber die Bürgerkriege im 19. Jahrhundert nicht ausschließt. Doch im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern bricht die Elite dabei nicht zusammen. Das ist entscheidend für unsere Entwicklung.
Schumann: Und das unterscheidet Chile beispielsweise von seinem Nachbarland Argentinien.
Jocelyn-Holt: Dort gab es große politische Wirren im 19. Jahrhundert, denn die Grundbesitzerelite auf dem Land war völlig anders als die Handelselite in Buenos Aires. Außerdem hat sich am Ende der Unabhängigkeit das argentinische Staatsgebiet immer noch weiter ausgedehnt. Das heißt, es gab neues Land zu verteilen. In Chile war dagegen alles längst verteilt, weshalb sich keine derartigen Konflikte innerhalb der Elite bildeten.
Schumann: Hat also der Pragmatismus der heutigen chilenischen Politik der Concertación seine Wurzeln im 19. Jahrhundert?
Jocelyn-Holt: Ja, und dieser Pragmatismus ist in der gesamten Geschichte des republikanischen Chiles bis in unsere Tage festzustellen. Diego Portales, eine sehr wichtige Gestalt des 19. Jahrhunderts, hat in einem seiner berühmten Briefe beklagt, dass im Land nur noch Ruhe herrsche, nur Masse im Stillstand, keine Kritiker und keine Abweichler. Deshalb - so meinte er - könne man problemlos den Weg in die Moderne einschlagen, brauche also keine Angst zu haben vor politischen Parteien, einem Parlament oder der öffentlichen Meinung, vor der Eisenbahn oder dem Kapitalismus. Man müsse sich nach außen öffnen, in diesem fernen Chile.
Schumann: Portales war einer der Vordenker der Rechten. Manche halten ihn für einen Diktator, andere für den Gründer der Republik. Ist aus dem Zusammenbruch des spanischen Kolonialreichs diese Republik notwendigerweise entstanden?
Jocelyn-Holt: Nach dem Fall des Imperiums bedurfte die politische Ordnung einer neuen Legitimation, und da blieb nur die Republik als Alternative mit all diesen jakobineschen Ideen der Französischen Revolution. Sie wurden hier allerdings von einer traditionellen, aristokratischen, oligarchischen Elite umgesetzt. Sie war sehr autoritär orientiert, vor allem was die gesellschaftliche Ordnung betraf. Politisch war sie Experimenten wie regelmäßigen Wahlen, Gewaltenteilung, Verfassung et cetera nicht abgeneigt. In der politischen Praxis des 19. Jahrhunderts wurden sie jedoch nur beschränkt realisiert.
Schumann: Damals wurden auch Parteien gegründet, aber wozu, Herr Jocelyn-Holt, wenn es doch den großen Interessenausgleich gab, den Sie beschrieben haben?
Jocelyn-Holt: Es herrschte zwar die gleiche Gruppe politischer Führer, aber sie vertraten allmählich immer unterschiedlichere Interessen, die sie bald in politischen Parteien artikulierten, Parteien nach europäischen, nach französischen oder englischen Vorbildern. So entstanden die Konservativen mit ihrer Anlehnung an die katholische Kirche. Dann gab es die Liberalen und schließlich als Abspaltung die Radikalen mit stark französischem Einschlag. Im 20. Jahrhundert kamen dann die linken Parteien hinzu: die Kommunistische Partei, eine der wichtigsten in der westlichen Welt und in Amerika.
Schumann: Warum war sie so wichtig?
Jocelyn-Holt: Sie war gut organisiert und erreichte einen hohen Zuspruch: bis zu 18 Prozent. Dann ist die Sozialistische Partei zu nennen, eine Partei der Mittelschicht, der Facharbeiter und Intellektuellen. Die Kommunisten waren dagegen eine Kaderpartei mit proletarischen Wurzeln. Außerdem spalteten sich in den 30er-Jahren die Christdemokraten von den Konservativen ab. Mit Eduardo Frei, dem Vater, erreichten sie 1964 die absolute Mehrheit. Aber anders als in Europa war sie eine Mitte-Links-Partei. Danach kam es bei den Sozialisten und den Kommunisten zu Spaltungen, was beide Parteien nicht daran hinderte, sich in den 40er-Jahren in den Straßen von Santiago zahlreiche Schießereien, wirklich harte Konfrontationen, zu liefern.
