Wäre sein Schüler nicht an den fortgesetzten Prügelstrafen gestorben, wer weiß: Womöglich wäre aus Andreas Dippold sogar ein renommierter Pädagoge geworden. Er selbst jedenfalls hielt sich für einen Erzieher von Format. Aber auch den Eltern Rudolf und Rosalie Koch galt der 23-jährige Jurastudent bis zum Tod ihres Sohnes als "idealer Lehrer". So aber wanderte Dippold, der auch vor Gericht starrsinnig an seinen Erziehungsmethoden festhielt, im Oktober 1903 ins Zuchthaus - und als "Fall" in die psychiatrischen Lehrbücher. Im Kuriositätenkabinett der Sexualwissenschaften sollte er fortan als "Dippoldist" weiterspuken, als sadistischer Erzieher.
Letzteres ist eine Fehldiagnose, wie man nach Michael Hagners Studie über diesen Kriminalfall und den sich anschließenden Skandal sagen muss. Denn nichts weist darauf hin, dass der im fränkischen Drosendorf als Bauernsohn geborene Dippold aus sadistischer Lust geprügelt hätte. Den ehrgeizigen, wenn auch zu Jähzorn neigenden Studenten trieben seine erzieherischen Überzeugungen sowie das im Studium erworbene pädagogische und kriminalanthropologische Wissen seiner Zeit.
Dies belegen die von Hagner im Bamberger Staatsarchiv wiedergefundenen Gerichtsakten. Sie enthalten Dippolds Aufzeichnungen ebenso wie den Briefwechsel zwischen dem Hauslehrer und dem Bankiersehepaar Koch. So kann der in Zürich lehrende Wissenschaftshistoriker präzise rekonstruieren, welche Abwege der pädagogische Eros nehmen kann, aber auch zu welchen Kopfgeburten die Humanwissenschaften im Zeitalter der Massenmedien fähig sind.
"Das ist das eigentliche Thema des Buches, wie bestimmte Verhaltensweisen, solche Verhaltensweisen, die dann eben als Verbrechen bezeichnet werden, zurecht als Verbrechen bezeichnet werden, und dann Gegenstand eines Strafprozesses werden, aber wie Verhalten von Menschen zum Gegenstand der Wissenschaften wird."
Michael Hagners luzide analysierendes Buch ist ein Lehrstück von beklemmender Aktualität. Feiert doch das biologistische Denken der deutschen Eliten des Kaiserreichs derzeit wieder fröhliche Urständ - bei Hirnforschern, die das Böse in den Neuronen suchen, ebenso wie im Bestseller Thilo Sarrazins.
Heinz und Joachim Koch, die beiden verwöhnten und verträumten Söhne des Vorstandssprechers der Deutschen Bank, galten ihren Eltern längst als hoffnungslose Fälle, die wenn überhaupt, so nur noch mit Härte und Disziplin auf den Pfad der bürgerlichen Tugend zurückgebracht werden konnten. Der junge Jurastudent Dippold, der die Kochs mit seinem Wissen beeindruckte und sogar sein Studium unterbrach, um sich ganz ihren missratenen Sprösslingen widmen zu können, erschien den Eltern im Sommer 1902 als letzte Rettung. Die von den Kochs exemplarisch vertretenen Erziehungsideale des Groß- und Bildungsbürgertums um 1900 sind für Hagner Teil einer komplexen "Sozialpathologie", die er für die eigentliche Erklärung der Tragödie hält:
"Diese Haushalte, das wird ja sehr plastisch, deutlich in diesem Fall, sind ganz klar strukturiert, es gibt eine hierarchische Ordnung, eine radikale Geschlechterteilung, also der Mann, der Vater, das Oberhaupt des Hauses, ist kaum sichtbar für die Kinder, setzt aber voraus, dass immer alles gut geht, und wenn nicht alles gut geht, dann ist der Druck auf der Ehefrau, die also eigentlich für die Erziehung verantwortlich ist, und da muss sie einfach Ergebnisse vorweisen, und sie erzielt sie in dem Sinne auch nicht selber, sondern es gibt dann eben Gouvernanten und Nachhilfelehrer, und wenn das nicht klappt, dann geht es also ins Internat Haubinda, und das klappt auch nicht, und dann wieder zurück, und dann wird's langsam ungemütlich, dann sucht man eben einen Hauslehrer, der für die vollständige Erziehung der Kinder dann verantwortlich ist, man findet eben besagten Dippold."