Schumann: Solche Auseinandersetzungen gab es ja auch im Deutschland der 20er-Jahre.
Jocelyn-Holt: Es ging dabei um die Politik in Europa, beispielsweise um die Molotow-Ribbentrop-Übereinkunft, den Nichtangriffspakt. In Chile haben deshalb zeitweise Nazis und Kommunisten paktiert, denn die Sozialisten nahmen eine völlig konträre Position ein. Später erwies sich Allende als der große Baumeister einer Allianz zwischen der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei. Sie war fast ausschließlich sein Werk, und das sollte sich niemals mehr wiederholen.
Schumann: Sie sprechen jetzt von der Unidad Popular, der Regierung der Volkseinheit, in den Jahren 1970 bis 1973.
Jocelyn-Holt: Ja, aber auch dort gingen die Konflikte weiter. Die Kommunistische Partei zeigte sich in der Unidad-Popular-Regierung moderat, während die Sozialisten in sich zerstritten und schwer kontrollierbar waren. Das war ein sehr schwieriges Szenarium, das bis 1973 dauerte. Danach begann die Entwicklung, die bis heute reicht. Die Sozialistische Partei erneuerte sich im Exil, in Europa und dann auch in Chile. Sie ging 1988 beim Plebiszit über das Ende der Diktatur diese ungewöhnliche Allianz mit ihrem ehemaligen Feind, der Christdemokratischen Partei, ein. Daraus entstand das Regierungsbündnis der Concertación. Von allem ausgeschlossen blieb die Kommunistische Partei.
Schumann: Warum? Es war doch eine moderate Partei - wie Sie selbst gesagt haben.
Jocelyn-Holt: Die Kommunistische Partei hat sich damals jedoch verändert, was die anderen Parteien nicht akzeptiert haben. Sie entschied sich nämlich Anfang der 80er-Jahre doch noch und erstmals klar für den bewaffneten Kampf gegen die Diktatur. Damals - zwischen 1983 und 1986 - brach eine derart ernste Wirtschaftskrise aus, dass die Diktatur beinahe in einem Bürgerkrieg geendet hätte. Aber diese Vorstellung entsetzte die anderen Teile der Linken. Es war auch seltsam, denn während der Unidad Popular hatte die KP stets den bewaffneten Weg ausgeschlossen. Von da an wurde die Kommunistische Partei marginalisiert. Ein schwerer Fehler dieser Übergangszeit.
Schumann: Die KP wurde so weit ausgegrenzt, dass es ihr noch nicht einmal gelang, ins Parlament einzuziehen. Aber eine ganz andere Frage: Welche Rolle haben denn die Militärs in diesem Demokratisierungsprozess Chiles gespielt? Wann haben sie erstmals aktiv in die Politik eingegriffen? War das in den 20er-Jahren?
Jocelyn-Holt: 1920 war bereits eine sehr kritische Situation entstanden. Ein neuer, populistischer Kandidat kam an die Macht: Arturo Alessandri. Er war ein linksliberaler Vertreter der Mittelschicht, der aber die gravierenden sozialen Probleme nicht lösen konnte. Deshalb putschten 1924 junge Militärs. Sie zwangen ihn zum Rücktritt, holten ihn dann wieder ins Amt und jagten ihn später wieder fort. Eine Militärdiktatur war die Folge. Die soziale Krise wurde durch eine politische Krise verstärkt. Das machte die Situation immer instabiler. Eine neue Verfassung erschien als Ausweg. Sie wurde 1925 in Kraft gesetzt und beendete das parlamentarische System, das bereits 1860 etabliert worden war. An seine Stelle trat ein starkes Präsidialsystem. Es beruhte auf einer zivil-militärischen Übereinkunft zwischen den fortschrittlichen bürgerlichen Kräften und den Militärs.
Schumann: Hatten diese meist jüngeren Offiziere nicht auch progressive Vorstellungen, ähnlich wie ihre brasilianischen Waffenbrüder damals?