Und der wollte bald schon den Grund für die schlechten schulischen Leistungen entdeckt haben: Die beiden Jungen onanierten nämlich, verschwendeten also ihre kostbare Lebensenergie. Während für den zwei Jahre jüngeren Joachim diesbezüglich noch Hoffnung bestand, galt dem Hauslehrer der 13-jährige Heinz Koch aufgrund seines angeblichen fortwährenden Onanierens als "geborener Verbrecher", wie er der bestürzten Mutter schrieb: ein damals viel diskutierter Typus, den Dippold aus den Vorlesungen des berühmten Strafrechtlers Franz von Liszt kannte.
Die verzweifelten Eltern wussten also durchaus von seinem zwar drakonischen, aber zeittypischen Straf- und Kontrollregime und billigten es im Prinzip. Nach dem Tod ihres Sohnes wollten sie freilich von all dem nichts mehr wissen; Schuld sollte allein der "sadistische" Hauslehrer sein - eine These, die zwar nicht das pragmatisch urteilende Gericht übernahm, wohl aber Presse und Humanwissenschaften. Für Michael Hagner in Auseinandersetzung mit Michel Foucault ein Beispiel dafür, wie beim Aufeinandertreffen von kindlicher und erwachsener Sexualität eine Form zugunsten der anderen unterdrückt werden muss:
"Der Wissenshorizont und der ideologische Horizont, den Dippold herangeholt hat, um seinen Schüler zu charakterisieren, der ist mit doppelter und dreifacher Wucht auf ihn zurückgefallen, dann wurde nämlich auf einmal Dippold als eine kriminelle Bestie, als ein geborener Verbrecher, als sadistisches Monstrum dargestellt, also die ganze Begrifflichkeit der Entartung und Stigmatisierung, ich habe das mit Paul Ricœur als eine neue narrative Identität beschrieben, die eben anders als das eigentliche Gerichtsurteil funktioniert, und die ist es, die ihn eigentlich stigmatisiert und dann eben auch sein weiteres Leben in Deutschland unmöglich macht, und das begreift dieser intelligente junge Mann natürlich sofort, weswegen er dann nach der Entlassung, also noch vor dem Ersten Weltkrieg, aus Deutschland auswandert, nach Brasilien und sogar einen anderen Namen annimmt."
Bis dahin saß Andreas Dippold acht Jahre lang im Zuchthaus - nur acht Jahre nach Ansicht der empörten Öffentlichkeit, die für die Bestie in Menschengestalt die Todesstrafe forderte. In Pädagogik, Psychiatrie, Strafrecht und Sexualwissenschaften entzündeten sich am Fall Dippold aufgeregte Debatten, weit über die Grenzen des Kaiserreichs hinaus. Dabei äußerten sich alle Experten, Kommentatoren wie Maximilian Harden oder Karl Kraus ebenso wie die Mandarine der Wissenschaften, allein auf Grundlage der Zeitungsberichte. Auf fragwürdiger Faktengrundlage diagnostizierten sie Dippold mal als "pervers", mal als "minderwertigen Psychopathen".
Für Hagner zeigt der Fall des "Hauslehrers": Die Grenze zwischen Journalismus und Wissenschaft ist fließend. Nach dem Prinzip der "stillen Post" entstand in den Lehrbüchern eine wissenschaftliche Chimäre, der "Dippoldismus": Plötzlich sollte es an den Schulen von sadistischen Erziehern nur so wimmeln. Ein Versagen der Humanwissenschaften, das für Michael Hagner nicht nur für das frühe 20. Jahrhundert charakteristisch ist:
"Sie haben heutzutage für jeden Vorfall, für jede Katastrophe, für alles, was uns entsetzt und was uns sprachlos macht, für all diese Fälle gibt es heutzutage Deutungsspezialisten, die also in den Medien sofort parat stehen und innerhalb von fünf Minuten in der Lage sind, dann also ein autoritativ abgesichertes Statement abzugeben, das scheint mir nicht so sehr eine Krise der Medien zu sein, sondern das scheint mir eine Krise der Expertenkultur zu sein, und insbesondere auch auf eine Krise der Urteilskraft hinzuweisen, denn das ist ja eine der zentralen Anliegen, die ich mit diesem Buch vertrete, dass wir zu einer angemessenen Urteilskraft nur in der Lage sind, wenn wir unser eigenes Nichtwissen mit berücksichtigen."
Michael Hagner: "Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalles. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900." Berlin: Suhrkamp, 2010. 280 S., 19,90 Euro.
Letzteres ist eine Fehldiagnose, wie man nach Michael Hagners Studie über diesen Kriminalfall und den sich anschließenden Skandal sagen muss. Denn nichts weist darauf hin, dass der im fränkischen Drosendorf als Bauernsohn geborene Dippold aus sadistischer Lust geprügelt hätte. Den ehrgeizigen, wenn auch zu Jähzorn neigenden Studenten trieben seine erzieherischen Überzeugungen sowie das im Studium erworbene pädagogische und kriminalanthropologische Wissen seiner Zeit.
Dies belegen die von Hagner im Bamberger Staatsarchiv wiedergefundenen Gerichtsakten. Sie enthalten Dippolds Aufzeichnungen ebenso wie den Briefwechsel zwischen dem Hauslehrer und dem Bankiersehepaar Koch. So kann der in Zürich lehrende Wissenschaftshistoriker präzise rekonstruieren, welche Abwege der pädagogische Eros nehmen kann, aber auch zu welchen Kopfgeburten die Humanwissenschaften im Zeitalter der Massenmedien fähig sind.
"Das ist das eigentliche Thema des Buches, wie bestimmte Verhaltensweisen, solche Verhaltensweisen, die dann eben als Verbrechen bezeichnet werden, zurecht als Verbrechen bezeichnet werden, und dann Gegenstand eines Strafprozesses werden, aber wie Verhalten von Menschen zum Gegenstand der Wissenschaften wird."
Michael Hagners luzide analysierendes Buch ist ein Lehrstück von beklemmender Aktualität. Feiert doch das biologistische Denken der deutschen Eliten des Kaiserreichs derzeit wieder fröhliche Urständ - bei Hirnforschern, die das Böse in den Neuronen suchen, ebenso wie im Bestseller Thilo Sarrazins.
Heinz und Joachim Koch, die beiden verwöhnten und verträumten Söhne des Vorstandssprechers der Deutschen Bank, galten ihren Eltern längst als hoffnungslose Fälle, die wenn überhaupt, so nur noch mit Härte und Disziplin auf den Pfad der bürgerlichen Tugend zurückgebracht werden konnten. Der junge Jurastudent Dippold, der die Kochs mit seinem Wissen beeindruckte und sogar sein Studium unterbrach, um sich ganz ihren missratenen Sprösslingen widmen zu können, erschien den Eltern im Sommer 1902 als letzte Rettung. Die von den Kochs exemplarisch vertretenen Erziehungsideale des Groß- und Bildungsbürgertums um 1900 sind für Hagner Teil einer komplexen "Sozialpathologie", die er für die eigentliche Erklärung der Tragödie hält:
"Diese Haushalte, das wird ja sehr plastisch, deutlich in diesem Fall, sind ganz klar strukturiert, es gibt eine hierarchische Ordnung, eine radikale Geschlechterteilung, also der Mann, der Vater, das Oberhaupt des Hauses, ist kaum sichtbar für die Kinder, setzt aber voraus, dass immer alles gut geht, und wenn nicht alles gut geht, dann ist der Druck auf der Ehefrau, die also eigentlich für die Erziehung verantwortlich ist, und da muss sie einfach Ergebnisse vorweisen, und sie erzielt sie in dem Sinne auch nicht selber, sondern es gibt dann eben Gouvernanten und Nachhilfelehrer, und wenn das nicht klappt, dann geht es also ins Internat Haubinda, und das klappt auch nicht, und dann wieder zurück, und dann wird's langsam ungemütlich, dann sucht man eben einen Hauslehrer, der für die vollständige Erziehung der Kinder dann verantwortlich ist, man findet eben besagten Dippold."