Jocelyn-Holt: Die Militärs wollten in den 20er-Jahren eine soziale Revolution entfachen, die auf gewissen korporativen Elementen beruhte, auf Vorstellungen, wie sie in verschiedenen Teilen der Welt zirkulierten. Da sie sich nicht durchsetzen konnten, suchten sie eine zivil-militärische Allianz. Sie macht auch verständlich, wieso Allende später, in der Notsituation von 1973, Militärs in die Regierung berief. Trotzdem kam es zum Putsch, denn General Pinochet verriet General Prats, den Oberkommandierenden, und ließ ihn später sogar in Buenos Aires ermorden.
Schumann: General Prats galt als verfassungstreu.
Jocelyn-Holt: Prats war ein Mann der Linken, was die Sache weiter komplizierte. Denn in der Zeit des Kalten Krieges waren die neuen, jüngeren Offiziere in den USA ausgebildet worden. Und nun kollidierte die linke Tradition der älteren chilenischen Offiziere mit den in den USA ausgeprägten Werten anderer Teile des Offizierskorps.
Schumann: Was Sie als eine zivil-militärische Allianz in den 20er-Jahren beschrieben haben, Herr Jocelyn-Holt, das erinnert mich doch sehr an den Pakt, der 1989 zwischen der Mitte-Links-Koalition und den Militärs geschlossen wurde, um einen friedlichen Übergang zur Demokratie zu ermöglichen.
Jocelyn-Holt: Es war eigentlich eine Allianz zwischen der Concertación und der Diktatur, die es erlaubte, das Erbe der Diktatur fortzuführen, vor allem die Verfassung von 1980 und das Wirtschaftsmodell. Eine Allianz zwischen der Rechten, den Putschisten, den Militärs und der Christdemokratischen sowie der Sozialistischen Partei. Und in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Verfassung auch nicht wesentlich verändert. Die zivil-militärische Regierungsform besteht weiter. Zwar wurden einige Vergünstigungen der Militärs beseitigt, aber alle Klauseln, die sich auf die nationale Sicherheit beziehen, sind ein Blankoscheck für die Militärs. Ganz zu schweigen vom Neoliberalismus: die Mitte-Linken der Concertación und die Christdemokraten sind oft neoliberaler als die Chicago Boys. Zusätzlich begünstigt das binominale Wahlsystem die herrschenden Parteien.
Schumann: Und vor allem die Rechte.
Jocelyn-Holt: Das binominale System sorgt für Stimmengleichheit. Ich glaube, dies ist ein in rechts und links geteiltes Land. Mit einem sehr starken Präsidialsystem, das auf der Verfassung von 1980 beruht. Aber das gefällt der Linken wie der Rechten und auch dem Zentrum. Denn Chile ist ein sehr autoritäres Land. Pinochet garantierte nun der Rechten nach dem Plebiszit von 1988 einen Stimmenanteil von 44 Prozent, in dem sich ein sehr hoher Prozentsatz von Pinochet-Anhängern befindet. Das hat verhindert, dass die chilenische Rechte in den letzten 20 Jahren weniger liberal wurde, als sie heute sein könnte. Sie hat sich auch nie vom Erbe der Diktatur wirklich distanziert.
Schumann: Aber gibt es nicht innerhalb der jüngeren Generation der Rechten, unter den jüngeren Unternehmern Leute, die mit dieser Vergangenheit brechen wollen?
Jocelyn-Holt: Die jungen Unternehmer sind zwar kosmopolitischer, denn sie sind international vernetzt, haben im Ausland, meist in den USA studiert und führen ihre Unternehmen sehr effizient. Sie sind wirtschaftlich gesehen Spitze und haben das System der Globalisierung internalisiert. Aber wenn man mit ihnen über Homo-Ehen spricht, sagen sie nein, Abtreibung: nein, allenfalls therapeutische Abtreibung. Kosmopolitische Leute Ende 20, Mitte 30 mit solchen Vorstellungen sind beängstigend. Auch pflegen sie ausgesprochen autoritäre Umgangsformen in diesen privaten Unternehmen. Das fällt besonders Ausländern auf.