Und der wollte bald schon den Grund für die schlechten schulischen Leistungen entdeckt haben: Die beiden Jungen onanierten nämlich, verschwendeten also ihre kostbare Lebensenergie. Während für den zwei Jahre jüngeren Joachim diesbezüglich noch Hoffnung bestand, galt dem Hauslehrer der 13-jährige Heinz Koch aufgrund seines angeblichen fortwährenden Onanierens als "geborener Verbrecher", wie er der bestürzten Mutter schrieb: ein damals viel diskutierter Typus, den Dippold aus den Vorlesungen des berühmten Strafrechtlers Franz von Liszt kannte.
Die verzweifelten Eltern wussten also durchaus von seinem zwar drakonischen, aber zeittypischen Straf- und Kontrollregime und billigten es im Prinzip. Nach dem Tod ihres Sohnes wollten sie freilich von all dem nichts mehr wissen; Schuld sollte allein der "sadistische" Hauslehrer sein - eine These, die zwar nicht das pragmatisch urteilende Gericht übernahm, wohl aber Presse und Humanwissenschaften. Für Michael Hagner in Auseinandersetzung mit Michel Foucault ein Beispiel dafür, wie beim Aufeinandertreffen von kindlicher und erwachsener Sexualität eine Form zugunsten der anderen unterdrückt werden muss:
"Der Wissenshorizont und der ideologische Horizont, den Dippold herangeholt hat, um seinen Schüler zu charakterisieren, der ist mit doppelter und dreifacher Wucht auf ihn zurückgefallen, dann wurde nämlich auf einmal Dippold als eine kriminelle Bestie, als ein geborener Verbrecher, als sadistisches Monstrum dargestellt, also die ganze Begrifflichkeit der Entartung und Stigmatisierung, ich habe das mit Paul Ricœur als eine neue narrative Identität beschrieben, die eben anders als das eigentliche Gerichtsurteil funktioniert, und die ist es, die ihn eigentlich stigmatisiert und dann eben auch sein weiteres Leben in Deutschland unmöglich macht, und das begreift dieser intelligente junge Mann natürlich sofort, weswegen er dann nach der Entlassung, also noch vor dem Ersten Weltkrieg, aus Deutschland auswandert, nach Brasilien und sogar einen anderen Namen annimmt."
Bis dahin saß Andreas Dippold acht Jahre lang im Zuchthaus - nur acht Jahre nach Ansicht der empörten Öffentlichkeit, die für die Bestie in Menschengestalt die Todesstrafe forderte. In Pädagogik, Psychiatrie, Strafrecht und Sexualwissenschaften entzündeten sich am Fall Dippold aufgeregte Debatten, weit über die Grenzen des Kaiserreichs hinaus. Dabei äußerten sich alle Experten, Kommentatoren wie Maximilian Harden oder Karl Kraus ebenso wie die Mandarine der Wissenschaften, allein auf Grundlage der Zeitungsberichte. Auf fragwürdiger Faktengrundlage diagnostizierten sie Dippold mal als "pervers", mal als "minderwertigen Psychopathen".
Für Hagner zeigt der Fall des "Hauslehrers": Die Grenze zwischen Journalismus und Wissenschaft ist fließend. Nach dem Prinzip der "stillen Post" entstand in den Lehrbüchern eine wissenschaftliche Chimäre, der "Dippoldismus": Plötzlich sollte es an den Schulen von sadistischen Erziehern nur so wimmeln. Ein Versagen der Humanwissenschaften, das für Michael Hagner nicht nur für das frühe 20. Jahrhundert charakteristisch ist:
"Sie haben heutzutage für jeden Vorfall, für jede Katastrophe, für alles, was uns entsetzt und was uns sprachlos macht, für all diese Fälle gibt es heutzutage Deutungsspezialisten, die also in den Medien sofort parat stehen und innerhalb von fünf Minuten in der Lage sind, dann also ein autoritativ abgesichertes Statement abzugeben, das scheint mir nicht so sehr eine Krise der Medien zu sein, sondern das scheint mir eine Krise der Expertenkultur zu sein, und insbesondere auch auf eine Krise der Urteilskraft hinzuweisen, denn das ist ja eine der zentralen Anliegen, die ich mit diesem Buch vertrete, dass wir zu einer angemessenen Urteilskraft nur in der Lage sind, wenn wir unser eigenes Nichtwissen mit berücksichtigen."
Michael Hagner: "Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalles. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900." Berlin: Suhrkamp, 2010. 280 S., 19,90 Euro.