Diese Jungunternehmer sind von einer Präpotenz, die jene der Argentinier längst in den Schatten gestellt hat. Ich führe das darauf zurück, dass sie in sehr konservativen Schulen erzogen wurden, die von sehr konservativen katholischen Orden geführt werden, dem Opus Dei beispielsweise. Von ihnen ist keine Erneuerung zu erwarten.
Schumann: Die kleine Schicht der Unternehmer zählt zu den großen Profiteuren des neoliberalen Wirtschaftsmodells in Chile. Das hängt auch damit zusammen, dass sie bisher wenig Rücksicht nehmen musste auf die Interessen der Arbeiterschaft. Was ist aus der vor einem Jahrhundert so starken und kämpferischen Arbeiterklasse geworden?
Jocelyn-Holt: Die chilenische Arbeiterklasse weist eine Reihe von Besonderheiten auf. Sie hat sich am Anfang des 20. Jahrhunderts politisch profiliert. Zuvor verfolgte sie eine Strategie der Generalstreiks, die meist in schrecklichen Massakern endeten. Das führte zu einer Kehrtwende, zur Herausbildung von kommunalen Organisationen, dann zu Gewerkschaften und schließlich zu Arbeiterparteien wie der Kommunistischen Partei. Sie funktionierten hervorragend innerhalb des Systems. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre die Industrialisierung als Antwort auf die Wirtschaftskrise einsetzte. Eine Fülle neuer privater Unternehmen, aber auch halbstaatliche und Staatsbetriebe wurden geschaffen. Bei ihnen konnten die Arbeiter nicht selten mitbestimmen wie zum Beispiel bei der CORFO, dem großen Verband zur Wirtschaftsförderung. In einigen Betriebsleitungen waren die Gewerkschaften vertreten. Das war eine sehr wichtige Entwicklung.
Schumann: Sie war zeitweise beispielhaft für Lateinamerika. Aber die Diktatur beseitigte die meisten Privilegien der Gewerkschaften.
Jocelyn-Holt: Ganze Branchen wie zum Beispiel die Textilindustrie wurden liquidiert oder entscheidend geschwächt. Viele Staatsbetriebe wurden privatisiert. Die Arbeitsgesetze wurden völlig verändert, der Aktionsraum der Gewerkschaften stark beschnitten. Die Arbeiterbewegung geriet immer mehr in die Defensive. Dann haben die kommunistischen Parteien mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer große Veränderungen durchgemacht, gerade auch die chilenischen Kommunisten, die traditionell sehr moskauhörig waren. Außerdem veränderte sich die Wirtschaft völlig: Sie basiert heute hauptsächlich auf Dienstleistungen. Und nach wie vor gibt es große Beschränkungen für die Gewerkschaften: bei der Durchführung von Streiks ebenso wie am Verhandlungstisch. Von einer Position der Gleichheit sind wir weit entfernt.
Schumann: Der CUT, der Dachverband der Gewerkschaften, wurde in den 50er-Jahren gegründet und war einst eine starke Vertretung der Arbeiterbewegung.
Jocelyn-Holt: Ihm wurde von der Diktatur hart zugesetzt. Er wurde systematisch verfolgt in diesem Polizeistaat. Doch danach, in den letzten 20 Jahren, hat es so gut wie keine Veränderungen an der Führungsspitze gegeben.
Schumann: Das ist ja wie bei der argentinischen CGT, dem peronistischen Gewerkschaftsbund.
Jocelyn-Holt: Genau so. Und deshalb hat die Concertación heute mit der gesamten Arbeiterführung leichtes Spiel. Sollte die Rechte, sollte Piñera sich bei den Präsidentschaftswahlen wirklich durchsetzen, dürfte er allerdings auf etwas größeren Widerstand treffen als die bisherige Mitte-Links-Koalition. Und dann dürften auch die neuen Gewerkschaften im Dienstleistungssektor stärker hervortreten. Dort gibt es einige bemerkenswerte junge Köpfe in der Führungsschicht, die sehr viel schwieriger zu integrieren sind. Doch man darf auch nicht vergessen, dass unsere Arbeitervertretungen immer sehr eng mit dem Staat liiert waren, wie die in Argentinien oder in Mexico. Hinzu kommt, dass in Chile die Arbeitsgesetze noch aus der Zeit der Militärdiktatur stammen.
Schumann: Ein völlig anderes Problem mit historischen Wurzeln stellen die Mapuche dar. Sie gehören zu den ältesten, indigenen Völkern im südlichsten Amerika und sind das größte autochthone Volk Chiles. Sie haben ihre Siedlungsgebiete im 15. Jahrhundert erfolgreich gegen die Inkas verteidigt, haben im 16. Jahrhundert mehrfach die Spanier geschlagen, später den Chilenen heftigen Widerstand geleistet. Und heute, im 21. Jahrhundert, scheint sich der Konflikt wieder zuzuspitzen. Warum hat ihn die Concertación, diese große Parteienkoalition, nicht gelöst, Herr Jocelyn-Holt?
Jocelyn-Holt: Die Concertación hatte anfangs klare Vorstellungen, die sie aber nicht erfüllt hat. Dazu gehörte die konstitutionelle Anerkennung der Mapuche als Volk, was weitreichende Konsequenzen gehabt hätte. Stattdessen gehört die Region, in der heute die Mehrheit von denen lebt, die sich als Mapuche bezeichnen, noch immer zu den ärmsten Chiles. Der Name Mapuche bedeutet übrigens Menschen der Erde. Doch von dieser Erde wurden sie immer wieder vertrieben. Sie wurden ihres Landes und ihrer Rechte beraubt.
Schumann: Dass eine Militärdiktatur kein Interesse daran hat, sich um Ureinwohner zu kümmern, die nicht einmal touristisch etwas hermachen, weil sie keine Baudenkmäler geschaffen haben, leuchtet vielleicht noch ein. Doch gilt das Verdikt von Pinochet auch heute noch, der einmal sagte: Ich kenne keine Ureinwohner, nur Chilenen?
Jocelyn-Holt: Chile stellt auch in dieser Frage einen Sonderfall dar. Überall in Lateinamerika ist es den Spaniern leicht gefallen, mit der indigenen Welt fertig zu werden. Ganze Imperien sind dabei zusammengebrochen: die Azteken, die Inkas. Auf größte Schwierigkeiten trafen sie jedoch in Chile und im Süden Argentiniens, wo die Mapuche ebenfalls siedelten. Dabei besaßen diese - anders als die Azteken und die Inkas - noch nicht einmal besonders ausgeprägte Organisationsformen. Seltsamerweise wurden sie von den Spaniern als einzigartig und sogar als gleichgestellt betrachtet, obwohl die Kolonisatoren mit den besten Soldaten Europas anrückten. Das war eine recht bemerkenswerte Anerkennung.
Schumann: Sie fand ja damals, im 16. Jahrhundert, bereits einen literarischen Niederschlag in dem Poem La Araucana von Alonso de Ercilla. Dieser spanische Schriftsteller sollte eigentlich die Heldentaten der spanischen Eroberer preisen, beschrieb jedoch den Heldenmut der Araukaner, also der Mapuche.
Jocelyn-Holt: Er hat sie nicht nur als Ebenbürtige anerkannt, sondern sogar als den Spaniern im Krieg Überlegene. Diese Bewunderung hat sich in der Politik der spanischen Krone ausgedrückt. Sie zog am Rio Bio Bio eine Grenze zwischen ihrem Einflussbereich und dem der Mapuche. Damit wollten sie verhindern, dass die Mapuche bis nach Santiago gelangten. Das Verhältnis der Spanier zu den Mapuche war also in der Kolonialzeit ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Machtverhältnis. Ihr Gebiet wurde als eine Art unabhängige Republik betrachtet und nie erobert. Erst Jahrhunderte später, 1880, wurden sie von einer chilenisch-argentinischen Armee besiegt. Das heißt, die Ressentiments des Volks der Mapuche richten sich seither hauptsächlich gegen die chilenische Republik, denn sie hat Einwanderer und Landbesetzer zu ihnen geschickt.
Schumann: Wer heute die beiden führenden Zeitungen, "Mercurio" oder "La Tercera", liest oder die Nachrichtensendungen des Fernsehens verfolgt, gewinnt den Eindruck, die Mapuche seien Terroristen, die Lastwagen anzünden und ihre Kinder als Schutzschilde gegen Angriffe der Carabineros benutzen.
Jocelyn-Holt: Die Printmedien bilden ein Oligopol aus zwei großen Gruppen der Rechten. Die Concertación hat es versäumt, alternative Medien zu schaffen. Am Ende der Diktatur hatten wir eine größere Meinungsvielfalt als heute. Ganz zu schweigen vom Fernsehen, wo es noch mehr Zensur gibt. Und diese Medien bestreiten bis heute, dass es überhaupt ein Mapuche-Problem gibt. Dabei ist die Bedeutung des Volks der Mapuche immer evidenter geworden. Immerhin ist inzwischen allgemein anerkannt, dass die Mapuche etwa zehn Prozent der Bevölkerung umfassen. Einzelne Teile ihrer Führerschaft gehören zu den fähigsten Köpfen des Landes. Einige der besten chilenischen Dichter von heute stammen von den Mapuche ab.
Schumann: Sie sprechen aber jetzt von jenem kleinen Teil, der sich in die bürgerliche chilenische Gesellschaft integriert hat, gut ausgebildet ist und Universitäten besuchen kann. Der viel größere Teil ist jedoch als Gelegenheitsarbeiter oder Arbeitsloser in Santiago zu Hause oder lebt meist unter ärmlichen Verhältnissen in Araukanien.
Jocelyn-Holt: Ja, das ist eines der ärmsten Gebiete Chiles, mit einer sehr starken militärischen Präsenz, und zwar einer Präsenz von Carabineros. Diese haben in Chile nicht nur Polizeiaufgaben, sondern bestehen auch aus paramilitärischen Truppen. Ihre Anwesenheit gleicht einer Besetzung des Gebiets der Mapuche. Denn es gibt in Chile nur drei Zentren mit starker Militärpräsenz: im äußersten Norden, im äußersten Süden - aus Gründen des Grenzschutzes - und in Araukanien.
Schumann: Herr Jocelyn-Holt, wir haben in diesem Gespräch oft von der Concertación gesprochen, dem Bündnis von Christ- und Sozialdemokraten. Es ist der politische Teil des chilenischen Modells. Bei den Präsidentschaftswahlen am 13. Dezember, dem ersten Wahlgang, hat der christdemokratische Kandidat der Concertación nun eine herbe Niederlage erlitten, und es ist wenig wahrscheinlich, dass er den zweiten Wahlgang Mitte dieses Monats gewinnt. Hat die Concertación abgewirtschaftet?
Jocelyn-Holt: Zum ersten Mal können wir das Ende der Concertación absehen. Sie war eine sehr erfolgreiche Koalition und hat seit 1989 alle Wahlen gewonnen. Und alle aktuellen Kandidaten haben irgendeine Beziehung zu dieser Koalition. Sebastían Piñera von der Rechten gehörte früher zu den Christdemokraten. Jorge Arrate von den Linken, den Kommunisten, war Minister und Botschafter der Concertación. Marco Enríquez, der unabhängige Kandidat, war bis zu diesem Jahr Parlamentsabgeordneter der Sozialisten.
Schumann: Lauter Dissidenten. Also noch einmal: Löst sich die Concertación auf?
Jocelyn-Holt: Der Verschleiß der Regierung ist gewaltig. Das Ausmaß an Korruption ist immer größer geworden und überall sichtbar. Dabei gab es bisher in Chile nur relativ wenig Korruption, denn es war ein relativ armes Land. Doch mit dem Ausmaß an Reichtum stieg auch der Grad an Korruption in der Regierung. Selbst der Staatsapparat ist immer ineffizienter geworden, weil die Funktionen nach Quote und nicht nach Fähigkeit vergeben werden. Das binominale System repräsentiert längst nicht mehr die Gesellschaft, die immer pluralistischer geworden ist. Eine Mehrheit der Chilenen stellt heute die Concertación infrage, genauso wie das binominale System und überhaupt die Kohabitation zwischen Rechts und Mitte-Links.